MKL1888:Alexandrinische Schule

Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Alexandrinische Schule“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 1 (1885), Seite 331
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Alexandrinische Schule. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 1, Seite 331. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Alexandrinische_Schule (Version vom 26.02.2024)

[331] Alexandrinische Schule, gangbare Bezeichnung einer fortlaufenden Reihe von wissenschaftlichen Bestrebungen, welche, durch die Freigebigkeit der Ptolemäer begründet und gefördert, in Alexandria ihren Sitz hatten und eine über 700jährige Geschichte durchliefen (etwa von 300 v. Chr. bis 500 n. Chr.). Die Basis derselben war das Museion, eine großartige Anstalt im Stadtteil Brucheion, worin die Gelehrten als Pensionäre auf öffentliche Kosten den Studien lebten und lehrten; auch noch in der Römerzeit wurden demselben neue Stiftungen zugewiesen. Zum gemeinschaftlichen Gebrauch der Gelehrten dienten zwei ebenfalls von den Ptolemäern angelegte Bibliotheken, die mit dem Museion verbundene und die im Tempel des Serapis im Stadtteil Rakotis aufgestellte, welche vermöge des Eifers, womit man für ihre Vermehrung sorgte, bald alle damals bekannten Büchersammlungen durch ihre Reichhaltigkeit übertrafen. Um 250 v. Chr. betrug die Gesamtzahl der Rollen in der erstgenannten Bibliothek bereits 400,000, die der letztern 42,800 (vgl. Ritschl, Die alexandrinischen Bibliotheken). Als die sechs ersten Bibliothekare glänzen ebenso viele Heroen der Wissenschaft ihrer Zeit: Zenodotos, Kallimachos, Eratosthenes, Apollonios, Aristophanes von Byzanz und Aristarchos. Durch diese und andre günstige Verhältnisse wurde Alexandria schon unter den ersten Ptolemäern der Sammelplatz und Bildungsort der berühmtesten Gelehrten damaliger Zeit und blieb mehrere Jahrhunderte hindurch trotz mancher Störungen ein Hauptsitz aller wissenschaftlichen Thätigkeit. Zwar ging bei der Belagerung Alexandrias durch Julius Cäsar die Museionsbibliothek in Flammen auf; doch wurde der Schade zum Teil durch Antonius ersetzt, welcher der Kleopatra die 200,000 Bände enthaltende Bibliothek der Könige von Pergamon schenkte. Bis zu Ende des 2. Jahrh. n. Chr. war die a. S. die erste der Welt, und die berühmtesten Ärzte, Philosophen, Mathematiker, Astronomen, Philologen und Theologen jener Zeit erhielten dort ihre Bildung. Durch das Christentum kam eine Störung in die heidnisch-griechische Überlieferung; aber der eigentliche Verfall beginnt erst mit dem 3. Jahrh., als Caracalla das reich fundierte Institut des Museions aufhob und die Pensionen der Gelehrten einzog. Verderblicher noch für die altklassische Gelehrsamkeit war die Unduldsamkeit der christlichen Patriarchen, von welchen der fanatische Theophilos 389 unter Theodosius d. Gr. auch das Serapeion mit seinen wissenschaftlichen Schätzen verbrannte. Jedoch wurde aus den geretteten Trümmern eine neue Bibliothek gegründet; auch sammelten sich nach und nach in Alexandria wieder gelehrte Männer, besonders Rechtslehrer und Ärzte, und während die römische Welt in Europa den Barbaren erlag, glimmte hier das Feuer der Wissenschaft weiter. Justinian schloß zwar die heidnischen Philosophenschulen, aber Aristoteles und Platon herrschten fort in den christlichen Schulen. Die letzten Reste griechischer Bildung gingen bei der Eroberung und Zerstörung Alexandrias durch die Araber unter Amru, dem Feldherrn des Kalifen Omar, zu Grunde. Die Bibliothek war schon vorher (vielleicht von Kaiser Theodosius II.) nach Konstantinopel verschleppt worden. Nunmehr trat an die Stelle der griechischen die arabische Wissenschaft: der Kalif Motawakkil rief um die Mitte des 9. Jahrh. in Alexandria eine Akademie ins Leben. Mit dem Sturz der arabischen Herrschaft in Ägypten verlosch auch diese Flamme wieder. (Vgl. Parthey, Das alexandrinische Museum, Berl. 1838; Weniger, Das alexandrinische Museum, das. 1875). – Über die Leistungen der alexandrinischen Schule auf poetischem wie auf wissenschaftlichem Gebiet s. Griechische Litteratur.

