Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Artus“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 1 (1885), Seite 888890
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Artus. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 1, Seite 888–890. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Artus (Version vom 04.11.2021)

[888] Artus (Arthur), myth. König in England, der Mittelpunkt eines walisisch-bretonischen Sagenkreises, bald König der Siluren, bald der Dumonier genannt. Sein Vater war Uter, sein Oheim Ambrosius Aurelianus, der Nachfolger des Königs Vortimer. A. wurde von dem Bischof Dubricius zu Kaerllion ar Wsk (Urbs legionum), seiner Residenz am Usk in Monmouth, der altrömischen Isca colonia, die in Bezug auf A. oft verwechselt wird mit der römischen Stadt Lugevallum, dem brigantischen Karleol („Stadt Leol“, jetzt Carlisle), gekrönt und erwarb sich den Ruhm eines walisischen Nationalhelden durch den Widerstand, den er an der Spitze der Briten den im O. der Insel herrschenden Angelsachsen entgegensetzte. Er wehrte die völlige Unterdrückung von seinen Gebirgsvölkern ab, schützte die Freiheit, Sprache und Sitte des Vaterlandes und verteidigte das Kreuz gegen die Heiden. Durch den Sieg bei Bath, den er im ersten Jahr seiner Regierung (516) nach zweitägigem Kampf errang, bewirkte er, daß Cerdik von Wessex die Belagerung von Bath (Thermae aquae solis) aufgeben mußte; dagegen mußte er später Hamptonshire und Somerset dem Cerdik überlassen. Doch behauptete er sich gegen Cynrik, Cerdiks Sohn und Nachfolger in Wessex. Den Zug gegen Rom, den A. auf dessen Aufforderung, sich zu unterwerfen, unternahm, sucht Lappenberg als eine historische Thatsache zu begründen. Der Verrat seines in der Heimat zurückgelassenen Neffen Mordred (Medraud), der sich empört und die Gemahlin des A., die sagenberühmte Ginevra (Guanhumara, Ginover, die Tochter eines Herzogs von Cornwallis aus dem Haus Cadors), verführt hatte oder sie der Untreue gegen ihren Gemahl beschuldigte, nötigte A. zu schleuniger Rückkehr, und im Kampf mit diesem und dem ihm verbündeten Sachsenherzog Childerik fiel er in der dritten Schlacht in Cornwallis 537 (oder 542). Sein lange unbekanntes Grab auf der Insel Avallona (südlich von Bristol), in der Nähe des Klosters Glastonbury (nach der Sage durch Joseph von Arimathia gegründet, ein für die Gestaltung der Sage wichtiger Umstand), wurde unter König Heinrich II. 1189 aufgefunden. A.’ Namen führen noch gegenwärtig mehr als 600 Plätze in Wales, Cornwallis und andern Gegenden.

Der historische Kern, der in den Erzählungen von A. wenigstens insofern liegt, als er Führer seines Volks gegen die Angelsachsen war, ist von einem reichen Sagengewand umsponnen, in welches wohl noch andre historische Erinnerungen, kaum unterscheidbar, verwebt sind. In seiner geschichtlichen Bedeutung als Vorkämpfer der Briten gegen die Sachsen erscheint A. mit seinen Mitstreitern Owein (Iwein), Geraint (Erek), Urien etc. in den walisischen Bardenliedern des 6. und 7. Jahrh., die gleichzeitig mit den gefeierten Helden oder unmittelbar nach ihrer Zeit gesungen [889] wurden. Auch bei Taliesin, Aneurin, Merddhin, Llywarch-Hen u. a. ist A. noch nicht der sagengefeierte Held, vielmehr tritt er hinter den trefflichen Geraint zurück. Unter den englischen Chronisten gedenkt der älteste walisische Geschichtschreiber, Gildas (geb. 516), der Thaten A.’, ohne daß er es für nötig hält, den Namen des allbekannten Königs aufzuzeichnen. Die übrigen Chronisten bis zum 8. Jahrh. schweigen über A.; die Sagen von Vortigern und Hengist ließen dem neuen Helden noch nicht Raum. Der erste volksmäßige Ansatz zu dem großen Stamm der Artussage in den Chroniken ist bei Nennius im 9. Jahrh. zu finden, der