Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Atōm“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 2 (1885), Seite 2022
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Atōm. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 2, Seite 20–22. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:At%C5%8Dm (Version vom 16.11.2021)

[20] Atōm (griech., das „Unteilbare“), nach einer von den griechischen Philosophen Leukippos und Demokritos zuerst ausgebildeten, von Epikur, Gassendi, Hobbes und den neuern Naturforschern erweiterten naturphilosophischen Ansicht Name der letzten selbst noch körperlichen Bestandteile alles Zusammengesetzten, der ursprünglichen Elemente, aus welchen die Materie besteht, und aus denen nach der Ansicht des Materialismus (s. d.) auch die geistigen Phänomene zu erklären sein sollen (s. Atomismus).

In der neuern Zeit hat die Naturwissenschaft eine Atomtheorie ausgebildet, welche aus rein praktischen Erwägungen ganz allgemein angenommen worden ist. Nur mit Hilfe dieser atomistischen Theorie ist es bis jetzt gelungen, zahlreiche physikalische Verhältnisse von einem allgemeinen und höhern Gesichtspunkt aufzufassen und tiefer zu begründen. Die neuere Chemie aber beruht ganz und gar auf der Lehre von den Atomen, welche in dieser Wissenschaft eine eigentümliche Ausbildung erfahren hat. Sie wurde zuerst 1804 von Dalton begründet, welcher gefunden hatte, daß, wenn sich zwei Körper in mehreren Verhältnissen miteinander verbinden, die Mengen des einen bei gleichen Mengen des andern in den verschiedenen Verbindungen stets in einem einfachen Verhältnis stehen.

Es verbinden sich z. B.

7 Teile Stickstoff mit 04 Teilen Sauerstoff zu Stickstoffmonoxyd,
7 08 Stickstoffdioxyd,
7 12 Stickstofftrioxyd,
7 16 Stickstofftetroxyd,
7 20 Stickstoffpentoxyd

[21] Ähnlich verbinden sich

200 Teile Quecksilber mit 35,5 Teilen Chlor zu Quecksilberchlorür,
200 71 Quecksilberchlorid.

Nimmt man an, daß sich die chemischen Verbindungen durch Aneinanderlagerung von Atomen bilden, die ein bestimmtes, unveränderliches Gewicht besitzen und nicht weiter teilbar sind, so erklärt die atomistische Theorie in einfacher Weise die Konstanz der Verbindungs- oder Äquivalentgewichte (s. Äquivalent). Nach der Aufstellung der Atomtheorie durch Dalton, welcher zuerst mit dem Wort A. einen bestimmten, klaren Begriff verband und die qualitative Verschiedenheit der Atome der verschiedenen Elemente annahm, wurde die vollkommene Ausnutzung derselben aber teils infolge der noch sehr mangelhaften Hilfsmittel, teils durch unklare Anschauungen noch auf lange Zeit verzögert. Dalton hatte schon gezeigt, wie man die relativen Gewichte der Atome bestimmen könne; aber man verwechselte später Atomgewicht und Äquivalent, und erst seit den Bemühungen von Laurent und Gerhardt sind diese Begriffe scharf voneinander getrennt worden. Von da an datiert der Aufschwung, welchen die moderne Chemie in unsern Tagen genommen hat. Man mag die mechanische Zerteilung einer Substanz soweit treiben, wie man will, so wird man immer nur meßbare, gleichartige Partikelchen erhalten. Diese kleinsten Teile nennt man Mole. Dieselben zeigen noch alle Eigenschaften der betreffenden Substanz und bestehen, wie physikalische Betrachtungen ergeben, aus kleinern Teilchen, den Molekülen, welche nicht weiter in gleichartige Produkte zerlegt werden können. Das denkbar kleinste und nicht mehr meßbare Teilchen Wasser ist ein Molekül. Nun lehrt aber die Chemie, daß Wasser aus Wasserstoff und Sauerstoff besteht, und somit ist die weitere Teilbarkeit des Moleküls bewiesen. Ein Molekül Wasser besteht aus 2 Atomen Wasserstoff und 1 A. Sauerstoff, und so ergibt sich, daß man unter Molekül die denkbar kleinste Menge eines zusammengesetzten Körpers und unter A. die denkbar kleinste Menge eines chemisch einfachen Körpers, welcher in Verbindungen enthalten ist, zu verstehen hat.