Auch die Juden, deren sich zur Zeit des Augustus gegen eine Million in Ägypten befanden, hatten sich in Alexandria schon frühzeitig mit griechischer Sitte, Sprache und Gelehrsamkeit befreundet. Hier entstand die bekannte griechische Übersetzung des Alten Testaments durch die 70 Dolmetschen (s. Septuaginta), hier bildete sich auch eine jüdische Theologie, welche die griechische Philosophie mit den heiligen Büchern des Judentums durch allegorische Auslegung in Übereinstimmung zu bringen suchte (s. Alexandrinische Philosophie). Auf ähnliche Weise entwickelte sich das Christentum in Alexandria, das sich um so unumgänglicher mit der dort gepflegten Philosophie in Verbindung setzen mußte, als eine wissenschaftliche Auffassung und Begründung bei der herrschenden Bildung der christlichen Religion zu ihrer Empfehlung notwendig war. Auf diese Weise entstand hier zuerst durch philosophische Entwickelung der in den historischen Grundlagen des Christentums liegenden Ideen eine christliche Wissenschaft, welche den bedeutendsten Einfluß auf die Kirche ausgeübt hat und unter dem Namen der alexandrinischen Theologie bekannt ist. Ihren Mittelpunkt bildete die Katechetenschule in Alexandria, deren Blüte in das 3. Jahrh. fällt, und in welcher nicht bloß populärer Unterricht für die Neubekehrten erteilt wurde, sondern auch zu Lehrern der Kirche bestimmte Christen ihre Bildung erhielten. Unter den Vorstehern dieser Schule sind Pantänus als der erste uns bekannte, Titus Flavius Clemens und Origenes als die größten und einflußreichsten zu nennen. Bei Pantänus (gest. 202) scheint die christliche Weltanschauung noch in unklarer Mischung mit der griechisch-philosophischen vorzuliegen, während bei seinem Schüler Clemens mehr von christlicher, bei dessen Schüler Origenes sogar von kirchlicher Gnosis (s. d.) geredet werden kann. Außer den schon genannten Männern gehören zu dieser alexandrinischen Schule noch: Dionysios von Alexandria, Gregorios von Neucäsarea („der Wunderthäter“ genannt) und Pamphilos von Cäsarea. Exegetische Forschungslust mit kühner Spekulation verbindend, hat die a. S. den Schwerpunkt des christlichen Glaubens einerseits in spekulativen Bestimmungen und in der Metaphysik der Gottes- und Logoslehre gesucht, anderseits aber dabei stets die sittliche Freiheit des Menschen betont und darin eine echt griechische Erbschaft bewahrt. Origenes und seine Nachfolger galten daher über ein Jahrhundert lang als Vorbilder auch für das wissenschaftlich zunächst unfruchtbare Abendland. Erst allmählich entfernte sich dieses von der so gewiesenen Linie, und in demselben Maß wurde auch im Orient die ältere a. S. teils durch die jüngere, von Athanasius und Cyrillus repräsentierte, wesentlich orthodoxe, teils durch die sogen. antiochenische Schule zurückgedrängt, welch letztere ihr namentlich in Bezug auf streng wissenschaftliches Verfahren überlegen war. Vgl. Vacherot, Histoire critique de l’école d’Alexandrie (Par. 1846–51, 3 Bde.); Kingsley, Alexandria and her schools (Lond. 1854).