Ludwig Speidel, Schriftsteller

Textdaten
Autor: Ludwig Hevesi
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Titel: [Ludwig Speidel, Schriftsteller]
Untertitel:
aus: Biographisches Jahrbuch und Deutscher Nekrolog (1906), Band 11, 1908, S.193–223.
Herausgeber: Anton Bettelheim
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1908
Verlag: Reimer
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Erscheinungsort: Berlin
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Quelle: pdf bei Commons, Internet Archive (Nekrolog); Internet Archive=Google-USA*, Google-USA* (Jahresband)
Kurzbeschreibung: unbetitelter Nekrolog für den deutschen Schriftsteller, Musik- und Theaterkritiker Ludwig Speidel.
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Speidel, Ludwig, Schriftsteller, * 11. April 1830 in Ulm, † 3. Februar 1906 in Wien. – Die Zeit fängt an, Ludwig Speidel in Perspektive zu setzen. Sein historisches Nachleben beginnt und man sucht unwillkürlich nach der Formel, die ihn fassen möchte. Den Klassiker der Wiener Kritik dürfte man ihn zunächst nennen, aber er war noch manches andere. Groß und schwer, ganz aus einem Stück, lag dieser Block in der ausgedehnten Niederung der Tagesliteratur, und von seinem Gipfel hatten die Zeitgenossen einen ungeheuren Rundblick. Eine große Einfachheit ist der nächste Gesamteindruck von ihm, nach Wesen und Tun, und dennoch liegt seine Sache nichts weniger als auf der Hand. Ich habe über ein Menschenalter mit ihm verkehrt, in den letzten sechs Jahren auf sehr vertrautem Fuße; dennoch maße ich mir über manche Wichtigkeiten seines Lebens kein Urteil an. Er hatte überhaupt viel von einem großen Unbekannten. Als vor einigen Jahren ein deutsches Unternehmen von mir eine literarische Monographie wünschte, schlug ich Ludwig Speidel vor; der Bescheid war: Speidel ist in Deutschland zu wenig bekannt, interessiert also das Publikum nicht. Der Mann, der seit vierzig Jahren an der Spitze der Wiener Kritik stand und auch den Geschmack in Deutschland ganz wesentlich beeinflußte. Ihm fehlte das Weltläufige, Ausgreifende, er war ein Konzentrierter, in sich selbst Eingedickter. Wie ein kostbarer Naturstoff, der sich nach innewohnendem Gesetz ein für allemal kristallisiert hat und dann in Unverrückbarkeit den Beruf eines unendlichen Strahlenbrechens erfüllt. Mit seinen Sprühkanten und Blinkflächen ist nicht zu rechten; sie müssen. »Ich kann nicht anders, als ich kann!« hörte ich ihn in sehr alten und kranken Tagen unwirsch ausrufen. Das könnte der Wahlspruch seines Lebens sein. Seinem äußeren Leben hatte er einen verhältnismäßig engen Kreis gezogen, der sich gerade in den Jahrzehnten seiner unbeschränkten Machtfülle kaum je veränderte. Seine meisten Freundschaften waren lebenslänglich, und zwar gehörten zu seinen Vertrautesten nicht bloß berühmte Zeitgenossen, sondern auch ganz schlichte Niemande, deren Wesen ihn ansprach oder nicht störte. Desto reicher baute er sich innerlich aus. Nichts Wertvolles, Gediegenes, was der ästhetische Mensch geschaffen, blieb dem Kreislaufe seines geistigen Organismus fremd. Aber der unermüdliche Aufnehmer war ein verdrossener Mitteiler. Vor allem das Gegenteil eines Redners. Berühmt geworden ist ja sein einziger Redeversuch, als er bei dem Festessen, mit dem die »Neue Freie Presse« den Siebzigjährigen ehrte, die Festrede beantworten sollte. Er brachte bloß den ersten Satz heraus: »Das Feuilleton ist die Unsterblichkeit eines Tages«; dann schwieg er und setzte sich. Vollends haßte er das Schreiben. Über seine »Schreibfaulheit« hat sich eine Mythologie gebildet. Er war imstande, die letzte Novität vor den Ferien des Burgtheaters nach den Ferien zu besprechen. Daß ihn also nichts bewegen konnte, auch noch nach Deutschland zu schreiben, ist selbstverständlich. Er glich jenen großen Schauspielern des klassischen Burgtheaters, denen er als Kritiker an den Leib geboren war. Wie Anschütz, Löwe, La Roche, Fichtner in ihrer Blütezeit kaum je als Gäste in Deutschland auftraten, so auch der Schriftsteller Sp. Er und sie blieben draußen gleich unbekannt, wurden höchstens ein großes Hörensagen. Dazu kam, daß Sp. nie zu bewegen war, seine Aufsätze gesammelt herauszugeben. Auch nicht die kostbaren Stimmungsbilder, Novelletten, Märchen, die er für Festtage schrieb. Er hätte sie vermutlich nicht einmal aufgehoben, denn einmal aus der Feder, waren sie für ihn nicht mehr vorhanden. »Ich habe nie eine Korrektur gelesen«, sagte er mir, »und nie ein gedrucktes Feuilleton wieder angesehen.« Seine Frau war die Vorsehung dieser Wertpapiere, die sie sorglich ausschnitt, in Päckchen band und so in einer gewissen alten geschnitzten Truhe einsargte, zu fröhlicher Urständ, irgend einmal in posthumeren Zeiten. Daher ist auch die Lebensarbeit Sp.s einstweilen nicht zu übersehen. Er existiert, so weit sich die Abonnenten der »Neuen Freien Presse« und des Wiener »Fremden-Blatt« erinnern. Und die große Gemeinde der Kaffeehausleser. In Wien, in Österreich, war Sp.s literarische Geltung von Anfang bis zu Ende unbestritten. Sein schriftstellerisches Genie siegte, wie es wollte. Der Kritiker allerdings wurde von Parteigegnern mit einer Erbitterung verworfen und nach Möglichkeit schlecht gemacht, die eben auch wieder beweist, wie schmerzlich er ihnen alle die Jahre her wehgetan. Es waren die Kämpfe um die neue Musik. Sp.s intransigente Stellung gegen Wagner, wie später gegen Brahms, zog ihm die heftigste Gegnerschaft zu. Eine Generation stand wider ihn in Waffen, aber er wich nicht. Die Psychologie dieser Naturerscheinung wird dem Leser später klarer werden. Eduard Hanslick, die geschmeidigere Natur, wußte sich eher Brücken zu bauen für gelegentlichen Rückzug von allzu verlorenem Posten. Sp. konnte kraft seiner ganzen Natur nicht anders; gewisse bêtes noires waren für ihn absolut nicht weiß zu waschen. Und sein ästhetischer Mensch wurzelte eben überhaupt in sehr konservativer Zeit. Er war um ein Vierteljahrhundert zu früh geboren, mitten in eine schale, saftlose Epigonik hinein. Als Theaterkritiker, der er doch hauptsächlich wurde, hatte er eine Tagesproduktion vor sich, bei der das Spiel die Kerze nicht wert war. Er stand so hoch über alledem, wie ein Billroth, der König des Messers, über seinem klinischen »Material«. Er kritisierte in anima vili. Das macht auf die Dauer souverän und absolut. Und stößt er dann in der flachen Öde auf ein echtes Ungetüm, so jauchzt er hell auf ob der gottgesandten Aventiure und besteht den Drachen, oder auch den fremden Helden, mit Feuer und Schwert in funkenstiebender Kampfeslust. Erlegen kann er ihn nicht, aber er hat gekämpft, hat sich ausgetummelt in schneidigem Tournament. Kurzsichtige nennen ihn dann kurzsichtig, Blinde blind, Ungerechte ungerecht. Denn er ist ein Kritiker, und wer wäre der Kritik mehr ausgesetzt als dieser? Aber er war nur ein Echter, Voller, eine Vollnatur, die nichts vermag wider sich. Er lebt sich naturgemäß aus in grimmiger Fehde gegen Große und Größte, die ja das nämliche tun. Ich kann nicht anders, als ich kann.

