Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Arktische Flora“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 19 (Supplement, 1892), Seite 4648
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Arktische Flora. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 19, Seite 46–48. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Arktische_Flora (Version vom 15.09.2022)

[46] Arktische Flora, die Pflanzenwelt der rings um den Nordpol gelegenen Länder und Inseln. Ihr Gebiet umfaßt Grönland, Island, Jan Mayen, Spitzbergen, das nördliche Lappland nebst einem Teil der Halbinsel Kola, Nowaja Semlja, die nordsibirische Küste bis zum Tschuktschenland, die Nordküste des amerikanischen Kontinents von Alaska bis Labrador nebst den nördlich davon liegenden Inseln, wie Banksland, Parry-Inseln, Boothia Felix, Baffinsland u. a. Südlich bildet die Baumgrenze einen gewissen Abschluß des Gebiets, jedoch strahlt dasselbe mit einzelnen Florenbestandteilen auf die benachbarten Gebirge, wie die skandinavischen Fjelds, den nördlichen Ural, das Stanowoigebirge Ostsibiriens und in Amerika auf die nördlichen Rocky Mountains über. Eine Reihe von Pflanzenarten hat das arktische Gebiet auch mit viel weiter südlich gelegenen Gebirgen Europas, Asiens und Amerikas gemeinsam. Der um den Pol gelegene, in der Vorzeit größtenteils völlig vergletscherte Gürtel der arktischen Länder und Inseln besteht teils aus welligen Flachländern, wie z. B. im nördlichen Sibirien, teils aus eisbedeckten Gebirgszügen und Binnengletschern, wie in Grönland, Spitzbergen, Nowaja Semlja u. a.; die Vegetation konnte sich daher hier nur streifenweise am Rande der Eiswüsten und Gletschermassen ausbreiten. Das Klima zeichnet sich durch niedrige Temperatur (Jahresmittel zum Teil unter −16°, Mittel des Monats Juli +2 bis 10°) und Kürze der Vegetationszeit aus, die etwa mit dem Juni beginnt und bereits im August endigt. Das Flachland Sibiriens und des nördlichen Amerika trägt eine grau oder braun erscheinende, vorwiegend aus Flechten und Moosen gebildete, hier und da von niedrigen Halbsträuchern und Stauden unterbrochene Pflanzendecke (Tundraformation), die nur an warmen Abhängen lebhaftes Grün und farbenprächtige Blüten entwickelt. Im Ttschuktschenland ändert sich der Charakter der Vegetation insofern, als hier mehr amerikanische und ostasiatische Pflanzen sich einmischen. Das nördliche Alaska bildet ein sumpfiges Moorland mit Flechten- und Moostundren, an die sich südlich vom Polarkreis ein Gebüschgürtel anschließt; nur die Matten an Berglehnen zeigen auch hier einen anmutigern Charakter. Einen Hauptbestandteil der arktischen Flora bilden außer einer Reihe von Halbgräsern und Gräsern niedrige, strauchartige Weiden und Erikaceen, wie Ledum, Arctostaphylos, Cassiope, Vaccinium, daneben auch krautige Arten von Saxifraga, Draba, Alsine, Pedicularis, Dryas, Potentilla, Diapensia u. a., die durch gedrängten Wuchs und Größe der Blumenkronen den Alpenpflanzen gleichen. Auf Spitzbergen (mit 122 Pflanzenarten) läßt sich noch eine Formation der Strand-, Sumpf- und Mattenpflanzen unterscheiden, dagegen sind die Heidekräuter sehr spärlich (nur 2 Arten von Cassiope); ähnliches gilt für Nowaja Semlja (mit 193 Gefäßpflanzen, darunter nur 2 Erikaceen). Auf beiden Inselgruppen [47] bringt eine größere Anzahl von Pflanzen ihre Früchte nicht mehr zur Reife.

