Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Ätōlien“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 2 (1885), Seite 20
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Ätōlien. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 2, Seite 20. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:%C3%84t%C5%8Dlien (Version vom 15.11.2021)

[20] Ätōlien (s. Karte „Altgriechenland“), griech. Landschaft im westlichen Teil des alten Hellas, zwischen Akarnanien, dem Doloperland, Thessalien, dem ozolischen Lokris und dem Meer gelegen, an der Küste und dem Acheloos eben und fruchtbar, im Innern wildes, waldbedecktes Gebirgsland (Tymphrestos, jetzt Veluchi, 2319 m hoch, im N.; Korax, jetzt Vardusia, 2495 m hoch). Als Hauptflüsse sind der Acheloos (Aspropotamo) auf der Westgrenze und der Euenos (Phidari), unter den Seen der Hyria und der Trichonis (See von Vrachori) zu nennen. Die Bergwälder nährten allerlei Wild, die ausgedehnten Weiden im zentralen Seebecken treffliche Pferde. Der Name Ä. stammt von Ätolos, dem Sohn Endymions, her, welcher, aus Elis flüchtend, mit einer Schar Epeer in der südlichen Gegend der Landschaft sich niederließ und die dortigen Leleger, Kureten und Hyanten verdrängte oder seiner Herrschaft unterwarf. Durch feindselige Haltung den Nachbarn gegenüber sowie durch Verschmelzung mit nichtgriechischen Gebirgsvölkern entfremdeten sich in der Folge die Ätolier dem übrigen Hellenentum mehr und mehr, so daß sie in der Blütezeit griechischer Kultur als wilde, nur zu Raubzügen geneigte, von den übrigen Hellenen gemiedene Barbaren erscheinen. Erst in der makedonisch-römischen Periode greifen sie in die Geschichte Griechenlands thätig mit ein. Städte gab es wenige; die wichtigsten waren: Thermon, Kalydon, Pleuron und Chalkis. – Im heutigen Königreich Griechenland bildet Ä. mit dem westlich angrenzenden Akarnanien (s. d.) einen Nomos.

Die Ätolier zerfielen von alters her in einzelne kleine Gemeinwesen, die nicht durch einen fortdauernden Bund zusammengehalten wurden. Die zerstreuten Dorfgemeinden Ätoliens einigten sich erst zur Zeit des Lamischen Kriegs (323 v. Chr.) zu dem Ätolischen Bunde, dessen Mitglieder sich zu Anfang des Herbstes in Thermon zum Panätolion versammelten. Mit den Achäern stritt der Bund fast ununterbrochen und benutzte dies, vereint mit Sparta, zu Raubzügen in den Peloponnes. Philipp von Makedonien stiftete endlich ein Bündnis gegen die Ätolier und zwang sie 217 zum Frieden von Naupaktos (s. Bundesgenossenkriege). Doch verbündeten sie sich schon 211 gegen Philipp mit den Römern. Aber von diesen im Stiche gelassen, mußten sie (205) Frieden schließen. Nur zögernd schlossen sie sich den Römern an (199), als diese wieder Krieg gegen Philipp begonnen hatten. Als aber der römische Feldherr T. Quinctius Flamininus 199 den Achäischen Bund für sich gewann und 197 mit dem makedonischen König Frieden schloß und die Ätolier sich in ihrer Hoffnung auf die Herrschaft in Griechenland getäuscht sahen, fielen sie von den Römern 194 ab, gewannen außer Phokis und Lokris auch Ambrakia in Epeiros und mit Lamia den Eingang in Thessalien und schlossen sich Antiochos von Syrien an, als derselbe 192 in Griechenland landete, um den Krieg gegen die Römer zu beginnen. Während dieser aber zu Chalkis auf Euböa schwelgte, bemächtigten sich die Römer Thessaliens und schlugen Antiochos bei den Thermopylen (191). Entmutigt suchten die Ätolier um Frieden nach; da aber die Römer unbedingte Unterwerfung verlangten, setzten sie den Kampf fort. Der Prokonsul Acilius Glabrio, dann der Konsul M. Fulvius griffen sie in ihrem eignen Land an. Sie verteidigten sich mit äußerster Standhaftigkeit, unterwarfen sich aber auf die Kunde von Antiochos’ Niederlage bei Magnesia und nach der Einnahme Ambrakias den von den Römern auferlegten Bedingungen. Sie mußten alle Städte, welche ihnen die Römer seit Flamininus abgenommen, aufgeben, 500 Talente zahlen, durften nur mit den Römern zusammen Krieg führen, Geiseln stellen etc. Der Ätolische Bund war damit vernichtet (189). Elend herrschte fortan im Land, gesteigert durch innere Unruhen, die von den erkauften Agenten Roms veranlaßt waren. Zuletzt sicherten sich die Römerfreunde durch einen schändlichen Gewaltstreich die Herrschaft. Nach Besiegung des Perseus, den die Ätolier nicht unterstützt hatten, ließen nämlich Lykiskos und Tisippos eine Versammlung patriotisch gesinnter Ätolier von römischen Soldaten umringen, worauf 550 der Angesehensten getötet, andre aber aus dem Land vertrieben und ihrer Güter beraubt wurden (167). Ä. teilte fortan Griechenlands Geschicke und bildete einen Teil der Provinz Achaia. Späterhin wurde mit Ätoliern die von Augustus auf dem Vorgebirge Actium gegründete Stadt Nikopolis bevölkert, während ein andrer bedeutender Teil nach Amphissa übersiedelte. Das entvölkerte Land lag verödet bis zu Konstantins Zeit, der es zur Provinz Neu-Epirus schlug und unter die Verwaltung des Präfekten von Illyricum stellte. Vgl. Brandstäter, Die Geschichten des ätolischen Landes etc. (Berl. 1844).