Ludwig Speidel war zu Ulm geboren, am 11. April 1830. Sein Vater hieß Konrad, seine Mutter Anna, eine geborene Steiner. (Die allerersten Artikel Sp.s erschienen unter dem Namen Steiner.) Konrad Speidel war Musiklehrer mehrerer Generationen und erbte sich in Ulmer Bürgerfamilien so fort, auch als Vertrauensmann für alles und jedes. Sein ausführlicher Nekrolog in der »Ulmer Schnellpost«, von Sonntag, dem 1. Februar 1880, schildert ihn als Mann von musterhafter Tüchtigkeit. Er war am 16. September 1804 im Dorfe Söflingen bei Ulm als Sohn wenig bemittelter katholischer Eltern geboren. Die Musik regte sich in ihm früh. Mit fünfzehn Jahren trat er in die »Brigademusik« ein und ging mit zwanzig Jahren, schön und stimmbegabt, nach Stuttgart, wo er bei Krebs und Lindpaintner studierte. Zwei Jahre später heiratete er seine Landsmännin Anna Steiner, mit der er vierzig Jahre in glücklicher Ehe lebte, dann noch zwölf mit zwei Töchtern, gleichfalls Musiklehrerinnen. Er spielte die meisten Instrumente, am besten Geige und Horn, und dirigierte vortrefflich. Er gab bloß Privatstunden, die damals mit 12-18 Kreuzern als nobel gezahlt galten, stand aber auch an der Spitze des »Frohsinn«, dann des »Liederkranz«, der unter ihm 1853 auf dem Sängerfest zu Hall den ersten Preis gewann und ihn 1877 zum Ehrenmitglied wählte. In den sechziger Jahren war er Genosse der »Liechtensteiner«, welche gute Musik pflegen wollten, und leitete das aus ihnen hervorgegangene Quartett. Ein milder, froher Mann, suchte er auch vor allem Freude an der Musik zu wecken. Unter ihm wurde auf Haydn, Mozart, Beethoven geschworen, für die Sensationen des Tages hatte man wenig übrig. Sein älterer Sohn Wilhelm, Professor und Doktor in Stuttgart, war der bekannte Komponist und Musikdirektor. Auf seinen Sohn Ludwig war er besonders stolz. »Das hat mein Sohn Ludwig geschrieben«, pflegte er mit besonderem Nachdruck zu sagen, wenn er so einen Aufsatz aus der Tasche zog und herumzeigte. Stramm bis ans Ende, wollte er durchaus nicht alt werden. Vom Alter durfte man ihm niemals sprechen. Als er einmal mit seinem Stock geneckt wurde, legte er auch diesen ab und humpelte ohne Stütze fürbaß. Er starb nach schwerer Krankheit am 26. Januar 1880.

Auch Ludwig musizierte viel, im Sinne des Vaters, und machte in Ulm das Gymnasium durch. Für die Universität fehlten die Mittel, nur als Gasthörer belegte er dann in München dieses und jenes Kolleg. In der Hauptsache war er selbstgebildet. Noch sind aus jener Zeit mancherlei Schreibereien erhalten; Exzerpte, Lesefrüchte, Wörterverzeichnisse zu lateinischen und griechischen Autoren. Und eine schwere Menge Gedichte. Sein lyrischer Frühling blühte reich genug, und manches davon wird wohl noch die Sonne sehen. Er schickte sich ganz unzweideutig an, der schwäbischen Dichterschule zuzuwachsen. Knappheit, Schlichtheit, ein Schmelz von Naivetät stellten sich wie von selbst ein. Naturfreude, Liebesschwärmerei, alle Sehnsuchten des Jünglings singen los. Wäre er nicht ins Zeitungsgetriebe geraten, in der stilleren Heimat hätte er die Leier nicht sobald beiseite gelegt; wir hätten einen schwäbischen Lyriker mehr. Selbst in Wien noch dichtete er herzhaft; in einigen Nummern des »Wanderer« (28. Mai, 18. Juni 1854) finde ich an der Spitze des Feuilletons »Gedichte von Ludwig Speidel«, acht an der Zahl. »Frühlingslust«, »Die Welt aus der Vogelsicht«, »Letztes Erwachen« u. s. f.; die Druckfehler sind mit Bleistift sorglich verbessert. Die Wiener Feuilletonisten dichteten in dieser Zeitung ganz ungeniert; auch Emil Kuh, L. J. Semlitsch (der Saphirtöter), Emerich Ranzoni. Das war der hoffnungsvolle Nachwuchs. Bruder Wilhelm ermangelte auch nicht, ihn zu vertonen und schreibt (München, 22. Januar 1854): ,Dein Gedicht »Was ich im Sternenglanz gesucht« habe ich komponiert und, wie es scheint, ist es mir gelungen. Nun habe ich fünf Lieder von Dir zusammengestellt, um sie zusammen herauszugeben: 1. Wir haben uns nicht gesucht und doch gefunden. 2. Wie freut mich doch. 3. Vom Weinen. 4. Gefunden. 5. Wir saßen beisammen, bei welchem ich den letzten Vers weglasse.‘ Und auch größere Pläne rumorten in ihm. Ein regelrechtes Jambendrama »Hasdrubal« wurde kühn angegangen, aber noch in den ersten Stadien verbrannt. Ein erzählendes Gedicht in Hexametern: »Die Hochzeit im Freien« (München, September 1852) gedieh bis zum zweiten Gesang. Noch ist das blaue Heftchen erhalten, mit 633 Versen in tadelloser Reinschrift. Kein Wunder, daß sich in Wien eine zähe Sage erhielt von einem Bändchen Lyrik, das Sp. einst veröffentlicht, dann aber reuevoll zurückgekauft und vernichtet hätte. Das ist nicht wahr. Er verzichtete auf diese Art des Dichtens, ganz im Sinne eines späteren köstlichen Feuilletons: »Das Glück, kein Dichter zu sein« (2. April 1899), worin es unumwunden heißt: »Wie beneidenswert ist dagegen der Aufrichtige, der kein Dichter sein will, aus dem einfachen Grunde, weil er keiner ist!« Daß Sp. ein Dichter war, wird kein Kenner seiner Prosa leugnen, die gar oft im feinsten Schmelz der Poesie schimmert.

So war seine Jugend rastlose Arbeit. Die Geisteswelt strömte machtvoll in ihn hinein. Er war ein Gefäß von unbegrenzter Fassungskraft. Literatur, Geschichte, Philosophie aller Zeiten. Die Philosophen studierte er sämtlich durch; man merkt es, wenn er später so anlaßweise ganz vergessene Schriften irgendeines Hegelschülers (Rosenkranz fällt mir ein) anzuziehen weiß. Noch sehr spät rächt er einmal Hegel an Schopenhauer, dessen »Dickschädel« er schildert, wegen des zu unglimpflichen Porträts, das dieser einst von jenem entworfen. Und im reifen Mannesalter noch erwähnt er, daß er mit seinem Freunde Bernhard Scholz in ungezählten Sitzungen den ganzen Spinoza übersetzt hat, aber ohne ein Wort niederzuschreiben. Das Schreiben als solches scheint ihm von jeher zuwider gewesen zu sein. Und das Briefschreiben schon gar. Förmlich hochdramatisch können sich da die Situationen zuspitzen. Hätte es für Briefschulden einen Schuldturm gegeben, Sp. wäre nicht viel auf freiem Fuß gewesen. In einem ganz dringenden Falle gibt ihm Wilhelm drei Wochen Zeit zur Antwort; erfolgt keine, so werde er ihm nie wieder schreiben. Selbst seine treue Gönnerin Frau v. Kaulbach in München schreibt ihm, schon nach Wien: »Lieber Ludwig! Wenn ich auch im voraus weiß, daß von einer Antwort oder irgendeinem Lebenszeichen keine Rede sein wird usw. Könnte ich Ihnen doch endlich recht ins Herz reden, wie ich es früher getan…« Wilhelm klage, er habe schon seit Jahr und Tag keine Nachricht, die Eltern desgleichen u. s. f. Innere Mächte mußten ihn schon ganz unwiderstehlich drängen, wenn er zur Feder griff. Und das kam vor. Im Nachlaß befindet sich sogar ein »Tag- und Nacht-Buch« (1849–50), worin er sich lakonisch Luft machte. Und auch die Liebe löste seine Stummheit. Ich denke da an ein allerprivatestes Heftchen, worin ganz einfache und über die Maßen liebe Dinge stehen, bei deren Niederschrift gewiß an keinen Leser und noch weniger an einen Setzer gedacht wurde.

Später hatte er wenig Verkehr mit seiner Familie. Nach Ulm ist er zwar wiederholt gekommen; nachweislich 1872 und 1877. Dieses zweite Mal schreibt er seiner Frau recht scherzhaft: »Meine Ulmer Bibliothek habe ich tüchtig geplündert und bringe – gottlob! wirst Du sagen – einen ganzen Pack Bücher mit.« Er hatte deren wahrlich schon genug. So lange er ledig war, standen sie in hohen Stößen durch die ganze Wohnung am Boden herum. Erst seine Frau schaffte Gestelle an und hielt sie und ihn in Ordnung. Mit Bruder Wilhelm war seine Beziehung viele Jahre gespannt. Sie waren zu verschieden gestimmt. Wilhelm, ein grundtüchtiger Mann, war von etwas sprödem Ernst und erzieherischem Wesen. Da konnte sich denn Ludwig, den Schalk im Nacken, gelegentlich nicht enthalten, ihm einen kleinen Possen zu spielen. So schrieb er ihm unter anderem: »Ich muß mir nur noch eine Fetter schneiden«, und richtig ging Wilhelm in die Falle und berichtigte postwendend: »Ich mache Dich aufmerksam, lieber Bruder, daß man nicht Fetter, sondern Feder schreibt.« In diesen jungen Gärungsjahren war Ludwigs Stimmung unbehaglich genug. Es galt Stellung zu nehmen zum Leben, vor allem zum Brot. Einen Brotberuf hatte er nicht, ein »Fach« war ihm nicht beschieden. Ihm blühte höchstens das Unterrichtgeben oder die obligate Hofmeisterstelle so vieler junger Helden der Literaturgeschichte. Wo hinaus? An dringenden Ermahnungen wird es nicht gefehlt haben. Der Vater hatte noch für zwei Töchter zu sorgen. Und die Flügel zum Aufschwung waren noch nicht frei. Beleuchtend ist folgende Briefstelle Wilhelms (München, 6. Nov. 1850): »Packe Deine Habseligkeiten zusammen und schreibe mir noch genau, wann Du Ulm verlassen kannst, um Dir einen Zehrpfennig auf die Herreise schicken zu können. Wenn Du mit sehr kleinen Ansprüchen und bescheiden in jeder Hinsicht hieherkommst, wird es Dir mit Gottes Hilfe gut gehen. Ich will erst tun, was in meinen geringen Kräften steht, und ich glaube, daß Du bald einige Stunden bekommen wirst; freilich über 30 Kreuzer die Stunde darfst Du nicht verlangen. Ich habe schon mit Frau Förster, Frau von Aretin und Frau Kaulbach gesprochen, die Dich genügend empfehlen werden. Du wirst Dich dann mit aller Deiner Kraft auf ein gewisses Studium werfen und dabei bleiben. Dies ist der einzige Wunsch, den Du mir erfüllen mußt.« Zum Schluß: »Komme anspruchslos und bescheiden. Dies noch eine Bitte neben dem obigen Wunsch.«

