MKL1888:Arbeiterversicherung

Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
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Band 1 (1885), Seite 754755
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Arbeiterversicherung. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 1, Seite 754–755. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Arbeiterversicherung (Version vom 10.06.2024)

[754] Arbeiterversicherung. Die A. hat den Zweck, von dem Arbeiter und seiner Familie die aus Arbeitsunfähigkeit und Arbeitslosigkeit erwachsenden Gefahren dadurch abzuwenden, daß in Zeiten des Erwerbs gezahlte Beiträge zur Auszahlung an die Unterstützungsbedürftigen benutzt werden. Jene Gefahren können erwachsen durch Tod, welcher einmal unvermeidliche größere Ausgaben (Begräbniskosten) veranlaßt, dann den hinterbliebenen Witwen und Waisen ihren Ernährer entzieht, ferner durch Krankheit, welche Lohnausfall und infolgedessen Unterstützungsbedürftigkeit zur Folge hat, endlich durch Invalidität, als welche jede länger dauernde Arbeitsunfähigkeit aufgefaßt wird. Die Invalidität nennt man eine vorübergehende, wenn eine Krankheit nur eine gewisse Dauer überschreitet, aber Hoffnung läßt, daß der Arbeiter zu seiner frühern Beschäftigung wird zurückkehren können; sie ist eine dauernde, wenn diese Hoffnung wegen Krankheit oder Altersschwäche als ausgeschlossen erscheint. Im letztern Fall spricht man von ganzer Invalidität, wenn vollständige Arbeitsunfähigkeit und Erwerbslosigkeit vorhanden ist, von halber Invalidität, wenn der Arbeiter zwar nicht zu der frühern, aber doch zu einer leichtern, wenn auch weniger lohnenden Beschäftigung befähigt bleibt. Außerdem kann auch Hilfsbedürftigkeit infolge von Arbeitslosigkeit eintreten. Die Erwerbslosigkeit kann durch den Arbeiter selbst (selbstverschuldete Unfälle, durch Unachtsamkeit, verkehrtes Leben veranlaßte Krankheit, Nichtbenutzung vorhandener Arbeitsgelegenheit) oder durch dritte Personen (Unfälle, Entlassung durch den Arbeitgeber) verschuldet sein, oder es liegt eine menschliche Verschuldung nicht vor (Tod, Naturgefahren, Minderung der Arbeitsgelegenheit infolge von Änderung natürlicher oder sozialer Zustände), oder es können endlich verschiedene dieser Ursachen zusammenwirken. Der einzelne Arbeiter ist nun nicht im stande, durch Zurücklegen von Ersparnissen sich gegen diese Gefahren ausreichend zu sichern. Wenn auch, was aber keineswegs immer der Fall ist, der Arbeitslohn so hoch steht, daß bei einem den Kulturanforderungen entsprechenden Leben wirklich Erübrigungen möglich sind, und wenn auch wirklich der Arbeiter, was nicht bei allen zu erwarten, sich zu den mit dem Sparen verknüpften Entsagungen entschließt, so wird er doch nicht immer so viel rechtzeitig zu erübrigen im stande sein, daß die zur Zeit des Todes oder der Arbeitsunfähigkeit vorhandene Summe zur Deckung des Bedarfs genügt. Bei dem einen tritt der Fall, für welchen Vorsorge getroffen werden soll, niemals oder doch erst nach sehr langer Zeit ein, bei dem andern macht er sich sehr frühzeitig mit um so größerer Wucht (lange Krankheit, große Familie) geltend. Ist hiernach nicht jeder Einzelne, wenn auf sich allein angewiesen, im stande, seinen Unterhaltsbedarf dauernd zu decken, so muß der Weg der wechselseitigen Unterstützung, der sozialen Hilfe beschritten werden. Solche Hilfe wird einmal durch gesetzliche Anerkennung von Unterstützungspflichten der Familie, der Gemeinde, des Staats gewährt, neben welchen die Privatwohlthätigkeit ergänzend wirken kann. Solche Unterstützungen werden nie zu entbehren sein, sei es, daß es sich um Sammlungen und um Zuwendung von öffentlichen Mitteln in unvorhergesehenen Fällen eines bedeutenden Bedarfs handelt, sei es, daß Hilfsbedürftigkeit bei Einzelnen eintritt. Nun sind aber die Unterstützungen, welche als unentgeltliche Zuwendungen den Charakter der Armenpflege tragen, für sich allein weder zureichend noch empfehlenswert. Die Gaben der Armenpflege, welche auch nur subsidiär gereicht werden sollen, werden gern karg bemessen; sie können nie so organisiert werden, daß sie überall wirklichem Bedarf genügen. Außerdem wirkt die Armenpflege leicht demoralisierend, indem sie bei schwachem Charakter Arbeitsscheu und Neigung zum Bettel großzieht und allmählich in ganzen Schichten der Bevölkerung alles Ehrgefühl unterdrückt. Aus diesem Grund soll man suchen, dieselbe nur auf solche Fälle zu beschränken, in welchen sie unentbehrlich ist, in andern aber Einrichtungen zu schaffen, in welchen bei wohlorganisierter Hilfe der Trieb zur Arbeit und menschliche Würde gewahrt werden. Hierzu erweist sich die Versicherung als sehr zweckmäßig, welche überdies das Gefühl einer durch eigne Arbeit und Sparsamkeit ermöglichten Selbständigkeit wach erhält. Auf die Summen, welche dem versicherten Arbeiter zu zahlen sind, hat derselbe ein Recht, sie sind nicht etwa Gnadenreichnisse. Hiernach wäre notwendig:

