MKL1888:Athēne
[1008] Athēne, Eulengattung, s. Eulen.
Athēne (Pallas A. genannt), in der Mythologie der Griechen die ewig jungfräuliche Tochter des Zeus (daher Parthenos, „Jungfrau“), aber ohne eigentliche Mutter, da der Göttervater nach der verbreitetsten Sage seine von ihm schwangere erste Gemahlin, die Okeanide Metis („Klugheit“), aus Furcht vor der Geburt eines Sohns, der mächtiger als er selbst werden könne, verschlungen hatte, worauf zur betreffenden Zeit aus seinem von Hephästos mit einem Beil gespaltenen Haupte die Göttin in voller Rüstung hervorsprang. Nach kretischer Sage war sie aus einer von Zeus zerteilten Wolke hervorgegangen. Dem entgegen weist ihr alter Beiname Tritogeneia, die „aus dem Triton, der rauschenden Flut, Entsprossene“, auf einen Ursprung aus dem Wasser, d. h. dem Okeanos, hin, aus dem ja nach Homer alle Dinge und alle Götter entsprungen sind, und damit hängt ihre Verehrung an „Triton“ benannten Bächen und Seen mancher Gegenden zusammen, mit welchen ihre Geburt in Verbindung gebracht wurde. Eine wie hervorragende Stellung diese Göttin von alters her in dem hellenischen Volksglauben einnahm, zeigen schon die Homerischen Gedichte, welche die „hell- oder eulenäugige“ (glaukópis) Tochter als den Liebling ihres Vaters schildern, der ihrem Wunsch nichts versagt, und sie bei feierlichen Eidschwüren mit Zeus und Apollon in einer Weise zusammenstellen, daß die drei Gottheiten als Inbegriff aller göttlichen Macht erscheinen. Jene beiden genannten Götter ausgenommen, hat sich bei keiner andern Gottheit die ursprüngliche Naturbedeutung so sehr nach der intellektuellen oder ethischen Seite ausgebildet wie bei A. Beide, die ursprüngliche Naturbedeutung wie die ethische Auffassung, zeigen sich am innigsten verbunden in dem Kultus des attischen Landes, dessen Hauptstadt Athen nach ihr benannt und die wichtigste Stätte ihrer Verehrung war. Ihrer ursprünglichen Bedeutung nach ist die jungfräuliche Tochter des Himmelsgottes wohl der klare, lichte Äther, dessen Reinheit durch alles verhüllende Gewölk immer wieder in ungetrübtem Glanz hindurchbricht. Als Himmelsgöttin gebietet sie über Blitz und Donner neben Zeus und führt daher, wie dieser, als Göttin des Gewitters die Ägis mit dem Gorgonenhaupt, das Symbol der himmlischen Schrecken, wie sie auch auf manchen Kultusbildern blitzschleudernd dargestellt war. Aus dem Äther sendet sie aber auch Licht und Wärme (daher die Beinamen Alea, die „Wärmende“, und Skiras, die „Brennende“) und befruchtenden Tau zur Erde hinab und gewährt so den Feldern und Gewächsen Gedeihen. Als Beschützerin und Förderin des Ackerbaues erscheint sie in einer ganzen Reihe von Sagen und Gebräuchen namentlich des attischen Kultus. Die beiden athenischen Genien des fruchtbaren Erdbodens, Erechtheus und Erichthonios, sind ihre Pfleglinge, und mit dem erstern wurde sie zusammen in dem nach ihm benannten Erechtheion, dem ältesten Heiligtum auf der athenischen Akropolis, verehrt. Ihre ältesten Priesterinnen, die Töchter des Kekrops, Aglauros, Pandrosos und Herse, Namen, welche die heitere Luft und die Benetzung durch Tau und Regen bedeuten, sind eigentlich nur Personifikationen ihrer für das athenische Land bedeutsamen Eigenschaften. Von den drei heiligen Pflügungen, welche unter religiösen Gebräuchen in Attika die Saatzeit eröffneten, galten ihr zwei als Erfinderin des Pflugs, während die dritte in Eleusis zu Ehren der Demeter stattfand. Ferner hatte sie das Anschirren der Stiere gelehrt und vor allem den für Attika so wichtigen Ölbaum geschenkt, den sie aus dem Burgfelsen hervorwachsen ließ, als sie mit Poseidon um den Besitz der Burg und des Landes stritt. Unter den in Attika zu Ehren der Göttin gefeierten Festen bezogen sich auf diese Bedeutung derselben für das Naturleben die Kallynterien und Plynterien, die Skirophorien, die Prochaisterien und Errhephorien sowie die ihr mit Dionysos gemeinsamen Oschophorien. Auch ihr Hauptfest, die Panathenäen (die großen alle vier Jahre, die kleinen jährlich gefeiert), war ursprünglich ein Erntefest, wiewohl später mehr die geistigen Segnungen, die man der Göttin dankte, in den Vordergrund traten, und die Anfertigung des ihr bei diesem Feste dargebrachten Hauptgeschenks, des Mantels (Peplos), wurde bezeichnenderweise in der Saatzeit begonnen. Mit der Vorstellung, daß