von A.’ zwölf ruhmvollen Zügen gegen die Sachsen erzählt und dabei den Helden in einen milden Heiligenschein zu hüllen sucht. Daneben aber bauten sich die Sagen von A. und dem Zauberer Merlin auf. In diesen erscheint A. als Sohn von Uter Pendragon („Drachenhaupt“), im Ehebruch mit Inguerne erzeugt und von Merlin, der jenem zur Umarmung der tugendhaften Inguerne dadurch verholfen, daß er ihm durch Zauber die Gestalt ihres abwesenden Gemahls, des Herzogs Gorlois von Cornwallis, verliehen, sich selbst unbekannt in einer christlichen Familie erzogen. Durch das Wunder mit dem Amboß, aus dem niemand außer A. das wie festgewachsene Schwert ziehen konnte, wurde er nach Uters Tod (zwischen 505 und 516) auf den Thron erhoben. Nachdem er sich mit Ginevra, der Tochter des Königs Leodagan in Thamelinde, vermählt, unternahm er die Züge gegen die Sachsen und Römer, wobei er durch Merlins Zaubermacht unterstützt wurde. Knüpfen die Erzählungen über A. bei Nennius noch an die Geschichte an, und sind sie frei von übernatürlichen Dingen, so finden sich in denen, worin Merlin eine Rolle spielt, die wunderbarsten Abenteuerlichkeiten, übernatürliche Begebenheiten, Einflechtung von Märchengestalten und Geisterwesen in verschiedenen Abstufungen. Zusammengetragen ist die Artus- und Merlinsage in der lateinisch geschriebenen Chronik des Gottfried von Monmouth (um 1130), einem blühenden Novellenkranz in Form einer Geschichte der britischen Könige von der ersten Bevölkerung Englands bis zu Cadwalladr (hrsg. von San Marte, Halle 1854), worin uns die reiche Welt der walisisch-bretonischen Heldensagen aufgeschlossen wird, in deren Mittelpunkt jetzt unbestritten A. steht. Den Ton des überschwenglich Wunderbaren stimmen mit Entschiedenheit an eine große Reihe von walisisch-bretonischen Erzählungen, denen gemeinschaftlich ist, daß A., der bisher überall als handelnder Held auftrat, jetzt zur passiven Nebenrolle herabsinkt. Er steht zwar immer noch in der Mitte ritterlicher Thaten, aber die bisherigen Nebenfiguren der Sage sind die Helden derselben. Zu den aus der Geschichte in den Mythus übergegangenen Personen gehören Owein und Peredur, A.’ Mitstreiter in der Schlacht von Katthraet, sein Feldherr Geraint, der auch Erek und König von Destrigâls zu Karnant heißt, in der Phantasie der Briten aber zusammengeflossen ist mit dem in der Schlacht von Longborth (501) gegen den westsächsischen Cerdik gefallenen Geraint ab Erbin; endlich Urien, ein Fürst von Reged im südlichen Schottland (in jüngern Romanen vom Land Gorre). Die Erzählungen, welche die Thaten Oweins, Geraints, Peredurs (Parzivals) etc. berichten, führen im Walisischen den gemeinschaftlichen Namen Mabinogion („Märchen“) und sind hauptsächlich in einem walisischen Manuskript zu Oxford enthalten, in dem sogen. „Roten Buch“ von Hergest (hrsg. von Lady Charlotte Guest: „The Mabinogion from the Llyfr Coch o Hergest“, mit einer englischen Übersetzung und sehr schätzbaren Anmerkungen, Lond. 1841–50, 3 Bde.). Die Zeit, in welcher die Mabinogion aus dem Artuskreis entstanden sind, ist mutmaßlich begrenzt durch Wilhelms Heereszug (1066) nach England und durch den ersten Kreuzzug (1190), wenngleich ihre schriftliche Abfassung spätern Zeiten angehören mag. Beide Momente sind wichtig für die Ausbildung der Artussage und die Verbreitung der Artusromane. Entscheidend aber war in dieser Beziehung das nahe politische Verhältnis, in das ein großer Teil Frankreichs zu Wales und der Bretagne durch Heinrich II. (1150) gebracht wurde, indem durch den Ideenaustausch der vereinigten Völker neue Bildungen der durch fremde Volkstraditionen befruchteten Sage entstanden. Vgl. Stephens, Geschichte der welschen Litteratur vom 12.–15. Jahrh. (deutsch von San Marte, Halle 1864).