1) Eine Krankengeldversicherung. Der Arbeiter erwirbt sich durch Zahlung von Beiträgen das Recht auf den Bezug von Summen in Krankheitsfällen für eine Zeitdauer, welche statutarisch oder gesetzlich ein bestimmtes Maß nicht überschreiten darf. 2) Eine Invalidenversicherung, welche bei vorübergehender Invalidität schon im Interesse der Kostensparung und der Verhinderung der Simulation und einer Abschiebung von Lasten zweckmäßig von Krankenkassen übernommen, bei dauernder Invalidität durch eigne Invalidenkassen bewirkt wird. 3) Eine Begräbnisgeldversicherung, welche bei den sogen. Sterbekassen erfolgt. 4) Eine Versicherung von an Witwen und Waisen zu zahlenden Summen, welche von den Witwenkassen in Rentenform für die Witwe auf Lebenszeit, für die Waisen bis zur Erreichung eines gewissen Alters entrichtet oder auch von andern Kassen in Kapitalform gewährt werden (sogen. Lebensversicherung als Kapitalversicherung auf den Todesfall). Gleichsam als Unterabteilungen zu diesen Hauptversicherungsarten erhält man die Altersversorgung, wenn nur Invalidität infolge hohen Alters in Betracht gezogen wird, die Unfallversicherung, wenn die Versicherung sich nur auf die Fälle der Erwerbsminderung erstreckt, welche durch akute äußere Veranlassung, durch Unfall, hervorgerufen werden. Voraussetzung der Versicherung ist aber nun, daß der Versicherte auch dauernd in der Lage ist, die erforderlichen Beiträge (Prämien) zu zahlen. So ist denn weiter noch notwendig 5) eine Arbeitslosigkeitsversicherung, d. h. eine Versicherung gegen die Folgen der Arbeits-, bez. Verdienstlosigkeit und zwar, wie sie in England durch Gewerkvereine gewährt wird, nicht nur solcher Verdienstlosigkeit, von welcher der Arbeiter ohne sein Verschulden betroffen wird, sondern auch solcher, welche er freiwillig als Mitglied eines bestimmten Verbands zum Zweck der Erzielung besserer Arbeitsbedingungen (Streiks) über sich ergehen läßt.