München, das war dann die Welt. Das Lernen im Großen, das Schaffen im Lebendigen, das Mitleben in jedem Sinne. Seine geniale Frische, sein herzhaftes Wesen gewann ihm die Bedeutenden der Zeit. In wie manchem Feuilleton hat er später das damalige München geschildert, den Kreis der Kaulbach, Ernst Förster, Fallmerayer, Liebig, Steub, Bayersdorfer; er hat ihre Namen in »Erinnerungen« gleich girlandenweise durch die Spalten des Feuilletons gespannt, nicht ohne jene kurzen Charakteristiken, die alles mögliche zu sagen wußten. Über Kaulbach schrieb er 1874: »Er ist mehr gewesen als seine Werke. Ich bekenne frei, daß ich mich erkenntlich fühle für das Glück, ihn gekannt, daß ich ihm dankbar bin für die seltene Gunst, mir das Schauspiel einer bedeutenden Persönlichkeit gewährt zu haben.« Jeden Sonn- und Feiertag traf sich bei Kaulbach erlesene Gesellschaft, obgleich »er es durch seine Fresken mit aller Welt verdorben hatte. Der Widerwille gegen diese Fresken hat auch auf die übrigen Werke Kaulbachs seinen gelben Schein geworfen«. Er wettert dagegen, daß man auf Kaulbachs Kosten »kleinere Talente emporhebt, wie z. B. Schwind, der nur im Kleinen groß ist, während er größeren Aufgaben gegenüber bedenklich zusammenschwindet«. (Daß die Äußerung über Schwind nur ad hoc gelten soll, braucht wohl nicht betont zu werden.) Darum kamen zu Kaulbach mehr Schriftsteller und Gelehrte. »Salon? Kaulbach würde lachen. Und doch ist es wahr, daß die Gesellschaften in Kaulbachs Haus durch Einfachheit und heitere Freiheit des Tones an das französische Salonleben erinnern. Die Anwesenden teilen sich in Gruppen, und gruppenweise wird konversiert« usw. Frau von Kaulbach aber ist ihm, nach Ludwig Steubs Ausdruck, »die erste Frau Münchens«. So nennt er sie in einem Reisebrief an seine Frau und berichtet nicht ohne Wehmut, wie sie ihr vierzig Jahre bewohntes Gartenhaus (in dem auch noch Kürnberger gestorben) verlassen mußte, nachdem sie an der Wiener Börse ihr Vermögen verloren. Auch das Förstersche Haus wurde dem jungen Sp. ein Heim. Die Hausfrau war bekanntlich Jean Pauls Tochter (»Paul«, nicht »Pol« ausgesprochen, bemerkte er mir gelegentlich), und daher kam für ihn eine Zeit des Jean Paul-Kultus. Auch den berühmten »Zettelkasten« des Dichters sah er dort noch stehen. »Meinen grün gebundenen, in Gold gepreßten Jean Paul vom Bücherbrette holen«, schreibt er einmal, da er der Erquickung bedarf. Jedenfalls war Sp. in diesem Kreise nicht bloß ein empfangendes, sondern auch schon ein gebendes Element. Beweis dafür, wenn Bruder Wilhelm ihm (25. Okt. 1853) nach Wien schreibt: »Kaulbach sagte mir vorige Woche: ,Ludwig geht mir recht ab; was ich mit ihm zusammen sprach, kann ich hier in München mit niemandem sprechen, obgleich es selten war.‘ Dingelstedt, den ich neulich traf, erging sich mit großem Bedauern über Dein Fortsein, und Lachner soll ganz unglücklich sein. Nun scheint es doch, daß er jemand gefunden hat, der den Vorsatz hat, das Geschäft in Deiner Weise fortzutreiben. In einer der letzten Allgemeinen steht nämlich ein Aufsatz über die Beethovensche Messe in Deinem Ton. Teichlein ereiferte sich schon über Dein mildes Urteil, was Du Dir schon in Wien angeschafft hast, er fürchtet sehr für dessen Selbständigkeit. Er meint, Du wärest schon ganz verwienert, und Laube hätte sehr wohl daran getan, sich einen kommen zu lassen, der, vom Glanz frappiert, seine großen Eindrücke in die Spalten der Allgemeinen niederlegt.« Sp. war nämlich, dank seinen Verbindungen, statt Stunden zu 30 Kreuzer zu geben, Musikkritiker der »Allgemeinen Zeitung« geworden, der er dann noch von Wien aus kritische Berichte schrieb. Die erste Sp.sche Kritik in der Beilage der Allgemeinen erschien am 28. Oktober 1852. (Wieder abgedruckt nach Sp.s Tode im Feuilleton des 9. Februar 1906.) »Musikalisches aus München«, vom 26. Oktober datiert, mit der Chiffre »V« bezeichnet. Es handelt von dem neuen Programm der Odeonkonzerte, wo als Novum auch Wagners Tannhäuser-Ouvertüre gegeben werden soll. Von Wagner sei »hierorts noch kein Ton gehört worden« und dieses Stück keine gute Einführung. Wagners Hauptstärke sei die »Dramatik«, man müsse »ein ganzes Opernwerk« von ihm aufführen. Er begründet dies an der Hand des Buches über Oper und Drama und kennzeichnet dessen »paradoxe Behauptungen«. Er ist für diese nicht eingenommen, meint aber doch: »Auf die Länge ist Richard Wagner gewiß nicht von der Bühne abzuweisen. Möge man von dem absoluten Werte seiner Werke denken, was immer man wolle, eine geschichtliche Bedeutung haben sie unbestreitbar und werden auch auf die künftige Entwicklung der Oper einen nachhaltigen Eindruck ausüben.« Die erste gedruckte Äußerung Sp.s über Wagner, den er aufgeführt sehen will. Am Schlusse des Berichtes spricht er von der Sängerin Frl. Falconi-Bochkolz. Er lobt sie, aber »die Natur hat ihr, wie den meisten Singvögeln, Schönheit des Leibes versagt«. Eine schon sehr Sp.sche Pointe.

