Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
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Band 1 (1885), Seite 140141
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Affen. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 1, Seite 140–141. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Affen (Version vom 24.01.2023)

[140] Affen (Simiae, Pithēci, hierzu Tafel „Affen I–III“), oft auch fälschlich Vierhänder (Quadrumăna) genannt, bilden mit dem Menschen die erste Ordnung der Säugetiere, die Primaten (s. d.), und sind unter allen Tieren dem Menschen körperlich und geistig am ähnlichsten. Bei den meisten A. ist der Schädel rundlich und um so menschenähnlicher, je jünger das Tier ist; die Kiefer sind meist hoch, kurz und kräftig, entwickeln sich aber mit zunehmendem Alter so sehr in die Länge, daß der Gesichtswinkel (s. d.) bei manchen Arten nur 60°, bei andern nur 45° oder sogar nur 30° beträgt, während er beim Menschen 80–85° ausmacht. Die Nase geht ohne Absatz in die Lippe über und tritt nur bei Semnopithecus nasica beträchtlich aus dem Gesicht hervor. Die Zähne nähern sich denen des Menschen, doch findet sich niemals eine vollständig geschlossene Zahnreihe, vielmehr ragen die Eckzähne auch bei den höchsten A. stark hervor, und zwischen ihnen und den benachbarten Zähnen ist stets in der Art eine Lücke vorhanden, daß beim Schluß der Kiefer die Eckzähne nicht auf-, sondern nebeneinander greifen. Backenzähne 20 oder 24 (s. unten). Die Augenhöhlen sind stets geschlossen, die mittelgroßen oder auch kleinen Augen vorwärts gerichtet und einander mehr genähert als beim Menschen. Das äußere Ohr ist meist nur von mäßiger Größe, bald dem menschlichen Ohr einigermaßen ähnlich, bald mehr zugespitzt, aber stets ohne Ohrläppchen. Der Hals ist kurz, dünn und rund; der Rumpf ist gestreckt, an der Brust mit zwei Zitzen versehen, aber in den Weichen stark eingeschnürt. Das bezeichnendste Merkmal der ganzen Gruppe liegt in der Bildung der Hände und Füße. An beiden nämlich läßt sich gewöhnlich der innerste Finger, resp. die innerste Zehe den andern vier gegenüberstellen; so vermögen die A. nicht nur mit den Händen, sondern auch mit den Füßen zu greifen. Doch bleibt der Fuß nach seinem ganzen Bau ein Fuß und ist keineswegs eine Hand, so daß man auch die A. nicht Vierhänder nennen darf, sondern sie als Säugetiere mit zwei Händen und zwei Greiffüßen bezeichnen muß. Einigen fehlt der Daumen völlig oder ist nur als Stummel vorhanden oder nicht den andern Fingern gegenüberstellbar. Finger und Zehen tragen zum Teil Krallen, zum Teil Nägel (s. unten). Die vordern Gliedmaßen sind oft länger als die hintern, welche ebenso wie das Becken und die Wirbelsäule nicht zum aufrechten Gang eingerichtet sind. Die Schenkel sind zu dünn, und ihre Muskulatur ist zu schwach, als daß sie auf die Dauer den Körper zu tragen vermöchten. Daher nehmen die A. nur selten eine aufrechte Stellung an und vermögen sich nur mit Hilfe eines Stocks darin zu erhalten. Der Gang der höhern A. auf dem Boden ist ein unbehilflicher, weil sie mit dem Außenrand der Füße auftreten. Ihre natürlichste Ortsbewegung ist das Klettern, und hierin werden sie kaum von einem andern Tier übertroffen. Viele bedienen sich dabei ihres langen Wickel- oder Greifschwanzes und können mit ihm sogar kleine Gegenstände ergreifen und zu sich heranziehen. Das Haarkleid der A. bedeckt den ganzen Körper, mit Ausnahme einzelner Stellen des Gesichts, der innern Handfläche und häufig des Gesäßes, und neigt sich oft zu Färbungen, die sonst bei Säugetieren seltener vorkommen. Einzelne Arten sind durch besondere natürliche Frisuren und durch Bärte ausgezeichnet. Im innern Bau stehen die A. dem Menschen sehr nahe. Der Schädel gleicht dem unsrigen in vielen Punkten, ist aber bei den Erwachsenen meist durch starke Muskelleisten und das Vorspringen des Kieferteils tierischer. Das Gehirn steht dem des Menschen an Masse relativ nach und hat auch im allgemeinen einfachere Windungen. Die Wirbelsäule besteht aus 7 Hals-, 12 bis 14 Rippen-, 3–7 Lenden-, 2–5 Kreuzbein- und 3–33 Schwanzwirbeln. Das Schulterblatt ist breit, das Schlüsselbein sehr stark, das Becken schwach. Die Muskulatur ist bei vielen Arten eine äußerst kräftige. Der Tastsinn spielt eine sehr bedeutende Rolle; so sind die Spitzen der Finger und des Greifschwanzes mit sehr feinem Gefühl begabt. Auch der Geruchssinn ist hervorragend entwickelt. Die seelischen Thätigkeiten der A., vor allen ihr Talent zu geschickter Nachahmung, sind groß und wurden von jeher hoch angesehen; ja, ganze Völker der niedersten Kulturstufen haben, durch den menschenähnlichen Körperbau der A. verleitet, in ihnen Waldmenschen gesehen, welche nur aus Scheu vor der Arbeit die Sprachfähigkeit verleugneten. Die A. leben vorzugsweise von Früchten, doch auch von Insekten; in der Gefangenschaft gewöhnen sie sich meist an die Speisen des Menschen. Sie bringen die Nahrung mit den Händen oder dem Greifschwanz zum Munde. Das Weibchen wirft in der Regel nur Ein Junges. Unter den A. finden sich Monogamisten und Polygamisten; jene leben vereinzelt, diese bilden aus Familien bestehende kleinere oder größere Scharen, welche das älteste Männchen anführt. Der Aufenthalt der A. ist auf die heiße Zone beschränkt und überschreitet nirgends den Verbreitungskreis der Palmen; am nördlichsten wohnen die Makaks (Inuus ecaudatus) von Nordafrika und Gibraltar. Meist leben sie auf [141] Bäumen, und manche berühren den Boden nur im Tode. Die Stimme ist nur bei einigen kleinern Arten sanft, sonst schreiend oder grunzend.