Im allgemeinen sind für die Einrichtung der A. die Grundsätze des Versicherungswesens maßgebend. Die zu entrichtenden Beiträge müßten sich nach der Höhe der versicherten Summe und nach dem Grade der Gefährdung (Wahrscheinlichkeit, daß die Gefahr eintritt) richten, so nach dem Beitrittsalter, Wohnort, Beschäftigungsart etc.; es wäre also im Interesse der Billigkeit wie im Interesse der Verhütung von Gefahren das Risiko möglichst zu individualisieren. Nun zwingen aber die Besonderheiten des Arbeiterlebens [755] auch zu Abweichungen von jenem Grundsatz sowie zu Einrichtungen, welche bei andern Versicherungen nicht nötig sind. Eine vollständige Individualisierung der Risikos scheitert zunächst an den Schwierigkeiten der Bemessung. Man wird sich, wenigstens solange noch keine genügenden statistischen Daten vorliegen, mit Annäherungen begnügen müssen. Dazu kommt, daß in Arbeiterkreisen vielfach mit Zähigkeit an dem Grundsatz festgehalten wird, daß alle gleichviel zahlen sollen. Jedenfalls ist die Beitragszahlung derart zu regeln, daß ihr durch den Lohn genügt werden kann. Kleine Ratenzahlungen, welche allenfalls nur kurze Stundungen nötig machen, sind, auch wenn dadurch mehr Kosten der Erhebung erwachsen, der Entrichtung großer Beträge vorzuziehen. Streng genommen, müßte der Lohn so hoch stehen, daß er zu allen Beitragszahlungen (mit wenigen Ausnahmen) ausreicht. Alsdann sollten auch die Arbeiter allein für die Beiträge aufkommen, die Arbeitgeber aber nur so viel zahlen, daß sie dadurch der ihnen obliegenden Haftpflicht enthoben werden. Vielen Arbeitern ist dies deswegen erwünscht, weil damit die Notwendigkeit einer Beteiligung der Unternehmer an der Kassenverwaltung entfällt. Erweist sich der Lohn als nicht zureichend, so könnten die Arbeitgeber von dem Gesichtspunkt aus zugezogen werden, daß sie in ihren Beiträgen nur unumgängliche Lohnteile entrichten. Gemeinde und Staat würden durch Neueinrichtung solcher Versicherungen von manchen Lasten befreit, welche sie seither zu tragen hatten. Waren auch diese Lasten auf falsche Schultern gelegt, so können immerhin vorübergehend gewährte Beiträge aus öffentlichen Kassen insbesondere dann auch als gerechtfertigt erscheinen, wenn durch die A. der Industrie neue Lasten aufgelegt werden (Altersversorgung, frühere Geltendmachung der Invalidität etc.), welche sie in den ersten Zeiten nicht zu ertragen vermag. Die Entschädigung ist in den meisten Fällen in Rentenform zu gewähren, da nur hierdurch der Zweck dauernder Sicherstellung erreicht wird. Dagegen ist bei der Begräbnisversicherung Kapitalzahlung am Platz, welche auch sonst in hierzu geeigneten Ausnahmefällen gewährt werden sollte. Große Schwierigkeiten macht die Frage der Organisation der A., sobald dieselbe sich auf alle Arbeiter erstrecken, der Unternehmer sich beteiligen und die Freizügigkeit nicht gehemmt werden soll. Von der früher besonders bei Staatsunternehmungen vorgekommenen patriarchalischen Einrichtung, bei welcher der Arbeiter zahlte, ohne Rechte zu haben, und seiner Ansprüche, besonders als Strafe, leicht verlustig gehen konnte, muß heute abgesehen werden. Den Arbeitern es überlassen, sich bei beliebigen Kassen, auch Prämiengesellschaften, zu versichern, würde mit einem auszuübenden Zwang nicht verträglich sein, da derselbe vollständige Sicherstellung des Arbeiters erheischt. So bleibt denn, wenn der Arbeiter zur Versicherung gezwungen wird, nur übrig die Zwangskasse, d. h. die unter Kontrolle zu stellende, allenfalls nur durch öffentliche Organe zu verwaltende Kasse, welcher der in einem bestimmten Bezirk wohnende oder einem bestimmten Beruf angehörige Arbeiter beitreten muß, dann der Kassenzwang, welcher die Arbeiter überhaupt nur verpflichtet, einer Kasse beizutreten, welche nach gewissen Normativbedingungen eingerichtet sein und verwaltet werden muß. Eine genossenschaftliche, auf Gegenseitigkeit beruhende Kasse würde den Vorteil guter Kontrolle und Überwachung bieten; doch würde dieselbe im Interesse der Freizügigkeit und der Sicherheit eine Kassenverbindung nötig machen. Am schwierigsten ist die wichtige Arbeitslosigkeitsversicherung. Da bei derselben verschuldete und unverschuldete Arbeitslosigkeit praktisch nicht voneinander zu scheiden sind, so kann sie nicht zum Gegenstand des Zwanges gemacht werden und wird deshalb den Arbeitervereinen (Gewerkvereinen) zu überlassen sein. Infolgedessen wird es aber unmöglich, einen Zwang vollständig bei allen andern Versicherungen durchzuführen, bei welchen durch dauernde Zahlungen Ansprüche erworben werden (Invaliden-, Witwenversicherung). Leichter ist er durchführbar, wo nur jeweilig durch bestimmt bemessene, in kürzern Zeiträumen erfolgende Zahlungen entsprechende Rechte erworben werden (Unfallversicherung, ein großer Teil der Krankenversicherung). Vgl. auch Hilfskassen.