Nach Wien kam Sp. im Jahre 1853. Gleichzeitig mit dem schönen Wittelsbacherkinde, das die Zierde des Habsburgerthrones werden sollte. Es heißt, er sei aus diesem Anlaß als Berichterstatter entsandt worden. Aber er und Wien ließen einander nicht mehr los. Noch immer spuken Kaulbachsche Worte in seinem Hirn. Der hatte aus Wien geschrieben: »Hier geht alles im Dreivierteltakt, auch die Kunst.« Sp. knüpft daran, schon in Wien, bedenkliche Betrachtungen: »Das ist ein lustiges Wort für eine traurige Sache. Einem Fremden, der Wien nur berührt, wie die fliegende Schwalbe das Wasser, mag es gestattet sein, sich mit solchem Witze den ganzen Jammer des österreichischen Kunstwesens von den Flügeln zu schütteln; wer aber in diesen Käfig eingesperrt ist, der lernt andere Weisen pfeifen.« Den »Anschluß«, dessen er als Wesensfremder in all der Halbschlächtigkeit dringend bedurfte, fand er zunächst bei Karl Rahl. Doch davon später. Jedenfalls fand er hier einen breiten Strom, in dem er mit starken Armen schwimmen konnte. Er wienerte sich bald ein und hatte ja auch wirklich, wie Brahms, Gabillons, Hartmanns, Dombaumeister Schmidt und so viele andere aus dem Reich, ein angeborenes Talent, Wiener zu werden. Jene gewissen besonderen Eigenschaften, die z. B. Anselm Feuerbach nicht besaß. An Fleiß ließ er es nicht fehlen. In jener geschnitzten Truhe finden sich noch bündelweise sortiert seine Beiträge zu allen möglichen Zeitungen. Er schrieb für den »Wanderer« (1854 und dann wieder 1869–70, aus diesen Jahren hat er sich auch einen Pack Joh. N. Bergerscher Leitartikel aufgehoben), für den »Lloyd« (1854), die »Donau« (1855–63), die »Österreichische Zeitung« von Albert Hugo (1855–58), Hugos »Jagdzeitung« (1858, u. a. über Laubes »Jagdbrevier«), die »Morgen-Post« (1858), O. B. Friedmanns »Neueste Nachrichten« (1859), die »Wiener Zeitung« (1858–59). Er schrieb damals und noch in den sechziger Jahren viel, oft und über alles: Theater, Musik, Kunst, Plaudereien, Humoresken, Reisebriefe, sogar aus Prag und Pest, Genrebilder, Stimmungsbilder aus dem Wienerwald. Selbst für den Leitartikel wurde er gepreßt. Er ging in sämtliche Vorstadttheater, ja in ländliche Sommertheater, schrieb über die kleinsten Debuts (z. B. Karl Bukovics als Max im »Freischütz«) und die unklassischesten Stücke. Er kritisierte sogar eine Verherrlichung des persischen Insektenpulvers im Thaliatheater, in einem Zacherlstücke von Th. Flamm. Da hieß es denn: »Es schlagen in ganz Österreich wenig fühlende Herzen, denen Herr Zacherl nicht einmal ein stiller Wohltäter gewesen« und er stellt sich den Mann vor als einen von den Erinnyen erschlagenen Ungeziefers gehetzten Helden. Im Sommertheater zu Braunhirschen würdigt er tapfer Anton Langers Posse: »Der Bankier von Wachs«. Wie der richtige Schauspieler in seinen Anfängen, »kugelte er sich herum«. Das waren seine Schmierenjahre, nichts Feuilletonistisches blieb ihm fremd. Mit diesen Erfahrungen im Leibe konnte er dann die Höhen seiner Kunst erklimmen. In den sechziger Jahren sehen wir ihn für Karl Terzkys »Glocke« arbeiten (1863–64). Da kommt sogar eine »Petition des Praterwurstls an den Gemeinderat« vor, natürlich pro Wurstl. Und eine Humoreske: »Die Pitsche«, wider das eklige Abtropfbier; ganz macbethisch ist der Ausruf: »Töte nicht das Bier!« Die »Glocke« wurde aber von seinem vertrauten Freunde Bernhard Scholz gegründet, dem rheinischen Dramatiker, der dann wieder heim ging und in Wiesbaden schon 1871 starb. Die Nekrolognummer seines dort herausgegebenen Blattes, des »Rheinischen Kurier« (12. Dezember) hat sich Sp. aufgehoben. Längere Dauer hatte seine Mitarbeit am »Vaterland« (1860-64), das ihn auch nach London zur großen Kunstgewerbeausstellung schickte. Das wurde freilich ein berühmtes Abenteuer. Die noch jetzt herrschende Sage in Wien ist, daß er überhaupt nie bis London gelangte, sondern unterwegs im Münchener Hofbräu sitzen blieb. Der sei stärker gewesen als er und das Vaterland. Das ist wieder einmal nicht wahr. Er wurde in London krank und konnte unmöglich schreiben. Es ist urkundlich erwiesen durch einen Brief seiner Schwester Josephine an seine Frau (11. Juli 1862), worin es heißt: »Das Londoner Klima hat ihm recht arg zugesetzt, seine Hausfrau, des shorthand writers löbliche Ehehälfte, hat mir einen trostlosen Bericht über Ludwigs Zustand gegeben. Doch habe ich mich bald darüber getröstet, da ich ihn so munter und »lieb« getroffen habe, nur wollte er noch nichts essen und ernährte sich mit beinahe nichts als Tee, von dem er mit einer gewissen Leidenschaft einige zwanzig Tassen hinunterschlürfte, was mich nicht wenig ergötzte.« Seine Zeitung aber mußte sich freilich anders helfen und tat dies den Lesern durch folgende Notiz kund, die sich noch als Ausschnitt unter den Papieren findet: »Herr Ludwig Speidel, unser Berichterstatter für die Londoner Ausstellung, ist, wie wir infolge gütiger Mitteilungen erfahren, leider auf der Reise mehrfach erkrankt und es ist daher zu bezweifeln, ob wir von ihm Briefe über die große Ausstellung empfangen. Inzwischen werden die geistvollen Berichte des Herrn Levin Schücking unsere Leser vollständig entschädigen.« In den folgenden Jahren finden wir ihn dann noch bei der »Presse«, 1872 bei der »Deutschen Zeitung«, mit einzelnen Musikfeuilletons auch in der »Montags-Revue« (1879), in der Hauptsache aber als erste Feuilletonkraft der »Neuen Freien Presse«, seit ihrer Begründung, und durch mehr als vierzig Jahre als Musikkritiker des Wiener »Fremden-Blatt«. Nur in ganz besonderen Fällen (Schillerfest u. dgl.) zeichnete er mit seinem Namen, sonst nur mit der berühmt gewordenen Chiffre »L. Sp.«, im »Fremden-Blatt« mit »sp.«. Anderwärts benutzte er die verschiedensten Chiffern: § (sogar noch als Kunstreferent der » N. Fr. Pr.«), σπ (Musikalisches in der »Wiener Ztg.«), –l, , X, * u. s. f. Die Chiffre »L. Sp.« hatte er schon 1855 in der »Donau«.

An Karl Rahl also schloß er sich in Wien zuerst an, mit der ganzen Hingabe seiner warmen Jugend. Man sieht, er kam von Kaulbach und den großen historisch-allegorischen »Maschinen« des damaligen München her. Er suchte und brauchte wieder eine Vollnatur, als ein Naturschauspiel, seine Seele zu füllen. Das Wort Übermensch war damals noch nicht geprägt, aber Rahl war einer. Und er hatte sich einen Überstil gemacht, gut für Augen, die was vertrugen, und hatte dazu noch ein neues großes Farbengefühl. Wie oft hat Sp. seinen Rahl gefeiert, mit allen seinen kraftnatürlichen Eigenschaften, seine »Macht der Invektive« mit inbegriffen, »deren Feuer noch den Schmutz adelte«, und seinen »Zynismus, das Erbteil der Ärzte und Maler, der sich in aristophanisch-großartigen Formen bewegte«. »Zum ersten Male seit Schubert hat Wien wieder einen großen schöpferischen Künstler hervorgebracht, aber man verfährt mit ihm, als ob die Genien hierzulande gleich Distelköpfen wucherten« (1865). Er schildert ihn selbst noch aufgebahrt. »Seinen Kopf, in welchem sich die Züge eines Sehers mit denen eines antiken Waldgottes wunderbar verschmolzen.« Er beschwört noch jede einzelne Gebärde des Mannes herauf. »Beim Sprechen pflegte er die geschlossene Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger der Schläfe zu nähern.« Er bewunderte ihn als »wirklichen Maler«, neben dem ihm Gallait grau erschien. Und Rahl war keiner von den »Flachen und Modernen«, er war »unberührt geblieben von jener krankhaften Zeitrichtung, die man Realismus heißt«. (Man bemerke, was ihm damals als »krankhaft« galt; jetzt ist dies das Wort der Realisten für die modernen Romantiker.) Nur für Wilhelm Leibl, unter allen Malern, fand er später solche Wärme, als er ihn, von Wilhelm Trübner geführt, in Aibling aufgesucht hatte (1881). Als Rahls athenischer Fries in Reproduktion erschien, schrieb Sp. dazu die ausführliche Erläuterung. Und einige Kohlenstudien Rahls hingen zeitlebens in seinem Salon. Es ist interessant, wie er 1866, noch im Banne des toten Rahl, den toten Wiener Großrealisten Waldmüller, den »Bauern-Rafael«, beurteilte. Die Waldmüller-Ausstellung schien ihm unter der kurz vorher stattgefundenen Rahl-Ausstellung nicht wenig zu leiden. Er vermißt bei W. »das Halten an der Tradition«. »Die künstlerische Blütezeit Waldmüllers war kurz bemessen, sie füllte kaum ein Jahrzehent aus. Seine besten Werke fallen in die vierziger Jahre und wie ihm bis dahin nichts Rechtes gelingen wollte, so geht es mit ihm vom Jahre 1848 an rasch bergab. Seine späteren Gemälde, die durchaus manieriert sind und geradezu auf das Häßliche losgehen, sind nicht mehr genießbar. Wie schon früher, nachdem ihm sein Bestes gelungen, so vertauscht er auch jetzt, nachdem er sein Mißlungenstes hervorgebracht, den Pinsel mit der Feder und will die Welt mit einer neuen Lehre von der Kunst beglücken. Diese Schriften, die das niedrigste theoretische Bewußtsein von der Kunst verraten, haben dem seligen Meister viele Feinde zugezogen und selbst verständige Leute für seine wirklichen Verdienste blind gemacht. Was nahm man ihn aber auch beim Wort und nicht beim Werke? Wir lächeln über seine wunderlichen, ganz und gar verworrenen und verschrobenen Ansichten von der Kunst; wenn wir aber auf etwa ein halbes Dutzend seiner Bilder blicken, so müssen wir sagen, daß weder ein österreichischer, noch ein deutscher Genremaler der neueren Zeit solche lebendige und lebensfähige Werke geschaffen.« Dieser herzhafte und unumwundene Schluß zeigt, wie lebendig der Kritiker das Lebendige des Malers spürte; was vorangeht, ist eben die Meinung der besten Kunstkenner jener akademischen Zeit. Auch ich hätte keine andere gehabt. Bei den »Modernen Amoretten« des eben auftauchenden Makart schreibt er: »Wo dieses jugendliche Talent hinaus will, wissen die Götter. Es steht leider zu befürchten, daß es sich in leerer Virtuosität verlieren werde.« Er hatte das nämliche Gefühl, wie Anselm Feuerbach, der in seinen Aufzeichnungen die schlimmsten Worte für Makart findet. Feuerbach strömte seine Entrüstung in einem ganzen Aufsatz: »Makartismus« aus, dessen Handschrift er eigens Sp. schenkte. (Sie saßen damals oft im Café Schwarzenberg, Heugasse, zu Biere.) Es ist eben nicht leicht, Kaulbach und Rahl restlos zu verdauen, und Cornelius und Genelli (»großer Künstler«, 1854) und die ganze deutsche Kartonwelt. Er fand sich bald zurecht und erwartete die neue Kunst mit offenen Sinnen. Welches Verständnis hatte er dann für Munkácsys »Milton«, Courbets »Steinklopfer«, für jede neue Einfleischung des malerischen Prinzips. Hätte die Moderne ihn noch frisch und streitlustig gefunden, er hätte sich ihr schwerlich verschlossen. Manches lobte er mir rückhaltlos, wenn ich ihn aber bewegen wollte, doch einmal das Seinige über die neuen Dinge zu sagen, hieß es: »Das ist mir alles fremd, ich müßte mich in Menschen und Sachen erst hineinlernen.« Sein letztes[WS 1] Kunstfeuilleton, über Constantin Meunier (10. April 1898), ist geschrieben wie über einen alten Meister, über den es gar keinen Streit geben kann.