A. gleich ihrem Vater Sturm und Ungewitter erregen kann, hängt die allgemein verbreitete und besonders in ältern Zeiten hervortretende Auffassung als einer kriegerischen Göttin zusammen. In dieser Eigenschaft erscheint sie im Mythus als die treue Helferin aller wackern Helden, wie des Perseus, Bellerophon, Iason, Herakles, Diomedes und Odysseus. Auch spielt sie im Kampf gegen die Giganten, von denen sie zwei, Pallos und Enkelados, erschlägt, eine hervorragende Rolle. Doch ist ihre Tapferkeit stets eine besonnene, nie die blinde des Ares, den daher der Mythus immer von ihr besiegt werden läßt. In dieser Beziehung wurde sie im Kultus vornehmlich als schützende und abwehrende Göttin verehrt, wie namentlich auf der Burg von Athen als Promachos („Vorkämpferin, Beschützerin“). Als solche stellten sie auch die Palladien mit zur Abwehr geschwungener Lanze dar. Zugleich ist sie eine Sieg verleihende Göttin. Als Personifikation des Siegs (A. Nike) hatte sie gleichfalls auf der Akropolis zu Athen einen besondern Tempel; auch pflegte man sie in größern [1009] Tempelstatuen, wie Zeus, mit der Nike auf der ausgestreckten Hand abzubilden. Die Hauptthätigkeit der A. liegt aber in den Werken des Friedens. Wie alle Gottheiten des natürlichen Segens, fördert sie das Gedeihen der Kinder; als Göttin des reinen Himmels und der reinen Luft ist sie Verleiherin der Gesundheit und Abwehrerin aller bösen Krankheiten. Neben Zeus gilt sie in Athen als Schutzgottheit der Geschlechtsverbände (Phratrien), in Athen und Sparta auch der Volks- und Ratsversammlungen, an vielen Orten, wie vornehmlich in Athen, als Schirmerin des gesamten Staatswesens (A. Polias, Poliuchos), an andern als oberste Vorsteherin größerer Stammverbindungen. So war das Fest der A. Itonia bei Koroneia ein Bundesfest der gesamten Böotier, und in Paträ wurde sie unter dem Namen Panachais als achäische Bundesgöttin verehrt. Am allgemeinsten ist ihre Verehrung als Göttin des lichten, hellen Geistes (als Abbild des Äthers), also der Weisheit, und so als Vorsteherin des gesamten geistigen Lebens der Menschen. Alles, was Verstand und Weisheit bewirken, alle Wissenschaft und Kunst des Kriegs und Friedens kommt von ihr, der die Menschen eine Fülle von Erfindungen verschiedenster Art verdanken. Daß ihr die Erfindung des Pflugs und des Anschirrens der Stiere zugeschrieben wurde, ist bereits erwähnt. Neben Poseidon galt sie vielfach auch als Erfinderin der Rossebändigung und des Schiffbaues. Nach der athenischen Sage hatte sie den Erichthonios die Rosse an den Wagen zu schirren, nach der korinthischen den Bellerophon den Pegasos zu zügeln gelehrt; zu Lindos auf Rhodus verehrte man sie als die Göttin, welche den Danaos zur Erbauung des ersten Fünfzigruderers anleitete, während die Argonautensage die Argo, das erste Schiff, nach ihren Angaben erbauen ließ. Schon bei Homer werden alle Erzeugnisse weiblicher Kunstarbeit, des Spinnens und Webens, als Werke der A. bezeichnet. Manche Palladien trugen in der Linken Spindel und Rocken. Als Lehrerin und Beschützerin der Künste und Handwerke wurde sie in Athen unter dem Namen Ergane an den Chalkeien oder dem Schmiedefest neben Hephästos gefeiert und auf der Burg in einem eignen Tempel angebetet. Auch auf das Gebiet der Musik und Orchestik erstreckten sich ihre Erfindungen. So galt sie als Erfinderin der kriegerischen Trompete sowie der Pyrriche, des Waffentanzes, den sie selbst zur Feier des Siegs über die Giganten zuerst getanzt haben sollte. Auch die Flöte soll sie erfunden, jedoch als das Gesicht entstellend wieder weggeworfen und den Marsyas, der sie aufhob, gezüchtigt haben. Aus Griechenland ging die Verehrung der A. nach Großgriechenland über, wo sie an zahlreichen Orten Tempel hatte. Im eigentlichen Italien wurde sie mit der einheimischen Göttin der Weisheit und des Mutes, Minerva (s. d.), identifiziert und im Verein mit Jupiter und Juno verehrt. Vgl. G. Hermann, De graeca Minerva (Leipz. 1837); O. Müller, Kleine Schriften, Bd. 2, S. 134 ff. (Bresl. 1847); Forchhammer, Geburt der A. (Kiel 1841); Benfey in den „Nachrichten der Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften“ 1868, S. 36 ff.; Schneider, Die Geburt der A. (Wien 1880); Voigt, Beiträge zur Mythologie des Ares und der A. (in den „Leipziger Studien für klassische Philologie“, Bd. 4, 1881).