Ein Verzeichnis der wichtigsten Litteratur findet sich in Schmollers „Jahrbuch für Gesetzgebung und Verwaltung“, Bd. 5, S. 278. Hier mögen hervorgehoben werden: Engel, Der Preis der Arbeit (2. Aufl., Berl. 1872); „Über Alters- und Invalidenkassen für Arbeiter. Gutachten auf Veranlassung des Vereins für Sozialpolitik“ (Leipz. 1874); M. Hirsch, Die gegenseitigen Hilfskassen und die Gesetzgebung (Stuttg. 1876); L. Brentano, Die A. gemäß der heutigen Wirtschaftsordnung (Leipz. 1879); Derselbe, Der Arbeiterversicherungszwang (Berl. 1881); Hasbach, Das englische Arbeiterversicherungswesen (Leipz. 1883); v. Osten, Die A. in Frankreich (das. 1884).


Ergänzungen und Nachträge
Band 17 (1890), Seite 4446
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[44] Arbeiterversicherung (Gesetz vom 22. Juni 1889, betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung). In der kaiserlichen Botschaft vom 17. Nov. 1881 war auf die Notwendigkeit hingewiesen worden, auch denjenigen, welche durch Alter und Invalidität erwerbsunfähig geworden seien, ein höheres Maß staatlicher Fürsorge zu teil werden zu lassen. Nachdem inzwischen die Krankenversicherung (s. Krankenkassen, Bd. 10) und die Unfallversicherung (s. d., Bd. 15) gesetzlich geregelt worden war, wurden von der Reichsregierung 17. Nov. 1887 „Grundzüge“ zu einer Alters- und Invalidenversicherung für die deutschen Arbeiter zu dem Zweck veröffentlicht, eine Besprechung derselben in den weitesten Kreisen zu veranlassen. Die Versicherung sollte eine zwangsweise sein, die zu gewährenden Renten waren einheitlich für ganz Deutschland und alle Arbeiter bemessen, die Kosten sollten je zu einem Drittel vom Arbeiter, vom Arbeitgeber und vom Reiche gedeckt werden. Die Verwaltung war den für die Unfallversicherung gebildeten Berufsgenossenschaften als „Trägern der Versicherung“ zugedacht. Für jede Berufsgenossenschaft sollte eine besondere Versicherungsanstalt mit Vertrauensmännern eingerichtet werden. Für diejenigen Arbeiter, welche einer solchen Genossenschaft nicht angehörten, sollten an deren Stelle die weitern Kommunalverbände treten. Die Grundzüge begegneten einem lebhaften Widerspruch. Die Notwendigkeit einer Versicherung wurde zwar allgemein zugegeben, bekämpft dagegen wurden vornehmlich die Gewährung eines Reichszuschusses, die Übertragung der Versicherung an die Berufsgenossenschaften und die Art der Rentenbemessung. Statt der Einheitsrente wurde „Individualisierung“ verlangt, d. h. die Rente sollte sich mehr dem seither bezogenen Lohn der einzelnen Arbeiter anschmiegen. Die einen schlugen zu dem Ende die Bildung von Ortsklassen vor, indem die Rente mit gewissen Abstufungen nach dem Orte der Arbeit verschieden bemessen werden sollte, die andern empfahlen dagegen, Lohnklassen der Versicherung zu Grunde zu legen, welchen die einzelnen Arbeiter, ganz unabhängig von dem Ort, wo sie arbeiteten, nach der Höhe ihres wirklichen Verdienstes einzureihen seien. Statt der Berufsgenossenschaften wurden von mehreren Seiten örtlich abzugrenzende Anstalten in Vorschlag gebracht, welche alle in ihrem Gebiet beschäftigten versicherungspflichtigen Arbeiter umfassen sollten. Gegen die Genossenschaften wurde insbesondere geltend gemacht, daß dieselben keine feststehenden Einrichtungen, vielmehr je nach Änderungen der Industrie dem Wandel unterworfen seien, dann daß dieselben, weil über große Bezirke, zum Teil über ganz Deutschland verbreitet, mit zu großen Kosten arbeiteten, indem auf einem und demselben Gebiet verschiedene Verwaltungen für den gleichen Zweck wirkten. Dazu kamen noch politische Gründe, welche allerdings nicht immer offen vorgetragen wurden. Der Reichszuschuß war mit dem Hinweis auf die durch die Versicherung herbeigeführte Entlastung der Armenpflege sowie darauf begründet worden, daß eine Versorgung vieler Arbeiter schon in kürzerer Frist nötig werde, ohne daß für dieselben seither Beiträge gezahlt worden seien oder fortan die versicherungstechnisch nötigen Beiträge entrichtet werden könnten. Die Gegner des Reichszuschusses stützten ihre Anschauungen teils auf Gründe der Politik und der Finanzverwaltung, teils auf solche allgemein volkswirtschaftlicher Natur. Man befürchtete, es möchten immer weiter gehende Anforderungen an die Hilfe des Reichs gestellt und insbesondere mit der noch einzuführenden Witwen- und Waisenversicherung die Last für das Reich zu groß werden. Dann verlangte man, es sollten die Kosten der einzelnen Wirtschaftszweige von diesen selbst, bez. von den Warenkäufern getragen, nicht aber auf andre Schultern übergewälzt werden. Hierauf wurde im Juni 1888 von der Reichsregierung ein Gesetzentwurf veröffentlicht, in welchem von den Berufsgenossenschaften Abstand genommen und für Bemessung der Rente die Bildung von Ortsklassen und die Abstufung nach solchen vorgeschlagen worden war. Im wesentlichen an den gleichen Grundgedanken wie dieser Entwurf hielt derjenige fest, welcher im November 1888 dem Reichstag vorgelegt wurde. Nach eingehenden Beratungen in Kommission und Plenum und nach einer Reihe von Abänderungen, welche im wesentlichen sich auf Rentenhöhe, Wartezeit und Bemessung des Reichszuschusses bezogen, wurde der Entwurf mit einer allerdings nur geringen Majorität angenommen und als Gesetz, betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung, 22. Juni 1889 veröffentlicht.

