Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Araukaner“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 1 (1885), Seite 745
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Araukaner. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 1, Seite 745. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Araukaner (Version vom 15.11.2022)

[745] Araukaner (Aucaes, „Rebellen“, während der einheimische Name Moluche, „Krieger“, ist), ein indian. Volksstamm im südlichen Chile, welcher wahrscheinlich trotz der großen Verschiedenheit der Sprachen mit den Indianern der Pampas und den Patagoniern eine Völkerfamilie bildet. Sie unterscheiden sich von den Indianern des tropischen Südamerika durch größere physische und moralische Kraft, sind von hellbrauner Farbe und haben lange, starke und schwarze Haare und einen geraden und kräftigen Wuchs. Ihre mittlere Größe beträgt nach d’Orbigny 1,6 m. Sie zerfallen in drei Stämme: Picunche („Nordmänner“) im NW., Pehuenche („Fichtenmänner“), die Küstenbewohner von Santiago de Chile bis gegen Valdivia, und Huilliche („Südmänner“) im S. des Landes. Die A. sind nicht ohne eine gewisse Bildung, haben feste Wohnsitze und waren seit alter Zeit Ackerbauer, welche, wie die Peruaner, Mais, Bohnen, Quinoa, Kartoffeln etc. kultivierten. Seit der Einführung der Pferde sind sie ein kühnes Reitervolk geworden, das in der Handhabung seiner langen Lanzen, des Lasso (Fangschlinge) und der Bolas (Eisenkugeln, die an langen Riemen geschleudert werden) ungemeine Geschicklichkeit besitzt. Auch zu einer geordneten Staatsverfassung zu gelangen, haben sie Versuche gemacht (s. unten); dagegen sind alle Bemühungen der katholischen Missionen, sie für das Christentum zu gewinnen, fruchtlos geblieben. Was sie aber hauptsächlich auszeichnet, ist ihre Kraft und Tapferkeit: die A. sind ohne Zweifel das tapferste Volk Südamerikas, das sich ebenso wie von dem Joch der Inkas auch von dem der Spanier freizuhalten gewußt hat. Seit letztere unter Don Pedro de Valdivia zuerst nach Südchile vordrangen (1558), hat zwischen ihnen und den Araukanern mit geringen Unterbrechungen der Krieg nicht aufgehört, der in dem großen Epos „Araucania“ des spanischen Dichters Ercilla sogar eine poetische Verherrlichung fand. Die Unabhängigkeit der A. wurde 1773 wiederholt von seiten der Spanier anerkannt, dabei aber ihr Land auf die Strecke zwischen dem Biobio im N. und dem Calle-Calle im S. (östlich bis an den Fuß der Kordilleren) beschränkt. In der Folge drang dann von N. nach S. die Zivilisation und Kolonisation immer weiter ins Araukanerland vor; mehrere Stämme wurden durch den Einfluß des Verkehrs ganz in den Kreis des chilenischen Staatslebens gezogen, und heute umfaßt das Gebiet der noch unabhängigen A. bloß noch den nördlichen Teil der Provinz Valdivia und den südlichen der Provinz Arauco, eine Strecke Landes von ca. 11/2 Breitengraden mit schwankenden, doch im allgemeinen immer enger werdenden Grenzen. Über die Zahl des infolge innerer Fehden und durch seine Beteiligung an den Revolutionskämpfen sehr zurückgekommenen Volks sind die Angaben verschieden. Während dieselbe in der Mitte des 18. Jahrh. noch zu 150,000 angegeben ward, soll sie jetzt nur 50,000, nach Rosales gar nur 10,000 betragen. Die freien A. teilen ihr Land in vier zwischen den Anden und der Meeresküste sich parallel hinziehende Provinzen, die wieder in verschiedene Distrikte zerfallen, deren jeder von einem Stamm mit erblichem Häuptling bewohnt wird. Sämtliche Häuptlinge (Apo-uelmes) üben Justiz, empfangen aber keinen Tribut, sie sind voneinander unabhängig und stehen in politischer Beziehung einander gleich. Über ihnen steht der Toqui, das von ihnen erwählte Oberhaupt der Provinz. Die vier Toquis zusammen bilden den Friedensrat oder die eigentliche Landesregierung, an deren Spitze der gewählte Großtoqui steht. Zu Kriegszeiten herrscht ein Kriegsrat mit unbegrenzter Macht. Eigentliche Gesetze haben die A. nicht, doch werden alte Gebräuche und Traditionen heilig gehalten. S. Tafel „Amerikan. Völker“, Fig. 32.

In jüngster Zeit hat das Land die Aufmerksamkeit durch das Auftreten eines französischen Abenteurers daselbst auf sich gezogen, der es über Nacht in ein „konstitutionelles Königreich“ umwandelte. Derselbe, ein Advokat, Namens Tonneins, geboren um 1820 in Chourgnac bei Périgueux, hatte sich, vor den chilenischen Behörden flüchtig, in das Gebiet der unabhängigen A. begeben, hier durch Ausdauer und Entschlossenheit das Vertrauen der Stämme und die Freundschaft mehrerer Toquis gewonnen und war bei Ausbruch eines Kriegs mit Chile selbst zum Großtoqui erwählt worden. So im Besitz der Regierung, umgab er sich mit einem Ministerium, erließ Gesetze und eine Konstitution nach französischem Zuschnitt und ließ sich selbst als Orélie Antoine I. zum König der A. erklären (1861). Ein neues Frankreich sollte hier entstehen. Auf einer Rundreise jedoch, die er durch die Provinzen machte, um die einzelnen Stämme zum Kampf gegen Chile anzufeuern, wußten sich die Chilenen 4. Jan. 1862 durch einen Überfall seiner Person zu bemächtigen, ließen ihn für verrückt erklären und übergaben ihn dem französischen Konsul in Concepcion, der den Abenteurer nach Frankreich zurück expedierte. Hier erließ er einen fulminanten Protest an die europäischen Mächte, der aber spurlos verhallte. Die A. kehrten rasch zu ihrer alten Verfassung zurück und wählten einen neuen Großtoqui, der sofort den Krieg gegen Chile wieder aufnahm und die Ansiedelungen am Renaico und Biobio mit Mord und Raub verheerte. Von den Chilenen wiederholt, besonders 1868 und 1869, geschlagen, mußte er sich endlich zum Friedensschluß (22. Jan. 1870) verstehen und hatte seine vollständige Unterwerfung erklärt, als „König Orelio“, den man verschollen geglaubt, von Argentinien her durch einen der südlichen Andenpässe mit einer Schar von Gauchos und einer Anzahl französischer Landsleute nach Araukanien zurückkam und von Mula aus sein Reich wieder einrichtete. Der Friede mit Chile wurde widerrufen, der Krieg begann aufs neue, doch mit keinem günstigern Erfolg für die A. als zuvor. Orelio begab sich nach Frankreich zurück, um Napoleon III. für seine Pläne zu gewinnen, sah sich aber durch den deutsch-französischen Krieg und seine Folgen um alle Hoffnungen betrogen. Er gründete in Montpellier ein Blatt für seine Interessen, geriet aber bald in Not und Elend und starb 19. Sept. 1878 in Tourtoirac (Dordogne). Vgl. seine Schriften: „Orélie Antoine I, roi d’Araucanie et de Patagonie; son avènement au trône et sa captivité au Chili“ (1863) und „L’Araucanie“ (Bord. 1878); ferner Smith, The Araucanians (New York 1855); Medina, Los aborijenes de Chile (Santiago 1882).