Die ältere Kunst stellte die A. als Vorkämpferin (Promachos) dar, meist weit ausschreitend, im langen, steif gefalteten Gewand, die kragenartige Ägis mit dem Medusenhaupt und Schlangen um die Schultern, Helm, Schild und Speer führend. Daneben finden sich auch Sitzbilder, namentlich mehrere hochaltertümliche aus Athen, wo die Göttin durch alle Zeit Lieblingsgegenstand der Kunst blieb (vgl. Tafel „Terrakotten“, Fig. 9). Hier entstand die vollendete künstlerische Gestaltung ihres Wesens in dem kolossalen Goldelfenbeinbild der A. Parthenos, einem Werk des Phidias, welches 438 v. Chr. im Parthenon aufgestellt wurde. Wir können uns dieselbe nach einer 1879 beim Varvakion zu Athen gefundenen, vortrefflich erhaltenen Marmorstatuette, mit welcher eine große Anzahl andrer Kopien übereinstimmen, und nach den Beschreibungen der Alten folgendermaßen
Athene von Velletri (Paris, Louvre). | |
vorstellen: sie stand ruhig da im langen Chiton, die doppelteilige Ägis um die Schultern, auf dem Haupte den Helm (oben mit drei Sphinxen, am vordern Rand mit einer Reihe von Greifen geschmückt), in der rechten Hand die goldene Nike haltend, mit der linken den Speer und zugleich den am Boden stehenden Schild, unter dem sich die Erichthoniosschlange barg; die Eule saß vermutlich rechts neben ihr auf dem Boden. Zahlreicher Einzelschmuck war über das Werk verbreitet; so sah man außen am Schild eine Darstellung des Amazonenkampfes, innen die Gigantomachie, am Rande der Sandalen Kentaurenkämpfe. Unter den vielen Athenestatuen des Phidias sind noch die ca. 25 m hohe eherne Statue der A. Promachos auf der Akropolis zu Athen und die ebenda sich befindende, wegen ihrer Schönheit hochberühmte lemnische A. zu nennen. Die folgende Zeit bildete das Ideal der A. nach der Seite des Schwungvoll-Majestätischen aus, bekleidete [1010] die Göttin meist mit langem, wirkungsvoll gefaltetem Mantel, mit oft sehr malerisch (schärpenartig, über eine Schulter gelegt und ähnlich) angeordneter Ägis und statt des anliegenden attischen mit dem langen korinthischen Helm. Auch der Gesichtstypus, in der attischen Kunst rundlich mit offenem, mädchenhaftem Ausdruck, wird jetzt bewegter, mehr elegisch gestimmt, mit länglichen, scharfen Zügen. Dieser Epoche gehören die meisten der erhaltenen Statuen an, deren berühmteste die A. von Velletri im Louvre (vgl. Abbildung, S. 1009) ist. Von besonderer Schönheit ist auch die Pallas Giustiniani des Vatikans, von echt griechischer Feinheit der Formen ein kolossaler Torso aus Villa Medici im Louvre. Unter den Mythen der A. ist auf Vasenbildern besonders häufig ihre Geburt aus dem Haupte des Zeus, gelegentlich auch der Kampf mit den Giganten und der Streit mit Poseidon behandelt. Auf attischen Münzen sind Eule und Olivenblatt ihre Attribute, anderwärts der Hahn und die Schlange. Vgl. Bernoulli, Über die Minervenstatuen (Basel 1867); Schreiber, Die A. Parthenos und ihre Nachbildungen (Leipz. 1883).