I. Umfang und Gegenstand der Versicherung. Der Versicherungspflicht sind unterworfen vom vollendeten 16. Lebensjahr ab: 1) Personen, welche als Arbeiter, Gehilfen, Gesellen, Lehrlinge oder Dienstboten gegen Lohn oder Gehalt beschäftigt werden; 2) Betriebsbeamte sowie Handlungsgehilfen und -Lehrlinge (ausschließlich der in Apotheken beschäftigten Gehilfen und Lehrlinge), welche Lohn oder Gehalt beziehen, deren regelmäßiger Jahresarbeitsverdienst an Lohn oder Gehalt aber 2000 Mk. nicht übersteigt, sowie 3) die gegen Lohn oder Gehalt beschäftigten Personen der Schiffsbesatzung deutscher Seefahrzeuge und von Fahrzeugen der Binnenschiffahrt. Durch Beschluß des Bundesrats kann die Versicherungspflicht auch auf Betriebsunternehmer, die nicht regelmäßig wenigstens einen Lohnarbeiter beschäftigen, sowie auf solche selbständige Gewerbtreibende erstreckt werden, welche in eignen Betriebsstätten im Auftrag und für Rechnung andrer Gewerbtreibender mit der Herstellung oder Bearbeitung gewerblicher Erzeugnisse beschäftigt werden (Hausgewerbtreibende). Die genannten Betriebsunternehmer sind, wenn kein für sie bindender Beschluß gefaßt wird, zur freiwilligen Selbstversicherung berechtigt. Der Versicherungspflicht sind nicht unterworfen solche Personen, welchen als Entgelt für ihre Beschäftigung [45] nur freier Unterhalt gewährt wird, ferner Beamte des Reichs und der Bundesstaaten, die mit Pensionsberechtigung angestellten Beamten von Kommunalverbänden sowie Personen des Soldatenstandes, welche dienstlich als Arbeiter beschäftigt sind, endlich solche Personen, welche nicht mehr im stande sind, ein Drittel des nach Maßgabe des Krankenversicherungsgesetzes festgesetzten Tagelohns zu verdienen, oder welche auf Grund des neuen Gesetzes eine Invalidenrente beziehen. Andre in Betrieben des Reichs, eines Bundesstaats oder eines Kommunalverbandes beschäftigte Personen genügen der gesetzlichen Versicherungspflicht durch Beteiligung an einer für den betreffenden Betrieb bestehenden oder zu errichtenden besondern Kasseneinrichtung, durch welche ihnen eine den reichsgesetzlich vorgesehenen Leistungen gleichwertige Fürsorge gesichert ist.

