Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
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Band 1 (1885), Seite 717718
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Ära. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 1, Seite 717–718. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:%C3%84ra (Version vom 28.12.2023)

[717] Ära (v. lat. aes, also ursprünglich Pluralform, später aber als Singularform gebraucht in der Bedeutung „Grundzahl, Grundeinheit“ bei Rechnungen und Messungen), eigentlich der durch irgend ein merkwürdiges Ereignis bezeichnete Zeitpunkt, von welchem an man in der Chronologie die Jahre zählt; dann jede Zeitrechnung, bei welcher die Jahre von einem solchen Termin an fortgezählt werden. Man kann drei Arten von Zeitrechnungen unterscheiden, gelehrte, bürgerliche und kirchliche, welche zuweilen bei demselben Volk zugleich im Gebrauch sind. Die erstern werden ausschließlich von Gelehrten gebraucht und wechseln daher mannigfach. In der Heiligen Schrift finden sich nur vereinzelte Spuren einer eigentlichen Ä., wie sich die Völker des Altertums überhaupt einer solchen nicht zu bedienen pflegten und z. B. die Römer, selbst als sie bereits eine feste Ä. hatten, nicht nach Jahren Roms rechneten, sondern das Jahr mit den Namen der in demselben regierenden Konsuln, später unter Hinzufügung der Regierungsjahre des Kaisers bezeichneten. In den historischen und prophetischen Büchern des Alten Testaments finden sich erst in den später entstandenen Stücken fortlaufende Jahreszählungen von einem feststehenden Termin an. Im Pentateuch ist bis auf Jakob die Chronologie ganz mit der Genealogie verbunden. Nach Einführung des Königtums rechneten die Israeliten nach den Regierungsjahren der Könige und, nachdem sie unter fremdes Joch gekommen, nach denen der fremden Herrscher, z. B. der babylonischen und der persischen. Auch im Neuen Testament findet sich an einigen Stellen eine ähnliche Zeitrechnung (Luk. 2,1; Matth. 2,1). Selten datierte man nach epochemachenden Nationalbegebenheiten, wie nach dem Auszug aus Ägypten und nach dem Anfang des babylonischen Exils. Später nahmen die Juden als syrische Unterthanen die Ä. der Seleukiden an, die mit der Gründung des Seleukidenreichs durch Seleukos Nikator 312 v. Chr., wahrscheinlich mit dem Herbstäquinoktium dieses Jahrs, beginnt. Dieselbe blieb bei den Juden, Arabern und Syrern noch lange nach Christi Geburt im Gebrauch. Die Juden, welche sich derselben unter der syrischen Herrschaft bei allen gerichtlichen Handlungen bedienen mußten (daher der Name aera contractuum, Ä. der Verträge), gewöhnten sich so sehr daran, daß die später eingeführte, mit der Befreiung Jerusalems durch den Makkabäer Simon beginnende Ä. der Hasmonäer nicht recht in Aufnahme kam. Das erste Jahr Simons wird dem Jahr 170 der seleukidischen Ä., also dem Jahr 143 v. Chr., gleichgesetzt. Die Bücher der Makkabäer nennen die seleukidische Ä. die der griechischen Herrschaft, weil das Reich der Seleukiden als Fortsetzung des griechisch-makedonischen Reichs Alexanders d. Gr. angesehen wurde, gebrauchen sie aber nicht in übereinstimmender Weise. Von den vorchristlichen Ären nennen wir noch die vornehmlich in Ägypten übliche Philippische, auch die Ä. Alexanders oder die von Edessa genannt, die mit dem Todesjahr Alexanders d. Gr. oder der Thronbesteigung seines Nachfolgers Philippos Arrhidäos 12. Nov. 323 beginnt; die Actische, nach der Schlacht bei Actium genannt, die mit der Eroberung Ägyptens durch Octavianus 29. Aug. 30 beginnt, und die schon erwähnte römische Konsularära, die Angabe der Jahre nach den Namen der beiden jährlich neugewählten Konsuln, deren Reihenfolge in besondern Kalendern, den sogen. Fasten, verzeichnet wurde; sie beginnt mit der Vertreibung der Könige 509 und blieb als bürgerliche Zeitrechnung bis zur Abschaffung des Konsulats unter Kaiser Justinian im Gebrauch.