Die lebenden A. (25 Gattungen mit über 230 Arten; wegen der fossilen s. unten) bringt man in 3–5 Familien unter. Die früher gleichfalls hierher gerechneten Halbaffen (Prosimii) erhebt man jetzt meist zu einer eignen Ordnung.

1. Familie: Krallenaffen (Arctopitheci oder Hapalidae). Niedliche Äffchen mit meist dichtem Wollpelz, langem, bebuschtem Schwanz und rundlichem Kopf, platter Nase mit seitlichen Nasenlöchern und vorstehenden, oft mit Haarpinseln geschmückten Ohren. Finger mit spitzen Krallennägeln, nur die große Zehe mit Plattnagel; Daumen den andern Fingern sehr wenig oder gar nicht entgegensetzbar. Oben wie unten jederseits 5 Backenzähne (3 Prämolaren, 2 Molaren) mit spitzigen Höckern. Sehr lebhaft, aber furchtsam, meist wenig größer als ein Eichhörnchen; leben gesellig auf Bäumen von Früchten und Insekten, leicht zähmbar, ihr Fleisch eßbar. In den tropischen Wäldern Südamerikas. Nur die Gattung Hapale (s. Tafel III) mit über 30 Arten; hierher unter andern H. Jacchus, Seidenaffe (s. d.), H. leonina, Löwenäffchen, etc.

2. Familie: Breitnasen (Platyrrhini oder Cebidae), mit sehr breiter Nasenscheidewand und daher seitlich gerückten, weit voneinander getrennten Nasenlöchern; oben und unten jederseits 6 Backenzähne (3 Prämolaren, 3 Molaren). Alle Finger mit Nägeln; Daumen nie vollkommen gegenstellbar, fehlt auch wohl ganz. Der Schwanz ist gewöhnlich sehr lang, nur selten zum Greifen geeignet. Bei mehreren Arten an dem Zungenbein eine weite Knochenblase, die mit dem Kehlkopf in Verbindung steht und die Stimme ungemein verstärkt. Namentlich ist dies bei den gesellig lebenden Brüllaffen (Mycetes) der Fall, deren unerträgliches Geheul die Reisenden als eine wahrhafte Plage schildern. Die mit einem Wickelschwanz versehenen Arten schwingen sich mittels desselben nicht nur von Ast zu Ast, sondern hängen sich auch aneinander, indem sie lange Ketten bilden. Ausschließlich amerikanische A., daher auch A. der Neuen Welt genannt. Meist kleiner als die A. der Alten Welt, weniger wild und lebhaft und daher leichter zu zähmen. Die zehn Gattungen mit etwa 80 Arten bringt man in zwei oder mehrere Unterfamilien: a) mit schlaffem Schwanz (Pitheciina), unter andern die Gattungen Pithecia, Schweifaffe (s. d.), und Nyctipithecus, Nachtaffe (s. d.); b) mit Greif- oder Wickelschwanz (Cebina), unter andern die Gattungen Mycetes, Brüllaffe (s. d.), und Cebus, Rollschwanzaffe (s. d.). S. Tafel „Affen III“.