Der Bundesrat kann bestimmen, ob und inwieweit durch Beteiligung an andern Kasseneinrichtungen, welche die Fürsorge für den Fall der Invalidität oder des Alters zum Gegenstand haben, der Versicherungspflicht genügt wird. Gegenstand der Versicherung ist der Anspruch auf Gewährung einer Invaliden-, bez. Altersrente. Invalidenrente erhält ohne Rücksicht auf das Lebensalter derjenige Versicherte, welcher dauernd erwerbsunfähig ist. Erwerbsunfähigkeit ist dann anzunehmen, wenn der Versicherte infolge seines körperlichen oder geistigen Zustandes nicht mehr im stande ist, durch eine seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechende Lohnarbeit mindestens einen Betrag zu verdienen, welcher gleichkommt der Summe eines Sechstels des Durchschnitts der Lohnsätze, nach welchen für ihn während der letzten fünf Beitragsjahre Beiträge entrichtet worden sind, und eines Sechstels des 300fachen Betrags des nach dem Krankenversicherungsgesetz festgesetzten ortsüblichen Tagelohns gewöhnlicher Tagearbeiter des letzten Beschäftigungsorts, in welchem er nicht lediglich vorübergehend beschäftigt gewesen ist. Altersrente erhält, ohne daß es des Nachweises der Erwerbsunfähigkeit bedarf, derjenige Versicherte, welcher das 70. Lebensjahr vollendet hat. Dagegen steht ein Anspruch auf Invalidenrente denjenigen Versicherten nicht zu, welche erweislich die Erwerbsunfähigkeit sich vorsätzlich oder bei Begehung eines durch strafgerichtliches Urteil festgestellten Verbrechens zugezogen haben.

In Gemeinden, in welchen land- und forstwirtschaftliche Arbeiter nach Herkommen ihren Lohn ganz oder zum Teil in Naturalleistungen erhalten, kann auch die Rente bis zu zwei Dritteln in dieser Form gewährt werden. Solchen Personen, welchen wegen gewohnheitsmäßiger Trunksucht geistige Getränke in öffentlichen Schankstätten nicht verabfolgt werden dürfen, ist die Rente ihrem vollen Betrag nach in Naturalleistungen zu gewähren. Ist der Berechtigte ein Ausländer, so kann er, falls er seinen Wohnsitz im Deutschen Reich aufgibt, mit dem dreifachen Betrag der Jahresrente abgefunden werden. Zur Erlangung eines Anspruchs auf Invaliden- oder Altersrente ist, außer dem Nachweis der Erwerbsunfähigkeit, bez. des gesetzlich vorgesehenen Alters, erforderlich: 1) die Zurücklegung der vorgeschriebenen Wartezeit; 2) die Leistung von Beiträgen. Die Wartezeit beträgt: 1) bei der Invalidenrente 5 Beitragsjahre; 2) bei der Altersrente 30 Beitragsjahre. Diese Wartezeiten sind geringer bemessen für Versicherte, welche während der ersten 5 Kalenderjahre nach dem Inkrafttreten des Gesetzes erwerbsunfähig werden, sowie für Versicherte, welche zur Zeit des Inkrafttretens des Gesetzes das 40. Lebensjahr vollendet haben.

Die Mittel zur Gewährung der Renten werden vom Reich in Form eines Zuschusses von 50 Mk. für jede Rente jährlich, dann von den Arbeitgebern und von den Versicherten durch laufende Beiträge zu je gleichen Teilen aufgebracht. Die Höhe dieser Beiträge ist so zu bemessen, daß durch dieselben gedeckt werden die Verwaltungskosten, die Rücklagen zur Bildung eines Reservefonds, die durch Erstattung von Beiträgen voraussichtlich entstehenden Aufwendungen sowie der Kapitalwert der von der Versicherungsanstalt aufzubringenden Anteile an denjenigen Renten, welche in dem betreffenden Zeitraum voraussichtlich zu bewilligen sein werden. Zum Zweck der Bemessung der Beiträge und Renten werden nach der Höhe des Jahresarbeitsverdienstes folgende Klassen (Lohnklassen) der Versicherten gebildet:

Klasse I bis zu 350 Mk. einschließlich,
II von mehr als 350 bis 550 Mk.,
III von mehr als 550 bis 850 Mk.,
IV von mehr als 850 Mk.