Eine einfache Betrachtung lehrt über das Verhältnis der Atome zu den Molekülen folgendes. Nach dem Avogadroschen Gesetz, welches aus den physikalischen Eigenschaften der Gase abgeleitet ist, mußte man schließen, daß gleiche Volumen aller Gase eine gleiche Anzahl Moleküle enthalten. Nimmt man an, daß 2 Volumen Chlorwasserstoff, welche aus 1 Volumen Chlor und 1 Volumen Wasserstoff entstehen, 1000 Moleküle Chlorwasserstoff enthalten, so enthält 1 Volumen davon 500 und mithin, nach dem Avogadroschen Gesetz, 1 Volumen Chlor ebenso wie 1 Volumen Wasserstoff gleichfalls je 500 Moleküle Chlor und 500 Moleküle Wasserstoff. Da nun aber jedes Molekül Chlorwasserstoff aus 1 A. Chlor und 1 A. Wasserstoff besteht, so müssen in den 2 Volumen Chlorwasserstoff 2000 Atome enthalten sein. 1 Volumen oder 500 Moleküle Chlor und 1 Volumen oder 500 Moleküle Wasserstoff haben also zur Bildung der 2 Volumen Chlorwasserstoff je 1000 Atome beigesteuert, und folglich besteht auch 1 Molekül Chlor aus 2 Atomen Chlor und ebenso 1 Molekül Wasserstoff aus 2 Atomen Wasserstoff. Die Moleküle der Elemente sind also wie die Moleküle der Verbindungen aus Atomen zusammengesetzt; während diese letztern Moleküle aber aus 2, 3 und mehr verschiedenartigen Atomen bestehen, finden sich in den Molekülen der Elemente ganz allgemein 2 gleichartige Atome. Daraus ergibt sich nun eine schärfere Definition: Molekül ist sonach die kleinste Menge eines Elements oder einer chemischen Verbindung, welche im freien Zustand auftritt oder an chemischen Prozessen teilnimmt, A. aber die kleinste unteilbare Menge eines einfachen Stoffs, welche in eine chemische Verbindung eintreten oder zur Bildung eines Moleküls beitragen kann. Aus diesen Verhältnissen erklärt sich sehr einfach die bis dahin höchst auffällige Erscheinung, daß Elemente im Moment der Abscheidung aus einer Verbindung (im Entstehungszustand) chemische Wirkungen hervorbringen können, welche man sonst nicht beobachtet. So wirkt der Wasserstoff bekanntlich reduzierend, aber manche Körper werden nur dann durch ihn reduziert, wenn sie sich in derselben Flüssigkeit gelöst befinden, in welcher durch Zersetzung von Wasser Wasserstoff entwickelt wird. Ein Teil des Wasserstoffs tritt dann gar nicht gasförmig auf, sondern wirkt im Moment, wo er frei wird, auf die reduzierbare Substanz. Diese gesteigerte Wirkung im Entstehungszustand ist nun durch die Annahme leicht erklärlich, daß im gewöhnlichen Wasserstoffgas je 2 Atome unter Aufwendung einer gewissen Kraft miteinander zu Molekülen verbunden sind, und daß, wenn die Atome des Moleküls in eine chemische Verbindung eintreten sollen, diese Kraft zunächst überwunden werden muß. In dem Moment dagegen, wo sich die Atome aus einer chemischen Verbindung lösen, also noch nicht zu Molekülen vereinigt sind, treten sie mit ihrer ganzen freien Affinität auf.