In der Musik ist er wohl am meisten kanonisch verblieben. Er hatte Klassikerblut in seinen Adern und war für einen musikalischen Religionswechsel schwer oder gar nicht zu haben. Das waren im Vater- und Mutterhause die ersten Toneindrücke des Säuglings gewesen. Klassische Musik spielte er selbst mit Leidenschaft sein lebenlang. In den edelsten Überlieferungen der Philharmonik, der Kammermusik wogte sein Töneleben dahin. Als er nach Wien kam, erlebte Frau Musica gerade wieder einen Rückfall in die blühendste Jugend. Schubert wurde ausgegraben und von Herbeck auf einen echt vergoldeten Biedermeierthron gesetzt. Man lese einen Sp.schen Artikel über ihn; keine Kritik, sondern etwa »Schubert und die Höldrichsmühle«. Das war immer die recht eigentliche Freude an der Musik, wie sie noch der alte Vater Konrad in Ulm verstanden. Und nun plötzlich all dieses »neue Wesen« ringsum, dieses neue Musikprogramm, diese unbequem anspruchsvollen Innerlichkeiten und Äußerlichkeiten eines neuen Tonevangeliums. Er drückte mir das einmal so aus: »Denken Sie sich, was ein Christ fühlte, als der Islam gegründet wurde«. Wir haben gesehen, wie schon sein erster, noch schüchterner Musikartikel Wagner empfehlend ablehnte. Das blieb dann seine Haltung bis ans Ende. Ohne Zweifel hat persönliche Abneigung dazu beigetragen. Als Wagner in Penzing hauste, gab es Veranlassung genug. Die Geberde des großen Mannes, das Getöse der »Clique«, der Anspruch auf unbedingte Gefolgschaft, all das ging der kraftvollen Selbstfülle einer Sp.schen Persönlichkeit wider den Strich. Sie waren zwei Pole, die sich naturgemäß abstießen. Auch Brahms gegenüber spielte das Persönliche stark mit. Aus so mancher frühen Äußerung schon klingt die Unvereinbarkeit zweier Wesen deutlich hervor. »Ein hervorragender Tonsetzer, eine der hellsten Leuchten der deutschen Musik der Gegenwart« ist er ihm zwar, aber auch »eine viel zu weltkluge, ironische Natur, die viel zu tief in die Menschen hineinschaut, um sich um ihren momentanen Beifall nur etwas zu kümmern«. Damals waren sie einander noch möglich. Später verschärfte sich der Gegensatz immer mehr. Es entstand einer jener langen, aufreibenden, kritischen Kleinkriege, in denen der unerschöpfliche feuilletonistische Witz Sp.s, seine unglaubliche Virtuosität der Nadelstiche sich ein Fest leistete. Und das oft unleidliche Gebaren des Parteigängertums, das sich an diese großen Musikschöpfer heftete, zog ihnen fast noch mehr kritisches Ungemach zu, als ihr eigenes Schaffen. Wobei übrigens auch noch in Anschlag zu bringen, daß Sp. seine Musikkritiken nicht für die »Neue Freie Presse«, sondern für das »Fremden-Blatt« schrieb. Es gab zwei ganz verschiedene Sp.s nebeneinander. In der »N. Fr. Pr.« hielt er den Ton wesentlich höher, im »Frdbl.« durfte und sollte er populär sein. Da war alles Aufmischende willkommen und neue Facetten schliffen sich an Sp.s Schreibart heraus, auch eine göttliche Gaminerie, die ans Witzblatt streifen konnte. Er hatte eben alle erdenklichen Saiten auf seinem Instrument. Und gewisse kleine Bosheiten schmerzten die Betroffenen noch weit mehr als blutige Schwertstreiche, da sie doch wußten, daß sie bei alledem unvernichtbar waren. Wenn er etwa über Hans Richter ganz harmlos schrieb: »Herr Johann Richter dirigierte mit der unerschütterlichen Ruhe eines Holländers.« Wer könnte es so bald feststellen, wie vielerlei kleine und große Menschlichkeiten zusammenwirkten, um ein kritisches Verhältnis festzustellen und in der einmal gewählten Richtung folgerichtig fortzubilden. Auch was an richtigem Sportreiz sich aus vorhandener Schärfe der Feder auslöst, ist nicht gering anzuschlagen. Nur wer selbst solche Feder führt, weiß das genau abzuschätzen. Und das alles ist auch so sehr Temperamentsache; Blutmischung von Hause aus, Tages- und Jahresstimmungen, wichtige seelische Durchgangsmomente spielen mit. Dazu das Bewußtsein, das Gewürz des Blattes zu sein.