Am vielseitigsten entwickelt zeigt sich die Pflanzenwelt Grönlands (mit 386 Arten), welche nach neuern Untersuchungen Warmings den Hauptkern der arktischen Flora enthält. In Südgrönland (bei 60–62° nördl. Br.) treten Birkenwälder mit 4–5 m hohen Stämmen und eingesprengten Vogelbeerbäumen, Grünerlen, Zwergwacholdersträuchern und Weidengebüschen, daneben auch Staudenformationen und Graswiesen auf. Auch in Island sowie in Lappland bis zum Weißen Meer bilden Birken die Baumgrenze, im nördlichen Rußland, Sibirien und Nordamerika dagegen Nadelhölzer. Nördlich vom 62. Breitengrad beherbergt Grönland eine Pflanzenwelt, welche zum Teil Ähnlichkeit mit der der alpinen Region hat und in die Formationen der Gebüsche und Matten, der Heide, der Fjelds, der Moore, des Strandes und des gedüngten Bodens gegliedert erscheint. Die Gebüsche entwickeln sich an sonnigen Stellen, besonders im Innern der Thäler sowie an Bachufern, und werden vorzugsweise von Salix glauca gebildet, denen sich bis zum Polarkreis hinauf Bestände der Grünerle anschließen; vom 62.° nördl. Br. an wird von Birkenarten Betula nana vorherrschend. Innerhalb der Weidengebüsche ist eine hochstaudige Umbellifere (Archangelica officinalis) die hauptsächliche Charakterpflanze, zu der sich eine Schar von Rosaceen, Alsineen, Arten von Saxifraga, Pedicularis, Pirola, Campanula, Hieracium nebst Halbgräsern, Gräsern und Farnen gesellen; selbst einige Orchideen (Corallorhiza, Platanthera, Listera) fehlen nicht. Die genannte Pflanzengruppe scheint bis zum 70.° nördl. Br. hinaufzureichen und bildet auf feuchten Senkungen, an Bergabhängen u. dgl. bisweilen eine völlig zusammenhängende, grüne Vegetationsdecke. Auf trocknem, magerm Sandboden entwickeln sich bis zum 73.° nördl. Br. Heiden, die von bräunlichen, niedrigen Sträuchern mit ineinander geflochtenen Zweigen (vorzugsweise Empetrum nigrum, zahlreiche Erikaceen, auch Zwergweiden und Zwergbirken) gebildet werden; dazwischen wachsen zahlreiche Stauden, deren Blüten den bräunlichen Grundton der Heide anmutig unterbrechen. Die meisten Heidepflanzen sind durch die geringe Größe ihrer Blätter, durch Zurückrollung der Blattränder, durch wollige Deckhaare etc. gegen Dürre geschützt, welche nach Abfluß der Schmelzwässer auf flachgründigem Boden auch in Grönland stellenweise eintritt. Die Fjeldformation ist auf schroffern Berglehnen, auf kahlen, von den Gletschern der Eiszeit abgeschliffenen Felsen sowie auf den Gipfeln und Plateaus der Berge angesiedelt und nimmt den größten Teil der eisfreien Oberfläche Grönlands ein. Ihre Bestandteile zeigen am meisten die Tracht der Alpenpflanzen und sind zum Teil mit solchen identisch; die Strauchform erscheint zurückgedrängt; an ihrer Stelle entwickeln sich haufenförmig wachsende Stauden, die an kurzgliederigen Zweigen gedrängte Laubrosetten tragen. Pflanzen des fließenden Wassers besitzt Grönland besonders im N. nur sehr spärlich; Grasmoore (vorwiegend mit Eriophorum-Arten) und Moosmoore treten vorzugsweise längs der Seeufer oder in Bergsenkungen auf; noch bei 76° nördl. Br., bei Kap York, wurde Torfbildung beobachtet. Die Moorpflanzen stimmen teils mit den auch in Deutschland vorkommenden Arten (Oxycoccus palustris, Andromeda polifolia, Ledum palustre, Rubus Chamaemorus u. a.) überein, teils sind sie alpine oder hochnordische Formen. Am grönländischen Strande zeigen sich Andeutungen einer Sanddünen- und Marschflora; auf gedüngtem Boden in der Nähe der Eskimowohnplätze sowie am Fuß der Vogelberge entwickeln sich häufig kleine, frischgrüne Vegetationsstellen, die von Gräsern oder einer Reihe strand- und mattenbewohnender Pflanzen, zum Teil auch von eingeschleppten Ruderal-(Schutt-)Pflanzen gebildet werden.