Auch nach Entstehung und Ausbreitung der christlichen Kirche bediente man sich nicht nur im bürgerlichen Verkehr, sondern auch in der Litteratur noch lange der früher gebräuchlichen Zeitrechnungen. So behielten die Christen des Orients die seleukidische Ä. bei, die bei den syrischen Christen noch jetzt neben der gewöhnlichen christlichen im Gebrauch ist; in Alexandria aber kam die Diokletianische oder die Ä. der Märtyrer in Gebrauch, die mit dem ersten Jahr des Kaisers Diocletianus, unter welchem viele Christen den Märtyrertod erlitten, genauer dem 1. Thoth (29. Aug.) des Jahrs 284 n. Chr., beginnt. Dieselbe war in Ägypten bis zum Eindringen der Araber üblich, und die christlichen Kopten bedienen sich derselben sowie der altägyptischen Monate noch jetzt, ebenso die äthiopischen Christen, nur daß diese sie mit dem Jahr 276 anfangen, weil sie die Geburt Christi acht Jahres später als Dionysius (s. unten) setzen. Die christlichen Armenier rechnen vom Jahr 551 an, in welchem der Patriarch Moses ihre Festordnung reformierte. Bei den christlichen Völkern Europas hat die Zeitrechnung nach Jahren Christi fast allgemein Eingang gefunden, so daß diese Zeitrechnung jetzt mit Recht die gemeine christliche Ä. (aera vulgaris) genannt wird. Im römischen Reich wurde zwar noch geraume Zeit nach Erhebung des Christentums zur Staatsreligion die Rechnung nach den Regierungsjahren der Kaiser und Konsuln fortgeführt, und noch 537 gebot der Kaiser Justinianus, daß in allen Urkunden das Jahr des Kaisers, die Namen der Konsuln sowie die Indiktion, auch Monat und Tag angegeben werden sollten. Allein abgesehen davon, daß schon 541 der letzte Konsul ernannt wurde, machte sich unter den christlichen Völkern das Bedürfnis einer gemeinsamen Ä. immer fühlbarer. Um diese Zeit hatte der römische Abt Dionysius in seiner Ostertafel (525) statt der bei den Alexandrinern gebräuchlichen Diokletianischen Ä. die Jahre zuerst von der Fleischwerdung des Herrn (ab incarnatione domini) gezählt. Das erste Jahr dieser Dionysischen Ä. läuft vom 1. Jan. bis 31. Dez. 754 nach Gründung Roms nach Varro (4714 der julianischen Periode). Die Geburt Jesu setzte Dionysius auf den 25. Dezember d. J., indem er nach dem Sprachgebrauch der Kirchenväter unter der Incarnatio nicht die Geburt (nativitas), sondern die Menschwerdung Christi im Schoß der Maria oder die Verkündigung Mariä verstand. So entstand die gemeine christliche Ä., die allmählich weitere Verbreitung fand, vornehmlich durch Bedas Einfluß, welcher sie in seiner Ostertafel gebrauchte, und das Ansehen Karls d. Gr., welcher zuerst Urkunden nach ihr datierte. Bei ihrer Anwendung pflegte man mehrere Jahrhunderte lang zu dem Jahr Christi (annus incarnationis, auch a. circumcisionis, mit Bezug auf den Jahresanfang am 1. Jan., wo die Beschneidung Christi gefeiert wurde, sowie a. nativitatis, gratiae genannt) noch die chronologischen Merkmale des Jahrs hinzuzufügen, [718] wie sie die Ostertafeln enthielten. Im 10. Jahrh. war die christliche Ä. schon ziemlich weit verbreitet. In Spanien aber, wo man eine eigne Ä. hatte, die sogen. spanische, die von 716 der Stadt Rom (38 v. Chr.) an zählt, nahm man sie erst weit später an. Diese nationale Ä. kommt in Aragonien vor bis 1350, in Valencia bis 1358, in Kastilien bis 1383 und in Portugal bis 1420. Von den griechischen Christen haben die Russen auf Befehl Peters d. Gr. 1700 mit dem Jahresanfang im Januar zwar die gemeine christliche Ä. angenommen, aber bekanntlich den alten julianischen Kalender beibehalten.