Übrigens war Sp., wenn man ihn richtig zu fassen wußte, merkwürdig rasch umzustimmen. Einer intelligenten Vermittlung war er sehr zugänglich. Und dann hatte er einen unerschöpflichen Fonds von Seelengüte, Menschenfreundlichkeit, Humor, und schließlich war der ganze Mensch von einem schimmernden Zauberschleier von Liebenswürdigkeit, Gefälligkeit, Noblesse umwallt. Man konnte an seine Seele heran, auch wenn er nicht recht wollte; er tat dann, als habe man an seinen Verstand oder seine kunstpolitische Einsicht appelliert. So in den Fällen Wilbrandt und Burckhard, im Burgtheater. Ein hübsches Beispiel solcher Umkehr ist aus seinem Verhältnis zu Anton Bruckner anzuführen. Anfangs mochte er ihn gar nicht und ließ ihn wesentlich satirisch an, bis eines Tages Albert Kauders – so erzählt er in seinem Aufsatz: »Speidel als Musikkritiker« – sich ins Mittel legte und ihn zu gründlichem Studium Brucknerscher Partituren bewog. Da war Bruckner gerettet. Es erschien ein herrlicher Artikel voll liebevoll humorisierender Anerkennung (»Meßnerfigur mit dem Imperatorenschädel«). Selbst Richard Wagner wandte er sich gelegentlich mit plötzlich durchbrechendem ästhetischem Gefühl zu. Im Jahre 1883 schrieb er noch einen »Hohnartikel« (Kauders) gegen den »Tristan«, zwölf Jahre später würdigte er das Werk tief eindringend, mit einer Art Selbstaufopferung. Nur zu Brahms fand er keine Brücke mehr; beide waren alt geworden ohne Brücke und behalfen sich ohne einander. Auf den Wagnerkrieg in Wien blicken wir ja heute historisch zurück, leidenschaftslos wie auf eine andere notwendige Naturerscheinung. Das war ein gesundes Erdbeben, wie in jüngster Zeit wieder die Sezession. Morsches ist eingestürzt, Starkes ragt nach wie vor. Eine Weile wird das nun vorhalten. Die Wiener Wagnergegner bildeten jedenfalls eine glänzende Phalanx, die einst gewiß literarische Schätzung genießen wird. Wie heute die Xeniengegner und Werthersatiriker, allerdings minderes Gezücht, richtig gewertet werden, deren Opuscula sogar wieder in authentisch nachgeahmter Originalform ans Licht gelangt sind. Und wie Sp. seinen Wagnerkrieg führte, das wird immer ein geistiges Ergötzen bleiben. Was hätte Lessing getan, wenn er an des braven Hauptpastors Stelle einen Richard Wagner vor sich gehabt hätte? Wie groß wäre er an dem Riesen geworden. Und wie mancherlei Abschattungen kommen in der Kriegführung Sp.s vor. Sogar ausgiebiges Lob, in früher und später Zeit. »Das Libretto ist szenisch ganz meisterhaft gearbeitet«, heißt es von der »Walküre«. Eine »wundersame Harmoniefolge« nennt er die Stelle: »Mir allein weckte das Auge süß sehnender Harm, Tränen und Trost zugleich.« Zugleich freilich: »Im allgemeinen liegt in diesen Leitmotiven eine Armut der Erfindung.« Mit welcher Gründlichkeit analysiert er etwa den neuen »Lohengrin«, in mehreren Fortsetzungen (»Wiener Zeitung«, 1859), allerdings nicht zu Glimpf. Das wurde auch in Leipzig gelesen und jemand schickte ihm von dort als Antwort Hans v. Bronsarts Broschüre: »Musikalische Pflichten«. Die besprach er dann in einem Feuilleton: »Das Geheimnis der Zukunftsmusiker«, nicht ohne zu fragen, wer ihm das Opus geschickt haben möchte. »Sollte es etwa Herr Brendel sein, der tapfere Zukunfts-Haudegen, welcher, seit Richard Wagner aufgekommen, seinen Zopf in ein Schwert verwandelt hat?« In Deutschland fanden nämlich Sp.s kleine Streitschriften lauten Widerhall. Die dortigen Wagnergegner hielten sie in regem Umlauf und meldeten sich gelegentlich auch beim Verfasser. In einem Artikel »Wagneriana« erwähnt er, daß ihm »von mehreren im »Schwan« zu Hochheim versammelten edlen Rheinländern als Zeichen der Anerkennung etliche Flaschen edlen Hochheimers zugesandt worden«. In diesem Aufsatz polemisiert er gegen Julius Fröbel, der (im »Botschafter«) seinen letzten Wagnerartikel »grob« gefunden hatte. Da heißt es: »Das wüste Treiben jener Prätorianer, die sich um Richard Wagner geschart, einer wahren musikalisch-kritischen Schwefelbande, die mit Hui und Pfui über jeden herfährt, der nicht mit vollen Backen in das Zauberhorn der Zukunftsmusik stößt.« Er wehrt sich eben stolz und stark, wenn man will auch »grob«, wider Vergewaltigung. Nun erst recht nicht! Er war jung und frei, und weil er das erste war, wollte er sich das zweite nicht nehmen lassen. Charaktersache. »Wir sind dieser Eine gegen Tausende, die Wagners Posiemusik vorderhand schön finden.« Er findet Wagners Musik nicht einmal deutsch. »Wagners Musik ist dagegen durch und durch äußerlich, im schlechten Sinne sinnlich, gemütlos, kurz undeutsch, und die ihr Wagners Musik bewundert, seid wenigstens in musikalischer Hinsicht die schlechtesten Deutschen.« Und auch Wagner als Person erschien ihm danach. Er, der ein so wunderbarer Porträtmaler mit der Feder war (»Beethovens äußere Erscheinung« u. dgl.) fand bei dem großen ersten Wagnerkonzert in Wien, wo der Meister einen ungeheuren Triumph feierte: »Noch schärfer als früher, prägt sich in seinen Zügen der Doktrinär, der Pedant, der sächsische Schulmeister aus.« 1861 schildert er einmal (»Vaterland« 19. Mai) Wagner in Venedig, in buntem Schlafrock, Hose, Mütze. Dieses Motiv wurde viel später von seinem Freunde Daniel Spitzer, dem »Wiener Spaziergänger«, in dem bekannten Büchlein: »Briefe einer Putzmacherin an Richard Wagner« mit ausführlicherer Lauge übergossen. Dieser Aufsatz ist überhaupt ein elegant gearbeiteter Köcher voll purpurgefiederter Pfeile. »Diese Unendlichkeit der Melodie ist die »schlechte Unendlichkeit« Hegels, ein Ding, man weiß weder wo es anfängt, noch wo es aufhört« – »endlos, nicht unendlich« – »ein Bandwurm, dessen Kopf nicht aufzufinden ist« – »endlose Stammelei« – »W. ist künstlerisch nicht der Ausdruck des deutschen Geistes, sondern nur ein Zerrbild desselben« – »er ist eine innerlichst unproduktive, eine künstliche, hohle, reflektierte Natur« – »Berlioz ungleich bedeutender als er« – »daß Wagners Musik stellenweise anregend wirken und interessieren kann, begreifen wir vollkommen; wer aber in seinen Opern musikalische Befriedigung findet, den muß man ästhetisch ganz und gar verloren geben.« Ein Wort trugen und tragen ihm die Wagnerianer (wie man damals sagte) mit besonderer Unversöhnlichkeit nach, es wird noch jetzt bei Gelegenheit als eine Art Hauptargument wider ihn geschleudert. Das letzte Mal las ich es bei Prof. Volbehr, samt Feststellung des Datums. Das Wort »Affenschande«. Es wurde eben nicht mit Billardkugeln geschossen in diesem Dreißigjährigen Krieg. Ein weiteres Jahrzehnt verging, Bayreuth stand am Horizonte, Wagner war der große Deutsche neben Bismarck. Auch Sp. fühlte es deutlich in seiner stammtreuen Schwabenseele. Da schrieb er den mannhaften Aufsatz: »Richard Wagner und die deutsche Sache« (»Deutsche Zeitung« 1872). Schon zu einem früheren Wagner-Feuilleton hatte er als Feuilletonredakteur die Fußnote geschrieben: »Richard Wagners Sache ist von der deutschen Sache nicht mehr zu trennen.« Nun führt er diesen Gedanken aus. »Eine Eigenschaft hat Richard Wagner bis zur Virtuosität ausgebildet, mit dem zu bezahlen, was er ist… Abgesehen vom Werte oder Unwerte der Wagnerschen Musik, so besitzt sie doch eine positive Eigenschaft. Das Positive an ihr ist, daß sie Begeisterung hervorruft. Wir anderen, die Wagners Musik kühl läßt, wir sind unter der Masse begeisterter Menschen nur Ausnahmen, nur seltsame Käuze… Das deutsche Volk sieht in Wagners Opern seine zeitweiligen musikalischen Ideale verwirklicht und wer sie ihm nehmen wollte – vorausgesetzt, daß er es könnte – würde diesem Volke ein Stück Seele aus dem Leibe reißen.« Er fand sich ab. In demselben Jahre, nach dem großen Wagnerkonzert in Wien, dessen Erfolg er bedingt anerkannte (»Bühne und Orchester vermissen, das ist bei Wagner zu viel«), gönnte er sich doch auch den hübschen Satz über die Juden und ihre Wagnerbegeisterung: »Zwei Dinge sind den Juden nicht abzusprechen: Geld und Geist – ein wohlklingender Stabreim. Aber wenn Wagner winkt, geben sie das eine her, den anderen auf.« Zu dieser Wagnerepisode meiner biographischen Skizze möchte ich nur noch beiläufig bemerken, daß ich in musikalischen Dingen zu keinem Urteil berechtigt bin. Ich möchte kein Thebaner sein, der zwischen zwei streitenden Athenern richten soll.

Das stärkste Ansehen genoß Sp. als Theaterkritiker. Nicht als ob er gerade ein Wiener Theatermensch von seltener Stärke gewesen wäre. Dazu hätte er in Wien geboren sein müssen. Ich halte überhaupt die Literaturkritik für seine eigentliche Stärke. Auch waren seine besten Theaterkritiken immer von stark literarischem Charakter. Wahre Meisterwerke dieser Art, wie jenes Molière-Feuilleton vom 13. Mai 1900, in dem jede Wendung ein Gedanke war, oder vielmehr schien, denn bei aller Bestimmtheit des Wortes war doch kein Gedanke fertig geprägt, er lag aber eingesponnen und man brauchte nur mit der Nadelspitze die Kokons anzustechen, so flatterte es ringsum von den buntesten Flügelkreaturen. Das war eines jener Bravourstücke, wie sie nur einem strotzenden Gehirn entschlüpfen, es weiß selbst nicht wie. Eng beieinander wohnen die Gedanken. Aber Theater war daran das wenigste. Ein merkwürdiges Pröbchen solcher indirekter Theaterkritik war das Feuilleton über den Juristen Dr. Max Burckhard, als er allen unvermutet zum Direktor des Burgtheaters ernannt wurde (1890). Seine Befähigung dazu untersuchte Sp. in Form einer Zergliederung seines großen juristischen Werkes: »System des österreichischen Privatrechts«. Aus diesem heraus stellte er eine ganze Charakteristik des Verfassers auf und wog den neuen Hoftheaterleiter, und was man von ihm zu erwarten habe, bis aufs Quentchen ab. In rein theatralischen oder gar schauspielerischen Dingen hat er oft geirrt (Frl. Barsescu »das Glück des Burgtheaters«), auch vergingen Reihen von Jahren, in denen er die Darstellung eines großen Stückes mit wenigen Zeilen am Schlusse abtat. Aber er hatte über vierzig Jahre lang das Wiener Theater kritisiert, war dessen geschriebenes Gewissen geworden, jedenfalls eine lebendige Chronik des Burgtheaters, mit dem er am innigsten verwuchs, wie er denn auch mit einigen Größen der Burg (Sonnenthal, Gabillons, Mitterwurzers, Robert) alte treue Freundschaft hielt. Es war eine sinnige Überraschung, daß die Direktion beim Abbruch des alten Burgtheaters die beiden »Referentensitze« Speidels aus dem Parkett heraussägen ließ und ihm als Andenken so vieljähriger Benutzung verehrte. Sie standen seither in seiner Wohnung. Sp. und das Wiener Theater waren also untrennbare Begriffe geworden. Nur darum ließ er sich auch bestimmen, diesem Thema zweimal größere Essays zu widmen. In der Festschrift »Wien 1848–1888«, der Stadt Wien zum Vierzigjahrfest des Kaisers, liest man sein Kapitel: »Theater« und in der »Österreichisch-Ungarischen Monarchie in Wort und Bild« die historische Darstellung: »Das Wiener Theater«. Der Herausgeber dieses Werkes, Kronprinz Rudolf, hielt ihn besonders wert und schickte ihm immer wieder durch Hofrat v. Weilen, den Redakteur des Werkes, ein Achtungszeichen in Gestalt eines Viergespannes kolossaler Havannazigarren. Nebenbei kann man sich denken, welche Mühe es die Umgebung Sp.s kostete, ihn dann zur tatsächlichen Abfassung dieser größeren Arbeiten zu pressen. Seine Stellung zum Burgtheater wurde mit der Zeit die eines getreuen Eckart, eines kritischen Schirmherrn. Als Wilbrandt die Direktion niedergelegt hatte (1887), wurde ihm sogar diese Stellung angeboten; er lehnte sie natürlich ab, sein Brief an die Generalintendanz erschien dann in der »Neuen Freien Presse«. »Für das Burgtheater bin ich immer zu Hause«, hieß es da. Und dies war kein leeres Wort. Er bewies es so manches Mal, wenn die Not am höchsten war. Welches Aufsehen erregte sein Feuilleton: »Der neue Direktor des Burgtheaters«, worin er der ausgebrochenen Seuche, für diesen Posten zu kandidieren, ein Ende mit Schrecken machte, indem er alle seither genannten Kandidaten (»mit Überwindung manchen persönlichen Gefühls«, was sich etwa auf Ludwig Gabillon bezog) arg durchhechelte. Am schlimmsten kam Friedrich Uhl weg, am besten Ludwig Doczi, der liebenswürdige Dichter des »Kuß«, obgleich er sich einst in einem sonst sehr würdigenden Speidelfeuilleton die Freiheit genommen hatte, ihm offen »Ungerechtigkeit« vorzuwerfen. Er trug es ihm nicht allzu lange nach. »Der Genius des Burgtheaters, ein zartes Seelchen, will geschont sein«, hieß es da. Und es waren schließlich Worte, »aus deren Schärfe und Milde die Liebe zum Burgtheater leuchtet«. Ein andermal (1889) galt es, nach Eröffnung des neuen Burgtheaters, der allgemeinen Unzufriedenheit mit dem Sehen und Hören darin Ausdruck zu geben. Entweder ein neues Haus oder den Zuschauerraum umbauen, »daß kein Stein auf dem anderen bleibt!« so radikal sprach er das Wort des Augenblicks aus. Und der Zuschauerraum wurde umgebaut, die berüchtigte »Lyraform« beseitigt, die Höhe freilich mußte bleiben; diese Überarbeitung kostete eine halbe Million Gulden.