3. Familie: Schmalnasen (Catarrhini), mit schmaler Nasenscheidewand und daher dicht nebeneinander gelegenen Nasenlöchern. Dem Menschen am ähnlichsten. Gleich ihm im Ober- und Unterkiefer mit jederseits 2 falschen (Prämolaren) und 3 echten (Molaren) Backenzähnen; die Schneidezähne stehen aber nicht wie bei ihm senkrecht, sondern schräg nach vorn, auch ragen die Eckzähne stark hervor. Das Gesicht meist dünner und kürzer behaart als der übrige Körper, so daß sich häufig Schnurr-, Kinn- und Backenbärte unterscheiden lassen. Gliedmaßen lang und dünn; die Füße meist weit vollständiger entwickelt als die Hände, an denen der Daumen zuweilen nur als kleiner Stummel vorhanden ist; Finger und Zehen sämtlich mit Nägeln. Schwanz niemals stark ausgebildet, nie ein Greif- oder Wickelschwanz, häufig kurz oder gar nicht vorhanden. Oft sind Gesäßschwielen vorhanden, d. h. nackte, schwielige Stellen an den Hinterbacken, welche bei der mangelnden Muskelbekleidung der Sitzknorren das Hocken auf dem Hintern erleichtern. Manche Gattungen mit Backentaschen. Die Schmalnasen heißen nach ihrer Verbreitung auch A. der Alten Welt. Sie sind in der Jugend sehr gelehrig, klettern sehr gut und gehen mit Hilfe eines Stocks aufrecht. Die ältern Individuen, deren Kopf durch das stärkere Wachstum der Kinnladen oft von dem der Jungen sehr verschieden ist, haben eine erstaunliche Muskelkraft und verteidigen sich kühn mit Stöcken und Steinen. Drei Unterfamilien: a) Die Hundsaffen (Cynopithecina), zum Teil mit Hundegesichtern (d. h. mit hervorragender Schnauze), Backentaschen und Schwänzen, alle mit Gesäßschwielen. Sieben Gattungen mit fast 70 Arten; hierher unter andern Cynocephalus, Pavian (s. d.), Cercopithecus, Meerkatze (s. d.), und Inuus, Makak (s. d.). b) Die Schlankaffen (Semnopithecina), mit langen Schwänzen und runden Gesichtern, ohne vorspringende Schnauze und Backentaschen. Nur die zwei Gattungen (mit etwa 40 Arten) Colobus, Stummelaffe (s. d.), und Semnopithecus, Schlankaffe (s. d.). c) Die menschenähnlichen A. oder Anthropomorphen (Simiina oder Anthropomorphae), alle ohne Backentaschen und Schwanz, fast alle ohne Gesäßschwielen. Nur die vier Gattungen (mit 12 Arten) Troglodytes, Gorilla (s. d.), Simia, Schimpanse (s. d.), Pithecus, Orang-Utan (s. d.), und Hylobates, Gibbon (s. d.). S. Tafel „Affen I und II“.

Was die fossilen Affenreste anlangt, so zweifelte man lange an deren Vorhandensein und war geneigt, anzunehmen, daß vor dem Menschen auch keine A. auf der Erde gewesen seien. Später aber hat man sie, freilich sparsam, in den Tertiärgebirgen Europas, Asiens und Amerikas aufgefunden. Nur Neuholland entbehrt derselben wie der lebenden A. Ihre Formen schließen sich an die der Jetztzeit an; die Alte Welt beherbergte nur Schmalnasen, die Neue nur Breitnasen. In den Knochenhöhlen Brasiliens hat man neben Resten von Hapale, Mycetes, Cebus etc. auch eine ausgestorbene Form von bedeutender Größe, Protopithecus, gefunden. In der ältesten Tertiärzeit bewohnte ein Makak das südöstliche England und Frankreich, doch scheint derselbe seinen indischen Gattungsgenossen näher gestanden zu haben als den jetzt auf dem Felsen von Gibraltar hausenden. In der mittlern Tertiärzeit fanden sich orangartige A. (Pliopithecus und Dryopithecus, s. Tafel „Tertiärformation II“) am nördlichen Fuß der Pyrenäen sowie am Pentelikon in Griechenland. Vgl. Huxley, Zeugnisse für die Stellung des Menschen in der Natur (deutsch von Carus, Braunschw. 1863); Darwin, Die Abstammung des Menschen (deutsch von Carus, 4. Aufl., Stuttg. 1882); Audebert, Histoire naturelle des singes (Par. 1800); Vrolik, Quadrumana (Lond. 1847); Schlegel, Monographie des singes (Leid. 1876).