Auch nach allgemeiner Annahme dieser Ä. fehlte noch eine gleichmäßige Zeitrechnung, denn man hatte noch lange Zeit sehr verschiedene Jahresanfänge; vgl. Neujahr. Erst 1691 setzte Papst Innocenz XII. fest, daß das Jahr mit dem 1. Januar beginnen solle, während bis dahin die Päpste in ihren Bullen und Breven gewöhnlich den 25. Dezember als Jahresanfang gebraucht hatten. Teils schon vorher, teils später wurde dieser Jahresanfang allgemein üblich. Vorher hatten nicht nur verschiedene Völker, sondern selbst einzelne Regenten und einzelne Städte verschiedene Jahresanfänge, die man kennen muß, um ihre Chronologie zu verstehen. Bei dem hohen Wert einer gemeinsamen festen Ä. für chronologische Orientierung, und da nach der Dionysischen Ä. sich alle Ereignisse vor und nach der Geburt Christi chronologisch leicht anordnen lassen, so ist es gewiß das Beste, sie beizubehalten, obwohl jetzt feststeht, daß Dionysius die Geburt Jesu um mindestens 4–5 Jahre zu spät angesetzt hat. Denn nach Matth. 2, 1 ff.; 2, 22; Luk. 1, 5 ist Jesus noch unter der Regierung Herodes’ d. Gr. geboren, welcher kurz vor dem Passah des Jahres 750 nach Roms Erbauung gestorben ist.

Eine andre Ä., die nach Jahren der Welt, fand das Christentum bereits vor. Sie war besonders bei den Juden gebräuchlich (der jüdische Historiker Josephus zählt nach ihr in seiner Archäologie) und den Schriften des Alten Testaments entnommen. Diese Weltära ist aber wenig zweckmäßig, denn man hat mehrere Hundert Angaben über den Anfang dieser Ä., von denen die größte 6984, die kleinste 3483 Jahre von Erschaffung der Welt bis auf Christus zählt, welche Verschiedenheit besonders daher rührt, daß der hebräische und der samaritanische Bibeltext, die Texte der Septuaginta und der Vulgata 1. Mos. 5 und 11, rücksichtlich der Zahlen bis zur Sintflut und von da an bis zum 70. Jahr Tharahs sehr voneinander abweichen und auch über die spätere Chronologie des Alten Testaments die Ansichten sehr auseinander gehen. Julius Africanus zählte bis auf Christus 5502, Eusebius, Beda und das römische Martyrologium 5199 Jahre; nach Scaliger und Calvisius ist das erste Jahr unsrer christlichen Ä. das 3950., nach Kepler und Petavius das 3984., nach Usher das 4004. der Weltära. Daher ist die gemeine christliche Ä. jeder Weltära weit vorzuziehen. Doch bedienen sich die äthiopischen Christen neben der Diokletianischen Ä. noch der des ägyptischen Mönchs und Chronographen Anianus, welche die Inkarnation acht Jahre später als Dionysius setzt, so daß ihr 5501. Jahr mit dem 9. unsrer christlichen Ä. zusammenfällt. Bei den griechisch-katholischen Völkern, mit Ausnahme der Russen, ist die byzantinische oder konstantinopolitanische Weltära noch üblich, deren Jahresanfang der 1. September und deren 5509. Jahr das erste unsrer Zeitrechnung ist, aber vier Monate früher anfängt. Zuerst wird diese Ä., deren sich die byzantinischen Historiker, Kaiser und Patriarchen bedienten, im „Chronicon Paschale“, einer Schrift des 7. Jahrh., erwähnt.

