Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Aberdeen“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 1 (1885), Seite 3132
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Aberdeen. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 1, Seite 31–32. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Aberdeen (Version vom 14.04.2021)

[31] Aberdeen (spr. ebberdihn), Hauptstadt der nach ihr genannten schott. Grafschaft, liegt nördlich an der Mündung des Dee und besteht aus der schönen Neustadt, meist mit granitenen Häusern, und der nördlich gelegenen Altstadt, die sich langgestreckt bis zum Don hinzieht. In letzterer liegen die Ruinen einer Kathedrale. Die Bevölkerung (1881: 105,189) ist in raschem Wachstum begriffen. A. hat Leinen-, Baumwoll- und Wollfabriken, mechanische Werkstätten und Gießereien, chemische, Seife-, Gummi- und Guttaperchafabriken, Schiffswerften und vor allem großartige Granit- und Marmorschleifereien. Als Hafenstadt wird A. in Schottland nur von Glasgow und Greenock übertroffen, denn es besaß 1883: 206 Seeschiffe mit 108,128 Ton. Gehalt und 508 Fischerboote, und 2514 Schiffe von 638,897 T. liefen ein. Die Ausfuhr belief sich 1883 auf 73,393, die Einfuhr auf 853,078 Pfd. Sterl. Vorzügliche Hafenanlagen und Eisenbahnverbindung fördern seinen Handel. Zur Ausfuhr kommen außer den industriellen Erzeugnissen [32] der Stadt vornehmlich Heringe (1882: 82,407, 1883: 45,667 T.), dann noch Rindvieh, Lachse, Fische, Eier, Butter, Gemüse u. a. Unter den zahlreichen Wohlthätigkeitsanstalten nimmt das Royal Infirmary den vornehmsten Rang ein. An der Spitze der Bildungsanstalten steht die 1860 inkorporierte Universität (deren ältestes [King’s] College indes schon 1494 gegründet wurde) mit (1883) 871 Studenten. Außerdem bestehen eine Schule für Chemie und Ackerbau, Kunstschule, theologische Schulen der schottischen Freikirche und der Katholiken und zwei Gymnasien.

Aberdeen (spr. ebberdihn), George Hamilton Gordon, vierter Graf, engl. Staatsmann, geb. 28. Jan. 1784 zu Edinburg, wurde auf der Schule zu Harrow, wo Palmerston, Peel und Byron seine Studiengenossen waren, gebildet. Noch vor Beendigung seiner Studien zu Cambridge begleitete er 1801 Lord Cornwallis als Gesandtschaftsattaché nach Paris und kam bei den Unterhandlungen von Amiens mit allen damaligen französischen Notabilitäten in Berührung. Nachdem er 1804 in Cambridge den Magistergrad erworben hatte, bereiste er Griechenland, gründete nach seiner Heimkehr die Athenian Society, beschäftigte sich mit klassischen Studien und veröffentlichte Untersuchungen über die Topographie von Troja sowie über die Prinzipien der Schönheit in der griechischen Baukunst. Wegen ersterer Schrift verspottete Byron, der mit dem Vater Aberdeens verfeindet war, „den gereisten Than, den Athener A.,“ in seinem Spottgedicht „Englische Barden und schottische Kritiker“ ganz grundlos als Genossen des Tempelschänders Elgin. Im J. 1806 ward A. zum schottischen Repräsentativpeer gewählt und hielt sich im Oberhaus zu den Tories; als Redner trat er aber erst 1810 auf, als er die Antwortsadresse auf die Thronrede des Prinz-Regenten beantragte. Im J. 1813 erhielt er von Lord Castlereagh die Mission, Österreich für den Bund gegen Napoleon zu gewinnen. Nachdem er den Schlachten von Bautzen und Lützen beigewohnt, begab er sich nach Wien, schloß den Vertrag zu Teplitz ab, durch den Österreich der Koalition beitrat, und wohnte darauf mit dem großen Heer der Verbündeten den Schlachten von Dresden, Leipzig und Hanau bei. In seiner Behausung starb