Nach 1150 ist mit der walisischen Artussage der Sagenkreis des heiligen Gral (s. d.) und seines Königtums vereinigt, dessen Ursprung und Ausbildung nach Spanien und Südfrankreich hinweisen. Gleichzeitig treten auch noch andre fremdartige Bestandteile in die Artussage ein. Bisher war die Hofhaltung A.’ nach dem Charakter eines einfachen walisischen Fürstenhofs eingerichtet gewesen; nach dem Hinzukommen der Sagen vom Gral, auf welche die christlichen Orden, besonders der Orden der Tempelherren, entschiedenen Einfluß gehabt haben, wird die alte Haustafel zur Tafelrunde, dem Mittelpunkt der glänzenden Hoftage, die A. an den Pfingstfesten zu halten pflegte, und nimmt die Gestalt einer Ordensverfassung an. Dadurch aber, daß die Tafel mit der Abendmahlstafel, an welcher der Herr mit seinen Jüngern gesessen, in Beziehung gebracht wird, verbinden sich dunkle Mystik und geheimnisvolle Allegorie damit. In diesem Zustand überliefern die Artussage unter vielen andern die jüngern walisischen Romane: „Merlin“, „Brut d’Angleterre“, „Morte Arthur“, von denen den erstern Fr. Schlegel deutsch bearbeitet hat. Andre Elemente, die durch die Verbindung Englands mit Frankreich in den Cyklus des A. eintraten, sind die Geschichte des Zauberers Klinsor, die auf Süditalien zurückführt und mit Vergil zusammenhängt, die des Priesters Johannes, deren Ursprung in Hochasien zu suchen ist, endlich die Lohengrins und die Schwanensage, die der niederrheinischen Sagenwelt angehören. Ebenso wichtig aber wie dieses Zuströmen von stoffartigen Elementen war für Wales und Bretagne die reiche poetische Anschauung des Lebens überhaupt, die von Nordfrankreich aus dorthin sich verbreitete. In der walisischen Dichtung war es bisher die That an sich, welche die Helden zur Bewegung trieb; selten wurden sie durch ein moralisches, religiöses oder ein andres geistiges Motiv dazu bestimmt. Erst der ritterliche französische Geist bringt jene romantischen Elemente in das Epos, das dadurch nicht nur die tote Äußerlichkeit im Thun und Treiben der Helden verliert, sondern auch seitdem anfängt, geistige Individualitäten und mehr durchgeführte Charaktere zu zeigen. A. selbst wird nun zum glänzenden Repräsentanten aller ritterlichen Tugenden und sein Hof zum Sitz des reichsten höfischen Lebens erhoben. Seine Kampfgenossen sind die herrlichsten Muster ritterlicher Kourtoisie und Galanterie. Anderseits wurde A. von welschen Dichtern (etwa im 12. Jahrh.) ins Mythische und Mystische gezogen (vgl. San Marte, Beiträge zur bretonischen und keltisch-germanischen Heldensage, Quedlinb. 1847) und in der Volkssage und dem Volksglauben durch seinen Namen (arth-ur, der „große [890] Bär“) mit dem Gestirn des Großen Bären in Beziehung gebracht. Nach Gervasius von Tilbury durchschweift er mit seinem Heer, gleich dem deutschen wilden Jäger, die britischen Wälder in finstern Nächten und lebt mit seiner Massenie (Genossenschaft) in einem hohlen Berg in Pracht und Wohlleben (vgl. Grimm, Deutsche Mythologie).