Neben der üblichen Zeitrechnung finden wir seit der Mitte des 4. Jahrh. n. Chr. nicht selten, namentlich auch noch in späterer Zeit in den Akten des deutschen Reichskammergerichts, die Indiktionen oder die Römerzinszahlen angegeben; vgl. Indiktionenzirkel.

Da die Weltären zu allgemeinerm Gebrauch ungeeignet waren, sich aber doch das Bedürfnis einer die ganze uns bekannte Geschichte umfassenden Zeitrechnung fühlbar machte, so bildete Joseph Scaliger durch Multiplikation der cyklischen Zahlen 28, 19 und 15 eine Periode von 7980 Jahren, welche er die julianische Periode nannte, weil sie nach julianischen Jahren zählt. Das 4714. Jahr dieser Periode entspricht dem ersten unsrer christlichen Ä. oder dem 754. nach Roms Erbauung. Obgleich eine solche universelle Zurückrechnung jetzt nicht mehr so notwendig ist wie zu den Zeiten Scaligers, da man sich jetzt der festen christlichen Ä. bedient, so wird die julianische Periode doch auch jetzt noch angewendet, wo es sich um scharfe und genaue Zeitangaben handelt, und sie hat ohne Frage das Verdienst, Licht und Ordnung in die Chronologie gebracht zu haben.

Von den neuern Ären nichtchristlicher Völker ist hier nur die der Mohammedaner zu erwähnen, welche mit der Hegira (Hedschra) oder der Flucht Mohammeds von Mekka nach Medina, 16. Juli 622 n. Chr., beginnt und bei den Türken, Arabern und Persern im Gebrauch ist und zwar so, daß nach Mondjahren, wovon 33 auf 32 Sonnenjahre gehen, gezählt wird. Die neueste aller Ären ist die der französischen Revolution, welche 6. Okt. 1793 in Frankreich eingeführt wurde und 22. Sept. 1792 anhob, dem Tag, an welchem die tags vorher beschlossene Einführung der Republik dem französischen Volk verkündigt wurde und zugleich (um 9 Uhr 18 Minuten 30 Sekunden vormittags) das Herbstäquinoktium einfiel. Diese Ä. wurde durch Gesetz vom 9. Sept. 1805 vom 1. Jan. 1806 an wieder abgeschafft. Vgl. Kalender und Monat.

Einige andre Ären haben nie praktische Geltung gehabt, sondern wurden, wie Scaligers julianische Periode, nur von Gelehrten gebraucht. Über die Olympiadenära vgl. Olympiade. Die Jahresrechnung nach Erbauung der Stadt Rom (ab urbe condita, abbreviiert u. c.) fängt man gewöhnlich mit 21. April 753 v. Chr. an. Die Ä. Nabonassars, welche sich bei Ptolemäos, Theon u. a. findet und mit dem Regierungsantritt des babylonischen Königs Nabonassar 747 beginnt, ist für geschichtliche Zeitbestimmung sehr wichtig, da man mit ihrer Hilfe nach den von Ptolemäos überlieferten Regententafeln und nach den angegebenen Summen der Regierungsjahre die Zeit vieler geschichtlich denkwürdiger Fakta berechnen kann. Die julianische Ä. datiert von der Einführung des julianischen Kalenders, 46. Die antiochenische Ä. beginnt mit der Freierklärung der Stadt Antiochia oder mit dem ersten Jahr der Diktatur Julius Cäsars, 49–48, im Herbst und wird häufig in den Schriften der Kirchenväter gebraucht. Vgl. Chronologie.