Es wurde schon erwähnt, daß Dalton die Möglichkeit der Bestimmung der Atomgewichte praktisch dargethan hat. Selbstverständlich kann man kein einzelnes A., auch kein einzelnes Molekül wägen; wenn aber gleiche Volumen aller Gase eine gleiche Anzahl Moleküle enthalten, dann drücken die Volumgewichte der Gase zugleich das Verhältnis der Molekulargewichte der betreffenden Körper aus. Wenn sich die Volumgewichte von Wasserstoff, Stickstoff, Sauerstoff, Chlor wie 1 : 14 : 16 : 35,5 verhalten, so verhalten sich auch die Gewichte der Moleküle jener Körper wie diese Zahlen. Das Volumgewicht der Gase ist zugleich das Molekulargewicht der betreffenden Körper, und da ganz allgemein 1 Molekül einer gasförmigen Verbindung gleich 2 Volumen ist, so ist das Molekulargewicht diejenige Menge eines Körpers, welche in Gasform den Raum von 2 Volumen Wasserstoff (Chlor etc.) einnimmt. Man bezieht aber jetzt die Molekulargewichte stets auf Wasserstoff als Einheit, und da 1 Molekül = 2 Atomen, so ist die Hälfte des Molekulargewichts das Atomgewicht.

Praktisch bestimmt man die Atomgewichte gasförmig herzustellender Körper durch Bestimmung des Volumgewichts (der Dampfdichte). Ist das Element nicht gasförmig zu erhalten, so bestimmt man die Dampfdichte flüchtiger Wasserstoff- oder Chlorverbindungen desselben und leitet daraus das Atomgewicht ab. Diejenige Menge des Elements, welche in 1 Molekül (2 Volumen) der gasförmigen Wasserstoffverbindung enthalten ist, betrachtet man als 1 A. Bildet dasselbe Element mehrere Wasserstoffverbindungen, so ist sein Atomgewicht diejenige Menge, welche in 2 Volumen der wasserstoffreichsten Verbindung enthalten ist. So kennt man den Kohlenstoff nicht im gasförmigen Zustand, seine wasserstoffreichste Verbindung ist das Sumpfgas, dessen Volumgewicht ist = 8, das Molekulargewicht = 16; die Analyse lehrt aber, daß 16 Teile Sumpfgas aus 4 Teilen Wasserstoff und 12 Teilen Kohlenstoff bestehen, und mithin ist das Atomgewicht des Kohlenstoffs [22] = 12. Kennt man keine in Gasform zu erhaltende Wasserstoff- oder Chlorverbindung eines Elements, so bestimmt man das Atomgewicht nach Analogie der Zusammensetzung und Zersetzung und zwar nach der Regel, bei der Konstruktion der Moleküle die Elemente in der kleinsten Anzahl von Atomen zusammentreten zu lassen, welche mit der durch die Gewichtsanalyse ermittelten Zusammensetzung der Verbindungen vereinbar ist. Dabei dient die spezifische Wärme als Kontrolle. Nach dem Gesetz von Dulong und Petit verhält sich nämlich die spezifische Wärme der festen Elemente umgekehrt wie ihr Atomgewicht. Das Produkt aus beiden ist eine konstante Zahl (6,38), und wenn man diese Zahl durch die gefundene spezifische Wärme dividiert, so erhält man das Atomgewicht. Wegen der unvermeidlichen Versuchsfehler kann man nun zwar nicht das Atomgewicht aus der spezifischen Wärme oder umgekehrt diese aus jenem berechnen; aber man erkennt mit Sicherheit, daß das Atomgewicht eines Elements weder das nfache noch 1/n eines gefundenen Werts sein kann. Es verbinden sich z. B. 35,5 (1 A.) Chlor mit 39 Teilen Kalium, 108 Teilen Silber, 103,5 Teilen Blei. Die spezifische Wärme des Kaliums ist 0,1695, die des Silbers 0,057, des Bleis 0,0314. Das Produkt aus spezifischer Wärme und dem gefundenen Verbindungsgewicht ist also bei Kalium 6,61, bei Silber 6,15, bei Blei aber nur 3,25, und daraus ergibt sich, daß das Atomgewicht des Bleis auf 207 erhöht werden muß. Merkwürdige Ausnahmen von der zweiatomigen Struktur der Moleküle bilden Phosphor, Arsen, Quecksilber und Cadmium. Das Atomgewicht des Phosphors ist ohne Zweifel 31, aber das Volumgewicht des Phosphorgases ist 62, und mithin ist 1 Molekül Phosphor (2 Volumen) = 4 Atomen oder 124. Ebenso verhält sich Arsen, während bei Quecksilber und Cadmium 1 Molekül = 1 A. ist. Über gewisse Regelmäßigkeiten in den Atomgewichten s. Elemente.