MKL1888:Bodenbesitzreform

Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Bodenbesitzreform“ in Meyers Konversations-Lexikon
Seite mit dem Stichwort „Bodenbesitzreform“ in Meyers Konversations-Lexikon
Band 19 (Supplement, 1892), Seite 114
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Bodenbesitzreform. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 19, Seite 114. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Bodenbesitzreform (Version vom 02.11.2022)

[114] Bodenbesitzreform. Auf Anregung von Michael Flürscheim, Fabrikant zu Gaggenau (Baden), wurde Herbst 1888 in Frankfurt a. M. der „Deutsche Bund für B.“ gegründet, nachdem sich vorher 100 Personen schriftlich zum Beitritt bereit erklärt hatten. Zweck des Bundes ist nach den 17. Aug. 1890 beschlossenen Satzungen die Aufklärung der öffentlichen Meinung über die wirkliche Grundursache des wirtschaftlichen Notstandes und die Beratung der Mittel zu seiner Beseitigung. Jene Grundursache erblickt der Bund in der im arbeitslosen Zins- und Grundrentengenuß wurzelnden Anhäufung von ungeheuern Reichtümern in Einzelhänden, deren Besitzer ihr Einkommen nicht aufbrauchten. Hierdurch trete infolge der jährlich zurückgelegten und neue Zinsen tragenden Ersparnisse ein ständig zunehmender Ausfall im nationalen und internationalen Güterverbrauch ein, den die verbrauchswilligen und bedürftigen Volksmassen nicht ergänzen könnten, weil sie für einen immer größern Teil der mit ihrer Arbeit erzeugten Tauschwerte die ständig zunehmenden Zins- und Grundrententributbeiträge aufbringen müßten. Die Empfänger der letztern verwendeten solche immer weniger zum Verbrauch oder zur Erzeugung von Gütern, wodurch Arbeit in Verwendung kommen würde. Infolgedessen wären die Arbeitsgelegenheiten immer schwieriger zu erlangen, und der Kampf verschärfe sich darum immer mehr; das sonst unbegreifliche Bild der zunehmenden Not und Arbeitslosigkeit bei immer schneller steigender Gütererzeugungsfähigkeit und also Überflußmöglichkeit finde darin seine Erklärung. Der Kapitalzins sei das Kind der Grundrente. Nur dadurch, daß man für Kapital Landbesitz eintauschen konnte, mit welchem Rente zu erzielen war, habe für die Herleihung von Kapital eine der betreffenden Rente mindestens gleiche Vergütung als Zins verlangt und erlangt werden können. Alle Zinsverbote hätten machtlos bleiben müssen, solange der Kapitalist auf dem Wege des Landkaufs sich Zins verschaffen konnte. Mit der privaten Grundrente werde auch der Zins verschwinden, und mit dem Zins würden auch dessen unheilvolle Wirkungen beseitigt. Mit der Verstaatlichung des Bodens werde man auch die Verstaatlichung oder wenigstens die Freigebung der Produktionsmittel erhalten. Der Verein faßt deshalb als Ziel ins Auge: die Verstaatlichung oder Kommunalisierung des Grund und Bodens oder der Grundrente. Als zunächst zu verwirklichende Forderungen gelten ihm: 1) die Unveräußerlichkeit und thunlichste Vermehrung des jetzigen Staats- und Gemeindegrundbesitzes; 2) eine geeignete kommunale Besteuerung des vom Besitzer nicht erzeugten Wertzuwachses des Bodens; 3) die Beseitigung des privaten Pfandrechts an Grund und Boden. Der Sitz des Bundes ist Berlin, Organ die Wochenschrift „Frei Land“ (Düsseldorf seit 1890, Fortsetzung von der von M. Flürscheim begründeten Zeitschrift „Deutsch Land“, 1887–90. Nicht zu verwechseln mit der in Wien erscheinenden Halbmonatschrift „Freiland“, welche Organ der österreich. Freilandvereine ist), Vorsitzender Fabrikant Freese zu Berlin (Mitglied des Staatsrates). Der Bund zählt etwa 500–600 Mitglieder, welche den verschiedensten Parteien angehören. Bei seiner Gründung umfaßte der Bund auch Mitglieder aus der Schweiz und aus den Niederlanden. Doch haben sich in diesen Ländern neue eigne Vereine gebildet, in der Schweiz „Freiland, schweizerische Gesellschaft für B.“, mit dem Vorort Basel. Der holländische Verein (Nederlandsche Bond voor Landnationalisatie) gibt eine eigne, aller zwei Monate erscheinende Zeitschrift heraus: „Der Grond van Allen“. Im wesentlichen auf gleichem Boden, wenn auch mit etwas weiter gesteckten Zielen wie der Verein für B., steht der Allwohlsbund, welcher unter dem Vorsitz von A. Th. Stamm seinen Sitz und Gerichtsstand in Wiesbaden hat und an Stelle des jetzigen privaten Grundeigentums die Einführung einer Grundzinsgemeinschaft, d. h. Zuwendung der Grundrente an die Gesamtheit, erstrebt. Stamm hatte den ersten Verein mit den oben dargelegten Zielen unter dem Namen „Verein für Humanismus“ 1874 in Berlin gegründet, aus dem 1886 die Land-Liga hervorging, welche 4. Juli 1888 sich als Allwohlsbund konstituierte. Vgl. Stamm, Die Erlösung der darbenden Menschheit (Zürich 1871); die Schriften von Flürscheim: Der einzige Rettungsweg (Dresd. 1891), Auf friedlichem Wege (Baden-Baden 1884), Deutschland in 100 Jahren (das. 1891), Das Staatsmonopol des Grundpfandrechts (Minden 1885); H. George, Fortschritt und Armut (deutsch, Berl. 1887) und Soziale Probleme (deutsch, das. 1890); v. Helldorf-Baumersrode, Verstaatlichung des Grund und Bodens (das. 1885) und Das Recht der Arbeit und die Landfrage (das. 1886); Th. Hertzka, Freiland, ein soziales Zukunftsbild (1.–4. Aufl., Dresd. 1890); Frankl, Verstaatlichung der Grundrente (Wien 1890); K. J. Beck, Die soziale Frage (Mengen); Wehberg, Der humanistische Sozialismus (Berl. 1891).