Die Renten werden für Kalenderjahre berechnet und in monatlichen Teilbeträgen im voraus gezahlt.

Bei Berechnung des von der Versicherungsanstalt aufzubringenden Teils der Invalidenrente wird ein Betrag von 60 Mk. zu Grunde gelegt. Derselbe steigt mit jeder vollendeten Beitragswoche

in der Lohnklasse I um 2 Pfennig,
II 6
III 9
IV 13

Der von der Anstalt aufzubringende Teil der Altersrente beträgt für jede Beitragswoche

in der Lohnklasse I 4 Pfennig,
II 6
III 8
IV 10

Dabei werden 1410 Beitragswochen in Anrechnung gebracht. Die höchste Altersrente würde sich demnach stellen auf Mk. nebst 50 Mk. Reichszuschuß, zusammen 191 Mk. Ein Arbeiter der vierten Lohnklasse, welcher nach 1410 Beitragswochen invalid wird, erhält Mk. Weibliche Personen, welche sich verheiraten, ehe sie in den Genuß einer Rente gelangten, können die Hälfte der für sie geleisteten Beiträge zurückverlangen, sofern letztere wenigstens 5 Jahre lang entrichtet wurden. Einen gleichen Anspruch haben Witwen und Waisen männlicher Personen, welche, nachdem sie wenigstens 5 Jahre lang Beiträge gezahlt haben, sterben, ehe sie eine Rente erhielten. Die Anwartschaft der Versicherten erlischt, wenn während 4 aufeinander folgender Jahre für weniger als insgesamt 47 Wochen Beiträge entrichtet worden sind. Doch lebt dieselbe durch Wiedereintritt in eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder durch freiwillige Beitragsleistung wieder auf.

II. Organisation. Die Invaliditäts- und Altersversicherung erfolgt durch Versicherungsanstalten, welche nach Bestimmung der Landesregierungen für weitere Kommunalverbände ihres Gebiets oder für das Gebiet des Bundesstaats errichtet werden. In der Versicherungsanstalt sind alle diejenigen Personen versichert, deren Beschäftigungsort im Bezirk der Versicherungsanstalt liegt. Die Versicherungsanstalt wird durch einen Vorstand verwaltet, soweit nicht einzelne Angelegenheiten durch Gesetz oder Statut dem Ausschuß oder andern Organen übertragen sind. Für jede Anstalt wird ein [46] Ausschuß gebildet, welcher aus einer gleichen Anzahl (mindestens 5) Vertretern der Arbeitgeber und der Versicherten besteht. Durch das Statut kann die Bildung eines Aufsichtsrats angeordnet werden. Ein Aufsichtsrat muß gebildet werden, wenn nach dem Statut dem Vorstand Vertreter der Arbeitgeber und Versicherten nicht angehören. Der Aufsichtsrat hat die Geschäftsführung des Vorstandes zu überwachen und die ihm durch das Statut außerdem übertragenen Obliegenheiten zu erfüllen. Für den Bezirk jeder Anstalt wird zur Wahrung der Interessen der übrigen Anstalten und des Reichs von der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Reichskanzler ein Staatskommissar bestellt.

III. Schiedsgerichte. Für den Bezirk jeder Anstalt wird mindestens ein Schiedsgericht bestellt, welches aus einem Vorsitzenden und mindestens vier Beisitzern besteht. Letztere werden von dem Ausschuß und zwar zu gleichen Teilen von den Arbeitgebern und den Versicherten gewählt.

IV. Verfahren. Ansprüche auf Renten sind bei der untern zuständigen Verwaltungsbehörde anzumelden. Gegen den Bescheid derselben findet Berufung an das Schiedsgericht statt. Ist die Rente anerkannt und festgestellt, so ist dem Rechnungsbüreau des Reichsversicherungsamtes Mitteilung zu machen, welches die Renten auf das Reich und die beteiligten Versicherungsanstalten nach Maßgabe der Quittungskarten verteilt. Die Auszahlung der Renten wird dann vorschußweise durch die Postverwaltungen bewirkt. Die Höhe der wöchentlichen Beitrage stellt sich vorbehaltlich anderweitiger Festsetzung für die erste Beitragsperiode (nächsten 10 Jahre) in jeder Anstalt