[Ξ]

Affen I (Anthropomorphen).
Orang-Utan (Pithecus satyrus). (Art. Orang-Utan.)

Schimpanse (Troglodytes niger). (Art. Schimpanse.)

[Ξ]

Affen II (Affen der Alten Welt).
Hulman (Semnopithecus entellus). 1/10. (Art. Schlankaffe.)

Rußfarbene Meerkatze (Cercopithecus fuliginosus). 1/6. (Art. Meerkatze.)

Gibbon (Hylobates Lar.). 1/8. (Art. Gibbon.)

Wanderu (Macacus Silenus). 1/10. (Art. Makako.)

Mantelpavian (Cynocephalus Hamadryas). 1/8. (Art. Pavian.)

[Ξ]

Affen III (Affen der Neuen Welt).
Brüllaffe (Mycetes niger). 1/5. (Art. Brüllaffe.)

Scharlachgesicht (Brachyurus calvus). 1/7. (Art. Kurzschwanzaffe.)

Röteläffchen (Hapale Rosalia). 1/4. (Art. Seidenaffe.)

Schweifaffe (Pithecia Satanas). 1/5. (Art. Schweifaffe.)

Klammeraffe (Ateles Bartlettii). 1/6. (Art. Klammeraffe.)

Kapuzineraffe (Cebus capucinus). 1/6. (Art. Rollschwanzaffe.)


Jahres-Supplement 1890–1891
Band 18 (1891), Seite 56
korrigiert
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[5] Affen. Fossile menschenähnliche A. sind bisher nur in vereinzelten Bruchstücken, bestehend in einzelnen Zähnen, Unterkiefern, Stücken von Oberarm und Schenkel, und zwar in Süddeutschland, Frankreich und der Schweiz gefunden worden, und es hat sich an jedem dieser Funde begreiflicherweise ein lebendiges Interesse geknüpft, weil man in ihnen die Brücke zwischen Mensch und Tier gefunden zu haben glaubte. Zwei Arten ließen sich bisher unterscheiden, die beide den indischen Gibbons (Hylobates) nahezustehen scheinen. Der eine (Pliopithecus antiquus) ist in einem 1857 von Lartet in den Süßwassermergeln von Sansan (Departement Gers) gefundenen Unterkiefer mit 16 Zähnen und mehreren noch im Knochen steckenden Oberzähnen aus der Braunkohle von Elgg in der Schweiz bekannt und den lebenden Gibbon-Arten so ähnlich, daß mehrere Paläontologen ihn dieser Gattung einordneten. Ein größeres Interesse knüpfte sich an eine Anzahl von etwa einem Dutzend Backenzähnen, welche die Erzwäscher in den neogenen Bohnenerzen am Mong bei Salmendingen (Schwäbische Alb) gefunden hatten, und die von den ersten Paläontologen und Anatomen ganz unzweifelhaft für Zähne von Menschen gehalten wurden, deren Dasein dadurch in die jüngere Tertiärzeit gerückt worden wäre. Nun erhielt aber Lartet 1856 aus dem mittlern Miocän bei St. Gaudens (Obergaronne) am Nordrande der Pyrenäen einen fast vollständigen Unterkiefer mit derartigen Zähnen, dessen genauere Untersuchung ergab, daß es sich um einen wirklichen A. in der Größe zwischen Orang-Utan und Schimpanse handle, der nach seinem Finder den Namen Dryopithecus Fontani erhielt und als der menschenähnlichste aller bekannten lebenden und fossilen A. galt. Er zeichnete sich außer durch die sehr menschenähnlichen hintern Backenzähne namentlich noch durch das steil abfallende Kinn aus, welches unter der Annahme, daß die Vorderzähne nicht so schräg nach vorn, wie bei andern A., gestanden hätten, auf ein schöneres menschenähnliches Profil schließen ließ als bei den andern Anthropoiden. Man knüpfte an diesen Fund die weitgehendsten Schlüsse, und Albert Gaudry nahm 1878 keinen Anstand, zu vermuten, daß diesem Tier die Kohlenreste und behauenen Feuersteine zuzuschreiben seien, welche der Abbé Bourgeois in miocänen Schichten gefunden haben wollte. Man wird dadurch an die angeblich von Emin Pascha beobachteten und in Stanleys neuem Buch geschilderten Schimpansen erinnert, die ihren Weg durch den dichten nächtlichen Wald mit – brennenden Fackeln suchen sollen!

