Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Atomismus“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 2 (1885), Seite 22
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Atomismus. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 2, Seite 22. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Atomismus (Version vom 15.11.2021)

[22] Atomismus (griech.), in physikalischem Sinn jene Theorie der Materie, welche dieselbe im Gegensatz zum sogen. Dynamismus (s. d.) aus ihrer Qualität nach unveränderlichen kleinsten Massenteilchen (Molekülen, Atomen) statt, wie dieser, aus lebendigen und wirksamen Kräften konstruiert. Dieselbe sucht daher sämtliche Erscheinungen, welche der Materie zugeschrieben werden (Raumerfüllung, Dichtigkeit etc.), auf entweder qualitative (qualitativer A.) oder quantitative (quantitativer A.) Beschaffenheiten und Verhältnisse der Elementarteile des Stoffs zurückzuführen. Repräsentant des erstern ist in der Philosophie des Altertums Anaxagoras (s. d.), des letztern Leukippos (s. d.) und dessen Freund und Geistesverwandter Demokrit (s. d.). Jener führte die Verschiedenheit aller Körper auf deren Zusammensetzung aus gleichartigen und ungleichartigen, dieser dagegen aus durchaus gleichartigen und nur der Zahl, Lage und höchstens der geometrischen Gestalt nach verschiedenen Bestandteilen zurück. Die Lehre des erstern ist jener der heutigen Chemiker, die der letztern jener der heutigen (atomistischen) Physiker ähnlich; jene unterscheidet, wie die Chemie, eine Anzahl der Qualität nach verschiedener Grundstoffe, diese läßt, wie die atomistische Physik, innerhalb eines und desselben Volumens bald mehr, bald weniger Stoffelemente in derselben oder in verschiedener Lagerung und (was die heutige Physik nicht thut) von verschiedener Gestalt (bald als Kugel, bald als Würfel etc.) zusammengefaßt werden. Beiden gemeinschaftlich ist die Annahme, daß die letzten Stoffelemente unteilbar („atom“) und durch leere Zwischenräume getrennt seien; dagegen gehört es keineswegs zum Begriff des A., daß dieselben, wie von ihnen geschieht, als körperlich ausgedehnt, d. h. jedes einen wenn auch noch so kleinen Raum einnehmend, gedacht, und ebensowenig, daß dieselben, wie gleichfalls von ihnen geschieht, als kraftlos und daher entweder, wie Anaxagoras lehrte, durch Anstoß von außen in Bewegung gesetzt oder, wie Demokrit (und nach ihm Epikur) lehrte, von Ewigkeit her in solcher begriffen seien. Das erste ist die Ansicht derjenigen Form des A., welche, da sie die Atome selbst als kleinste Körperchen (Korpuskeln) ansieht, Korpuskularphilosophie (Hobbes, s. d., Gassendi, s. d.) heißt und als solche derjenigen Form des A., welche die Atome als einfach, d. h. ausdehnungslos oder nur den Raum eines sogen. mathematischen Punktes einnehmend, betrachtet, gleichviel, ob sie dieselben trotzdem als „körperlich“ (Fechner) oder (wie es deren Einfachheit zu verlangen scheint) als unkörperlich und im letztern Fall entweder geradezu als „Seelen“ (Leibniz’ Monaden) oder als „Reale“ (Herbart) ansehen mag, entgegengesetzt ist. Das zweite ist die Ansicht der sogen. materialistischen Atomistik, welche die Atome als bewegliche und in steter Bewegung begriffene materielle Punkte, im Gegensatz zu jener der sogen. atomistischen Dynamik, welche dieselben als sich selbst und andre bewegende Kraftpunkte (Redtenbachers „Dynamiden“) betrachtet. Der Streit zwischen A. und Dynamismus spielt in der Geschichte der Philosophie insofern eine Rolle, als die monistischen Metaphysiker, welche die Substanz der Welt als Eine und folglich als ein Kontinuum vorstellen, auf der Seite des Dynamismus, dagegen die pluralistischen, welche die Welt als aus (diskreten) Teilen bestehendes Ganze auffassen, auf jener des A. zu stehen pflegen; in der Physik haben beide mehrmals die Herrschaft gewechselt, indem die Naturwissenschaft noch zu Anfang dieses Jahrhunderts unter dem Einfluß des Dynamismus (Naturphilosophie) stand, während sie gegenwärtig fast ausschließlich unter jenem des A. steht. Die Gründe für den Vorzug des letztern hat am schlagendsten Fechner („Die physikalische und philosophische Atomenlehre“, 2. Aufl., Leipz. 1864) angegeben. Vgl. Dynamismus.