in der Lohnklasse I auf 14 Pfennig,
II 20
III 24
IV 30

Die Beiträge entrichtet der Arbeitgeber, welcher berechtigt ist, die Hälfte derselben bei der Lohnzahlung in Abzug zu bringen. Hierbei hat er sich der Marken zu bedienen, welche die Versicherungsanstalten für die verschiedenen Lohnklassen ihrer Bezirke mit Bezeichnung ihres Geldwertes ausgeben werden, indem er einen entsprechenden Betrag von Marken in die Quittungskarte des Versicherten einklebt. Jede Quittungskarte bietet Raum zur Aufnahme der Marken für 47 Beitragswochen. Die Eintragung eines Urteils über die Führung oder die Leistungen des Inhabers sowie sonstige durch das Gesetz nicht vorgesehene Eintragungen oder Vermerke in oder an der Quittungskarte sind unzulässig. Quittungskarten, in welchen derartige Vermerke oder Eintragungen sich vorfinden, sind von jeder Behörde, welcher sie zugehen, einzubehalten und durch neue zu ersetzen. Dem Arbeitgeber sowie Dritten ist untersagt, die Quittungskarte nach Einklebung der Marken wider den Willen des Inhabers zurückzubehalten. Personen, welche aus dem Versicherungsverhältnis ausscheiden, sind berechtigt, dasselbe freiwillig dadurch fortzusetzen, bez. zu erneuern, daß sie die für die Lohnklasse II ihres Aufenthaltsorts festgesetzten Beiträge entrichten und gleichzeitig für jede Woche freiwilliger Beitragsleistung eine Zusatzmarke beibringen. Auch die Personen (Betriebsunternehmer), welche sich freiwillig selbst versichern, haben außer den vollen Beiträgen in Marken für jede Woche der Selbstversicherung eine Zusatzmarke beizubringen. Der Nennwert dieser Zusatzmarken beträgt 8 Pfennig.

V. Aufsicht. Die Versicherungsanstalten unterliegen in Bezug auf Befolgung des Gesetzes der Beaufsichtigung durch das Reichsversicherungsamt. In denjenigen Bundesstaaten, in welchen Landesversicherungsämter errichtet sind, übt das Landesversicherungsamt die Aufsicht über solche Versicherungsanstalten aus, welche sich nicht über das Gebiet des Bundesstaats hinaus erstrecken.

VI. Von den Strafbestimmungen seien hier nur erwähnt, daß unzulässige Eintragungen oder Vermerke in Quittungskarten mit Geldstrafe bis zu 2000 Mk. oder mit Gefängnis (Haft bei mildernden Umständen) bis zu sechs Monaten bedroht werden. Organe der Versicherungsanstalten sowie die das Aufsichtsrecht über dieselben ausübenden Beamten werden auf Antrag mit Geld bis zu 1500 Mk. oder mit Gefängnis bis zu drei Monaten bestraft, wenn sie unbefugt Betriebsgeheimnisse offenbaren, welche kraft ihres Amtes zu ihrer Kenntnis gelangt sind. Absichtliche Offenbarung zum Nachteil der Betriebsunternehmer sowie Nachahmung werden mit Gefängnis bedroht, neben welchem auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden kann. Hierzu kann Geldstrafe bis zu 3000 Mk. treten, wenn die Absicht darauf gerichtet ist, sich oder einem andern einen Vermögensvorteil zu verschaffen.

Bei einem Versicherungsbestand von jährlich 11 Mill. Personen wird der auf 50 Mk. jährlich zu jeder Rente festgesetzte Reichszuschuß sich im ganzen belaufen

im 1. Versicherungsjahr auf 6,4 Mill. Mk.
2. 11,7
7. 18,0
10. 30,7
15. 45,0
20. 53,0
80. 69,0

Die Witwen- und Waisenversorgung für den Arbeiterstand wurde vorerst noch nicht in Angriff genommen, jedoch allgemein als nötig anerkannt. Dieselbe würde höhere Lasten in Anspruch nehmen als die Versicherung von alten und invaliden Arbeitern. Vgl. v. Woedtke, Das Reichsgesetz betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung (Berl. 1889); Gebhard u. Geibel, Führer durch das Gesetz, betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung (Altenb. 1889); Pfafferoth, Führer durch die gesamte A. (Berl. 1889).