Auch mit der Geschichte des Burgtheaters hat sich Sp. wiederholt beschäftigt. Seine Parallele: »Holbein und Laube«, zwei große Aufsätze, ist von diesem Schlage. Während aller dieser Direktionen und Umstürze – Laube, Dingelstedt, Wilbrandt, Förster, Burckhard – stand er auf seiner hohen Warte, fern und doch nah, von Direktion zu Direktion an Gewicht wachsend, immer gefürchteter und umworbener, aber unter all den Verlockungen die Würde seines Amtes unverbrüchlich wahrend. Bei besonderen Anlässen griff er hilfreich ein. Als Dingelstedt 1879 Grillparzers »Weh dem, der lügt«, das von den Wienern einst so verhängnisvoll abgelehnte, wieder aufführte, hieß es dem Publikum vorher einen Wink geben. Dies tat Sp. am Morgen der Aufführung, in Ernst und Kürze, und abends wagte kein Zuschauer, den »dummen Galomir« dumm zu finden. Und wem hätte er solchen Liebesdienst lieber getan, als dem großen Wiener Dichter, der seiner Zeit so weit vorausgekommen war, daß erst die Nachwelt ihn einholen konnte? Die schönsten Bilder gehen ihm auf, wenn er an ihn denkt. In dem Feuilleton: »Aus dem Zeitalter Franz Josefs«, zum Fünfzigjahrfest des Kaisers (1898) vermengt er visionär Grillparzer mit Rudolf II. im »Bruderzwist von Habsburg«, in dem so viel Selbstbildnis des Dichters steckt: »Da kommt einem der Dichter so märchenhaft vor, wie ein verwunschener Habsburgischer Prinz, der bei Tage zum Archivdirektor der Hofkammer verdammt sei und nachts Erinnerungen an seine glänzende Vergangenheit niederschreibe.« Und auch für andere edle Wiener Dramatiker hatte er ein Herz. Kam doch immer wieder einer und pochte an die gestrenge Pforte des Burgtheaters um Einlaß. »Warum denn nicht, wenn man ihn spielen kann!« sagte er mir einmal, als der »Verschwender« burgtheaterfähig werden wollte. Das trifft den Nagel auf den Kopf. Sie können ihn freilich nur mehr oder weniger spielen, und eher weniger. »Wenn es in Wien einen Dichter gegeben hat, so ist es Raimund gewesen«, schreibt er einmal. Auch für Anzengruber tritt er ein, immerhin bedingt; samt Mundart. »Wir denken schriftdeutsch, aber wir fühlen in der Mundart.« Er hielt ihn als Dramatiker sehr hoch. »Solange Anzengruber geschrieben, hat kein anderer deutscher Dichter gediegeneren Inhalt in dramatische Formen hineingelegt.« Freilich, wiederum die Unzulänglichkeit eines Theaters, an dem immer nur der eine (Mitterwurzer, allenfalls Kainz) oder die andere (Schratt) dem Dichter gerecht werden konnte. »Ihn im Burgtheater aufzuführen, hätte einen Sinn, wenn es den anderen Theatern Musteraufführungen bieten könnte.« Auch »Der Kampf um das vierte Gebot« fand Sp. natürlich auf Seite des Dichters. Wenn einst die Schriften Sp.s gesammelt vorliegen, wird es voraussichtlich Monographien über ihn regnen. Dann wird es auch an der Zeit sein, ihn in seinem Verhältnis zum Burgtheater gerecht zu würdigen. Und zu Shakespeare, den deutschen Klassikern, den Modernen, was ja alles urkundlich zu belegen sein wird. Mein kurzer Abriß kann sich nur auf Andeutungen beschränken. Die Moderne hat Sp. jedenfalls im Theater am bereitwilligsten angenommen. Bequem war sie ihm zwar auch da nicht, namentlich traute er manchem großen Dichter Neu-Berlins nicht über den Weg. Und dann wieder war er förmlich froh, wenn er von der Leber weg loben konnte, etwa Hauptmanns »Hannele«; konnte sich aber dabei doch eines Kraftwortes aus mehr hahnebüchener Zeit nicht enthalten, das ich aus dem Gedächtnis zitiere: »Und so ist auf dem Misthaufen doch noch eine schöne Blume erwachsen.« Gar manche Bemerkung in Gesprächen über dieses Thema ließ deutlich erkennen, daß er den Neuen viel Glück wünschte, insbesondere aber, wie er einmal auch ausdrücklich sagte, viel Talent. »Das Burgtheater, das zwischen Vergangenheit und Zukunft unentschieden schwebt«, war doch eine seiner Lebenssorgen, und er war schon zu alt, um Rat zu wissen. Er freute sich noch der so ganz anderen Leistungen eines Mitterwurzer, die von einem Teile der Kritik Fall für Fall vernichtet wurden. Die Sympathischen sagten dann: »Die beiden Ludwige« (mit dem anderen war meine Wenigkeit gemeint) »haben wieder das Ihrige getan.« Für Ibsen, den man im Burgtheater lange nur mit Vorsicht genoß und mehr mit seinen altmodischeren Sachen aufführte, hätte er gerne Lanzen gebrochen. In den stärksten Worten sprach er für die »Gespenster«, als sie noch allgemein für eine Schrecklichkeit ohnegleichen galten. »Ibsen gehört zu den Geistern, die nach den Wurzeln der Dinge graben und sie zugleich zu einer Höhe wachsen lassen, wohin keine Wirklichkeit reicht.« (Zu John Gabriel Borkman.) Und er schrieb es auch klipp und klar hin, daß die Zeit ihr Drama haben will. Das Burgtheater hat die »edlere Aufgabe, in die merkwürdige Phantasiewelt eines nicht mehr abzuweisenden Dichters einzuführen«. Nicht mehr abzuweisend. Das konnte nicht mehr das Programm eines Lebenden sein, ist aber das Vermächtnis eines Toten. Sp. hatte sich für die Moderne entschieden.