Über den Ursprung der arktischen Flora, speziell Grönlands, sind zwei verschiedene Ansichten aufgestellt worden. Warming, der Hauptvertreter der einen Richtung, betrachtet die grönländische Flora in ihrem Kern als eine dem Lande eigentümliche, die sich auch während der Eiszeit an einzelnen eisfreien Punkten erhielt und in postglazialer Zeit durch Einwanderungen aus Amerika und Europa vermehrt wurde. Die durch geologische Gründe gestützte Annahme einer ehemaligen Landverbindung zwischen den Färöerinseln, Island und Grönland, auf welcher eine Einwanderung europäischer Pflanzen hätte stattfinden können, bestreitet Warming aus pflanzengeographischen Gegengründen und sucht die vorwiegende Einwanderung von europäischen Pflanzen in Grönland durch die samenverbreitende Thätigkeit der Winde, der Meeresströmungen und der Zugvögel zu erklären. Als hauptsächliche Scheidelinie zwischen der europäischen und der arktisch-amerikanischen Flora erscheint ihm die Danmarkstraße, zwischen Island und Grönland, nicht die Davisstraße, die man sonst wohl als Florengrenze zu betrachten pflegt, wenn Grönland pflanzengeographisch zu Europa gezogen wird. Dem gegenüber hat Nathorst darauf hingewiesen, daß Grönland während der Eiszeit in einer Weise vergletschert oder an höher gelegenen Punkten derart mit Firnschnee bedeckt gewesen sein muß, daß eine Erhaltung der Flora in irgend welchen nennenswerten Resten ausgeschlossen erscheint. Die Flora kann daher erst nach Abschmelzung des Eises in postglazialer Zeit in die Polarländer eingewandert sein. Da nun aus der speziellen Verbreitung der gegenwärtig in Grönland wachsenden Pflanzenarten hervorgeht, daß die aus Amerika stammenden, westlichen Arten nach O. zu eine schnelle Abnahme zeigen, während sie bei Voraussetzung ihrer Fortexistenz während der Eiszeit sich sowohl in West- als in Ostgrönland hätten erhalten müssen, so kann die von Warming als Scheidelinie angenommene Danmarkstraße nicht die wirkliche Grenze für die westlichen Formen bilden. Das Hindernis ihrer weitern Ausbreitung lag nach Nathorst vielmehr in einem mächtigen Eisstrom, der zur Glazialzeit im südlichen Ostgrönland zwischen 60 und 62° nördl. Br. sich ins Meer ergossen hat; derselbe sperrte während langer Zeit Pflanzeneinwanderungen von S. und W. her vollständig ab. Die östlichen, in Europa weiter verbreiteten Pflanzenarten haben sich von Island aus zunächst nach der Südspitze Grönlands verbreiten können und kommen daher hier vorwiegend in südlichen Breiten vor; an der Ostküste dringen sie wie auch die westlichen Arten in geringerer Anzahl vor; letztere fehlen zwischen 63 und 66° übrigens gänzlich. Nach der Ansicht von Nathorst ist somit im Gegensatz zu der Warmings die grönländische Flora eine postglaziale Einwanderung. Ihren Ursprung nahm dieselbe bereits vor der Eiszeit aus den tertiären Gebirgspflanzen von Grönland, Island, Schottland und Skandinavien, vielleicht auch des nördlichen Amerika; die zirkumpolare Verbreitung vieler arktischer Pflanzen ist der beste Beweis dafür, daß dieselben sich schon vor der Eiszeit in der Richtung der Parallelkreise ausgebreitet hatten und dann bei zunehmender [48] Ausdehnung des vergletscherten Gebiets in südlichere Länder zurückgedrängt wurden; aus diesen rückten sie später wieder von allen Seiten in das allmählich sich vom Eis befreiende arktische Gebiet ein. Noch später kamen Einwanderungen von den ostasiatischen Gebirgen, ganz zuletzt solche aus Nordamerika hinzu. Die augenblickliche Verteilung der arktischen Pflanzen wird auf diese Weise auf das verschiedene Datum ihrer Einwanderung zurückgeführt.

Vgl. Hooker, Outlines of the distribution of arctic plants („Transactions of the Linnean Society“, Bd. 23); Lange, Conspectus Florae Grönlandicae (Kopenh. 1880); Grönlund, Islands Flora (das. 1881); Holm, Novaja-Zemlias Vegetation („Dijmphna“, 1885); Kjellmann in den wissenschaftlichen Arbeiten der Vega-Expedition („Geograph. Jahrbuch“, Bd. 9 u. 10); Warming, Über Grönlands Vegetation (Englers Jahrbücher, Bd. 10, 1889); Nathorst, Nya bidrag till kännedomen on Spetsbergens kärlväxter („Svenska Vet. Akad. Handl.“, Bd. 20, 1883); Derselbe, Kritische Bemerkungen über die Geschichte der Vegetation Grönlands (Englers Jahrbücher, Bd. 14, 1891).