Moreau, und mit Wilhelm v. Humboldt ritt A. über das Leipziger Schlachtfeld, dessen grausiger Anblick ihn mit einem auch später noch wirksamen Abscheu gegen den Krieg erfüllte. Nachdem er in Neapel Murat bewogen hatte, sich von Napoleons Sache zu trennen, schloß er sich dem in Frankreich einrückenden österreichischen Heer an, vertrat auf dem Kongreß zu Châtillon mit Lord Cathcart und Sir Charles Stewart England, zog mit dem österreichischen Vortrab in Paris ein und unterzeichnete 1. Juni 1814 den Vertrag, welcher die Bourbonen restaurierte; in Anerkennung seiner Verdienste wurde er 18. Juni zum englischen Peer (als Viscount Gordon) und zum Mitglied des Geheimen Rats ernannt. Er widmete sich seitdem mit Vorliebe der Landwirtschaft. Im Oberhaus stimmte er regelmäßig mit den Tories und sprach sich sowohl gegen die Aufhebung der Kornzölle und die Emanzipation der Katholiken als gegen die Anerkennung der südamerikanischen Republiken und die auswärtige Politik Cannings aus. Nachdem er aber 1828 erst als Kanzler des Herzogtums Lancaster, dann als Minister des Äußern in das Ministerium Wellington eingetreten war, half er die Katholikenemanzipation durchsetzen, wie er auch die Julidynastie sofort anerkannte, indem er am Prinzip der unbedingten Nichteinmischung in fremde Angelegenheiten festhielt. Aus demselben Grund war er gegen ein Einschreiten wider Dom Miguel in Portugal. Nachdem er mit Wellington im November 1830 zurückgetreten war, übernahm er 1834 im Ministerium Peel das Portefeuille der Kolonien und wurde, als Peel 1841 abermals an die Spitze der Geschäfte trat, wiederum Minister des Auswärtigen. Allmählich zeigte A. sich, wohl unter dem Einfluß Peels, liberalern Anschauungen zugänglich, machte in dem schottischen Kirchenstreit dem Rechte der Gemeinden Zugeständnisse, unterstützte die Aufhebung der Korngesetze und die wirtschaftliche Reform und war so glücklich, den Streit mit der nordamerikanischen Union wegen des Oregongebiets zu schlichten. Bald nach dem Abschluß des darauf bezüglichen Vertrags trat er mit dem ganzen Ministerium zurück (3. Juli 1846) und lehnte auch das ihm von Lord John Russell angebotene Portefeuille ab. Die auswärtige Politik Palmerstons bekämpfte A., schloß sich aber den Tories nicht wieder an und wies auch einen ihm von Derby angebotenen Sitz in der Regierung im Februar 1852 ab. Nach dessen Rücktritt stellte er sich im Dezember 1852 an die Spitze eines Koalitionsministeriums, dem außer den hervorragendsten Mitgliedern der Mittelpartei Lord John Russell, Lord Lansdowne, Lord Palmerston und Sir William Molesworth angehörten. Unter dieser Verwaltung, die ihren Zweck, zwischen den Parteien zu vermitteln, nicht erreichte, „trieb England (nach Aberdeens eignem Ausdruck) in den Krimkrieg hinein“, den der Premier gern vermieden hätte. Die laue Kriegführung und die geringen Erfolge der britischen Waffen erregten die öffentliche Meinung lebhaft gegen A., und 1. Febr. 1858 wurde das Ministerium durch einen Antrag Roebucks gestürzt. Aberdeens öffentliche Wirksamkeit hatte damit ihr Ende erreicht. Er starb 14. Dez. 1860 in London. A. gehörte zu jener Klasse von Staatsmännern, welche bedeutend sind, ohne glänzend zu sein, ohne Ehrgeiz Erfolge erringen, ohne Beredsamkeit berühmt werden. Auch als er sich schließlich ins Privatleben zurückgezogen hatte, hörte sein Einfluß nicht auf. Sein Verhältnis zur Königin ward mehr das eines Lehrmeisters als eines bloßen Ratgebers; sie blieb ihm stets dankbar, und noch nach seiner Entlassung erhielt er auf ihren besondern Wunsch den Hosenbandorden.