Die alten walisischen Stoffe erlangten mehr noch als in Wales und Bretagne selbst diese Umbildung durch französische Bearbeitungen. Am meisten hat die Chronik des Gottfried zur Verbreitung der Artussage in den übrigen europäischen Ländern beigetragen und ist Quelle der gesamten Romane von A. und der Tafelrunde im 12., 13. und 14. Jahrh. für England wie für Frankreich geworden. In dieser Zeit, wo Roman sich auf Roman drängte und alles mit Eifer ergriffen wurde, was einen ritterlichen Charakter anzunehmen geeignet war, hatte man sich mit Vorliebe dem Sagenkreis des A. zugewendet. Fast kein Held der Tafelrunde blieb übrig, dem nicht ein besonderer Roman gewidmet wurde. Um den Stoff zu vermehren, knüpfte man an A. und seine Umgebung alles an, was nur damit in Verbindung gebracht werden konnte. Derselbe Stoff erfuhr mehrfache Bearbeitungen, unter denen die folgenden immer mehr wunderbare Kombinationen versuchten. Im 13. Jahrh. fing man sogar an, die Romane in Prosa aufzulösen, womit jedoch der Verfall in diesem Zweig der Litteratur hereinbrach. Der besten Zeit gehören an die Romane: „Erec“, „Chevalier au lion“, „Tristan“, „Lancelot du lac“, „Percheval“ u. a. Unter den Dichtern ist der berühmteste Chrétien de Troyes, dessen Werke auch in Deutschland bekannt wurden und Bearbeitungen fanden. Deutschland war es hauptsächlich, wo die bretonischen Sagen seit dem 12. Jahrh. fast jedes andre poetische Interesse verschlangen und entschieden in den Vordergrund der Litteratur traten. Für die deutsche Litteratur sind sie insofern von hoher Bedeutung gewesen, als sich aus ihnen das romantische Epos entfaltete und zu einer besondern Gattung herausbildete, während das alte volksmäßige Epos in Mißachtung sank. Das frühste deutsche Gedicht aus dem bretonischen Sagenkreis ist der „Tristrant“ des Eilhart von Oberge (s. d.). Von den Dichtungen Hartmanns von Aue (s. d.) gehören hierher sein frühstes episches Gedicht: „Erek und Enite“, und sein gefeiertstes: „Iwein“, beide Dichtungen des Chrétien von Troyes nachgebildet. Ein Nachahmer Hartmanns ist Wirnt von Gravenberg (s. d.) in seinem „Wigalois, oder der Ritter mit dem Rad“. Auch der originellste der mittelhochdeutschen Dichter, Wolfram von Eschenbach, entlehnte seinen „Parzival“ und seinen „Titurel“ der Artussage. Der dritte der großen deutschen Epiker des Mittelalters, Gottfried von Straßburg, behandelte in seinem „Tristan“ die Fabel des Eilhart noch einmal, verklärte sie aber durch die künstlerische Vollendung der Form und durch die Tiefe der Empfindung. In diese Kategorie gehören noch der „Lancelot“ Ulrichs von Zatzikhofen und des Strickers „Daniel von Blumenthal“. In allen Gedichten des deutschen Mittelalters ist übrigens die bretonische Artussage gesondert geblieben von dem Mythenkreis über den heiligen Gral (mit Ausnahme des „Parzival“ und „Titurel“, welche beide Sagenkreise miteinander vereinigt haben), und diese Scheidung ist jedenfalls das Ursprüngliche. Daher ist auch die Ansicht Martins, der in einer Schrift über die Gralsage (Straßb. 1880) behauptet, daß der Gralkönig ursprünglich mit A. identisch sei, zu verwerfen. Wie die Artussage seit ihrem Übertreten nach Nordfrankreich Hand in Hand mit dem Rittertum gegangen war, so teilte sie auch sein endliches Schicksal. Mit dem Sinken und dem Verfall des Ritterwesens war die Blüte der bretonischen Dichtung verschwunden, und nur dumpfer Nachklang einer herrlichen Vergangenheit war das große cyklische Gedicht von Ulrich Füetrer (nach 1487), das den gesamten Sagenkreis von A., den Rittern der Tafelrunde und dem heiligen Gral nebst den Geschichten des Argonautenzugs und des Trojanischen Kriegs zu umfassen suchte. Ganz dieselbe Tendenz, die interessantesten Gegenstände einer frühern Zeit dem Bewußtsein der Gegenwart wieder nahezubringen, verfolgen die prosaischen Auflösungen älterer deutscher Gedichte aus dem Sagenkreis des A., welche noch im 15. Jahrh. nach einer damals herrschenden Manier entstanden sind. Die bekanntesten und zugleich wertvollsten unter ihnen sind der „Wigalois“ und der „Tristan“, beide nach den gleichnamigen Rittermären Wirnts von Gravenberg und Eilharts von Oberge verfaßt. Vgl. San Marte (A. Schulz), Die Artussage und die Märchen des Roten Buches von Hergest (Quedlinb. 1842).