Gaudry hat seine gute Meinung vom Dryopithecus aber beträchtlich geändert, seit 1889 ein zweiter vollständigerer Unterkiefer desselben A. auf der gleichen Fundstätte ans Licht gebracht und ihm zur Untersuchung übergeben wurde. Er findet nun, daß das Gesicht bei der bedeutenden Länge des Unterkiefers durchaus nicht negerähnlich gewesen sein könne (wie Lartet behauptet hatte), daß das Gebiß ebenso stark hervorragte wie beim Gorilla und sogar stärker als beim Orang-Utan und Schimpansen und also auch des niedrigststehenden Menschen. Von besonderem Interesse sind seine Bemerkungen über die Enge des Raumes, der in diesem Unterkiefer für die Zunge übrigblieb, woran er Schlüsse über die Entwickelung des Sprachvermögens knüpft. Beim Menschen kann sich die Zunge beträchtlich, sowohl nach der Breite als nach der Länge, ausdehnen, weil die gebogenen Unterkiefer zwischen den Backenzahnreihen beträchtlichen Raum lassen, und weil die Kinnwand nicht nur sehr dünn ist, sondern sich unten nach vorn vorstreckt, wo sie den für den Menschen so charakteristischen Kinnhöcker bildet. Dadurch erhält die Zunge nach beiden Seiten wie nach vorn einen sehr freien Spielraum, namentlich wenn sie sich nach unten krümmt, was mit der hohen Ausbildung des Sprachvermögens bei höhern Rassen zusammenzuhängen scheint, denn bei tiefer stehenden Menschenrassen bemerkt man, daß sowohl der Raum zwischen den hintern Backenzähnen etwas weniger breit ist, als auch das Kinn weniger Raum gewährt, wenngleich der Unterschied nicht bedeutend ist.

Beim Schimpansen ist das Kinn im untern Teile nach hinten (statt nach vorn, wie beim Menschen) geneigt und die Backenzahnreihen sind parallel, statt nach außen gebogen zu sein, so daß der Zunge weniger Raum bleibt, sich nach vorn zu verlängern und hinten in die Breite zu strecken. Beim Orang-Utan und Gibbon ist der Breitenraum noch beschränkter, und beim Gorilla kommt eine bedeutende Verdickung der Kinnwandung hinzu, um den Längsraum weiter zu verkürzen. Nun liegen diese Verhältnisse beim Dryopithecus noch ungünstiger als selbst beim Gorilla, [6] denn der Raum zwischen den Unterkieferästen ist ebenso eng wie bei diesem, die Kinnwand aber noch dicker und nach hinten stark geneigt, so daß sich der Befund sogar dem bei nichtanthropoiden A. nähert. Da nun das Sprachvermögen und die Vorbereitung der Organe zu demselben als das wichtigste Merkmal der Erhebung des Menschen über das Tier angesehen werden müssen, so muß man nach Gaudry zugeben, daß in diesem Punkte der höchststehende unter den fossilen Anthropoiden weiter vom Menschen entfernt steht als die heute lebenden Anthropoiden, Ergebnisse, die sich freilich nur schwer mit den Folgerungen der frühern Untersuchung an derselben Tierart vereinigen lassen. Es wird dies dadurch erklärt, daß der Lartetsche Kiefer einem jungen Individuum angehört habe, bei dem der Prognathismus noch nicht so entwickelt war wie bei dem jetzt gefundenen vollentwickelten, und es ist bekannt, daß auch die jetzt lebenden Anthropoiden in der Jugend viel menschenähnlicher sind als im Alter. Daraus hätte man aber schließen müssen, daß dies für die ausgestorbenen Anthropoiden überhaupt anzunehmen sei, nicht bloß für ihre Jugend, und es ergibt sich hier ein noch ungelöster Widerspruch mit der Theorie, der sich zum Teil dadurch löst, daß die ältern Menschenrassen ebenfalls ein wenig vorragendes Kinn zeigen.