Sp. als Kritiker, das ist ein anziehendes Problem, aber nicht nach dem Einmaleins auszurechnen. Es mag schon etwas daran sein, was Jakob Minor nach seinem Tode schrieb: er sei kein Kritiker gewesen, sondern Schriftsteller. Eine starke vollsaftige Persönlichkeit, die annahm oder abwies, was ihr genehm oder ungenehm war. Ich kann nicht anders, als ich kann. Objektiv oder subjektiv (ich übersetze: sachlich oder ichlich), das sind leere Worte. Ich leugne überhaupt jede objektive Kritik. Es kann höchstens den Willen dazu geben, die Absicht. Ich sage nicht einmal: die gute Absicht, denn warum gut? Meinem Ich gemäß, das ist das einzig in der Natur begründete. Auch mit sachlichsten Absichten wird das Werk auf jedes Ich nach Maßgabe seiner Ichlichkeit wirken. Und zwar, wie dieses Ich gerade in dem Augenblick gestimmt ist. Von zehn zu zehn Lebensjahren immer anders, auf den Verliebten anders als auf den silbernen Hochzeiter. Wenn zehn Landschafter das nämliche Motiv malen, werden zehn verschiedene Landschaften daraus. Auch Lessing konnte die Stücke von x oder y, die er kritisierte, nur lessingisch empfinden. Ist vollends eine Natur gewohnt, sich durchzusetzen, Recht zu behalten, wie der Großkritiker einer künstlerischen Großstadt, so ist er seine eigene kritische Rechtsquelle. Wer kann wider ihn? Er ist der Klügere, Wissendere, Feinfühligere, er ist der Suggestivste von allen, die eine Meinung äußern. Die Wiener Kritik hatte in der Blüte der Speidelzeit, von 1875 etwa bis 1895, eine Art Heroenzeitalter. Ein souveräner kritischer Geist gab den Ton an. Selbst zahmere Kritiker versuchten mit Blut zu schreiben. Im Jahre 1880, als ich mit ihm bei den Münchner Mustergastspielen war, sah ich es aus nächster Nähe, wie für das Theater »in Wien gutes und schlechtes Wetter gemacht« wurde. In einem Briefe an seine Frau (7. Juli) schreibt er: »während ich wegen meines aufrichtigen Urteils in München vielfach verwünscht werde«. Sie waren draußen eine weit konventionellere Kritik gewohnt. Bei ihm war es noch immer die scharfe Frische, die durch die Kaulbachsche Erziehung gegangen war. Von der erwähnten »Verwienerung« keine Spur. Im Gegenteil, schwäbische Derbheit blieb bis ans Ende der Kern seines Wesens. Sie ist aus ihm so wenig hinwegzudenken, wie aus dem V-Vischer, und bei beiden vertrug sie sich ganz gut mit weichem Gemüt und warmem Herzen. Auch war dieser Kulturmensch von allen Feinheiten bis ans Ende ein Stück Volk. Hartnäckig in seinen Neigungen und Abneigungen, und dann wieder kinderleicht herumzukriegen, durch eine Naivität, die ihm einging, oder auch durch eine Schlauheit, die ihn zu fassen wußte. Das Kapitel vom persönlichen Moment ist bei ihm lang, aber das Gegenteil von unrühmlich. Schwabenvolk, schwabenstreichefähig, der Naturbursche in ihm nie ganz auszurotten. Hatte er doch das Vorrecht, nie einen Frack anzuziehen. Er behandelte selbst die Mode, wie es ihm paßte. Er trug seine eigene schwarze schmale Halsbinde im Matrosenknoten geschlungen und frei herabhängend. Und hatte seinen Spaß an Schwänken, über die seinesgleichen hoch erhaben zu sein pflegt. Was konnte er noch mit weißen Haaren über eine populäre Schnurre aus der Jugendzeit lachen, wenn er mir sie erzählte. Zum Beispiel: »Blaue Hosen sein schie; wenn’s regn’t, wer’ns grie.« Und hielt sich den Bauch. Ein anderer Zug: sein Verhältnis zu seinem Kater »Tristan«, einem wunderbaren Tier, das einem seiner vielen nächtlichen Abenteuer zum Opfer fiel. Sp. beweinte ihn wie einen Menschen. Er erinnert mich an Anselm Feuerbach und seinen geliebten Kater »Merlin«. In einem Briefe an seine Mutter kündigt er seine Heimkehr mit den Worten an: »Freitag bin ich bei Merlin.« (Allgeyer II. 269.) So war Sp. Einfalt war in ihm und Weisheit; ein mannhafter Mann und ein kindliches Kind. Man brauchte ihn bloß lachen zu hören, hellauf, mit Silberklang, über ganz harmlose Sachen, in denen er augenscheinlich mehr Kitzliges spürte als gewöhnliche Zwerchfellmenschen, und man ahnte sofort, daß er »auch Einer« war. Ein »Eigener«, der gar nie unrecht haben konnte, weil man von ihm nicht verlangen konnte, daß er sich einen fremden Gesichtswinkel ins Auge setze.

Überhaupt ist er eine der schlagendsten Widerlegungen der selbst von Kritikern geäußerten Ansicht, daß die Kritik an sich schon tiefer stehe als die »Produktion«. Das hängt eben vom Wert des Kritikers ab. Eine Sp.sche Kritik über ein Mosenthalsches Machwerk konnte ein Meisterwerk sein. Wer war nun der Produktive, Sp. oder Mosenthal? Unter den Handwerkern der Feder ist dieses Vorurteil eingerissen: X schreibt ja bloß über das, was Y schon geschrieben hat. Selbst in der Einleitung einer der jüngsten Literaturgeschichten glaubt Verfasser den »Produzierenden« gegenüber so bescheiden sein zu müssen. Mir schwebt bei dem Thema immer ein Bild vor: der geniale Kritiker, der über die Schöpfung eines anderen schreibt, ist wie Makart, der aus einem kostbaren Goldbrokatstoff ein prächtiges Kostüm zurechtschneidert. Oder meinetwegen wie ein Meisterschneider, der das nämliche tut; in seinem Fach ein Makart. Der Brokat mag ein Kunstwerk sein, das Kostüm ist es auch und kommt ins Museum. Übrigens sind die besten Kritiken Sp.s wahre Muster dessen, was man zu seiner Zeit und angesichts seiner Urteilsfällungen anfing die »produktive Kritik« zu nennen. Er selbst hat sich über dieses Thema schon sehr früh und noch sehr bescheiden geäußert, im Nekrolog des französischen Kunstkritikers Gustave Planche (1857):

»Unproduktivität ist der Hauptvorwurf, den man gegen die Kritik vorbringt. Er entspringt aus einem doppelten Mißverständnis: einmal, indem man die Aufgabe der Kritik, und dann, indem man das Wesen der Produktion verkennt. Kritik besteht weder in Lob noch in Tadel. Lobt oder tadelt sie, so ist ihr das nicht Zweck, sondern bloß eines ihrer Mittel. Lob und Tadel ist nur die helle oder dunkle Farbe, welche das Urteil annimmt, und Urteil ist die Seele der Kritik. Tadeln, man mag es zugeben, ist leicht; es ist so leicht (und was ist leichter?) als loben. Aber tadeln mit Verstand, das ist doch das leichte Ding nicht, wofür man es gemeinhin ausgibt. Urteilskraft im höchsten Sinn ist ein so seltenes Kraut wie Genialität. Oder weisen die Annalen der Kunst und Literatur eine reichere Fülle großer Kritiker auf als großer Dichter und Künstler? Das Verhältnis ist eher umgekehrt. Auf unsere Klopstock, Goethe, Schiller haben wir nur einen Lessing. Diese Tatsache, kann man einwenden, spricht aber gerade gegen den Wert der Kritik überhaupt, und insbesondere gegen den Wert der heutigen Kritik – denn wo ist euer Lessing? Die Antwort ist uns leicht gemacht. Wir antworten fragend: Wo ist Klopstock, wo Goethe? Man darf dreist behaupten, die Klopstock und Goethe von heute haben ihre Lessinge gefunden. Ja, die Gegenwart hat mehr Verstand als Genie – ein Übergewicht indessen, worauf der Verstand wenig Ursache hat stolz zu sein. Die Kritik ist freilich nicht produktiv in dem Sinne, daß sie, wie Kunst und Dichtung, aus dem Ursprünglichen herausarbeitet. Mit einem Worte: sie schafft nicht. Ihr Zweck ist vielmehr das Begreifen eines Werkes, ihr Organ der Verstand, die Form ihrer Äußerung das Urteil. Allein als ein Hilfsmittel der Produktion wird man sie wohl müssen gelten lassen. (Er zitiert Lessing, der sich für keinen Dichter hält, als Muster für kritikfeindliche Herren, die nicht würdig, ihm die Schuhriemen aufzulösen.) Aber auch an und für sich ist die Kritik produktiv. Börnes Theaterkritiken stehen manchmal als Produktion höher als die Theaterstücke, die sie behandeln. (Houwalds »Bild« und »Leuchtturm« – Lessing und Goeze usw.) Jene Produzenten sind vergessen, der Kritiker lebt fort und wird fortleben, solange noch ein deutsches Wort erklingt.« In späteren Jahren hätte Sp. dies in siegreicherer Tonart geschrieben; er selbst war sein Argument geworden.

Und er war ja, wie Lessing, Dichter. Ganz köstlich konnten manchmal seine zwei Eigenschaften ineinander spielen. In einem jener Stimmungsbilder von den Weinhügeln um Wien, über Nußdorf oder Sievering, schildert er die Lerche. Wie sie im Blau schwebt und singt, wie sie ist und tut, ganz und gar. Dabei dichtet und kritisiert er zugleich, die Lerche wird ihm zur Sängerin, das Gedicht durchdringt sich mit Rezension, Natur und Theater kennen sich nicht mehr voneinander, und das Ganze hat einer geschrieben, ein Lyriker und Schalk dazu. Ein Kabinettstück seines feinsten Kulturhumors; eines seiner mancherlei Humore. Selbst die sogenannte Leier wurde ihm ja nie ganz fremd. Wenn das Herz ihn trieb, strömte er noch in sehr reifen Jahren den Überschwang in Reimen und Rhythmen aus. Die wundersam gestimmten Strophen aus Adriach bei Frohnleiten (Steiermark) sind zwar Handschrift geblieben, manches aber ließ er als Flugblatt für Freunde drucken. So das tiefe, fast selbstbiographische Gedicht: »Auf der Höhe« (»zur Erinnerung an Wilhelm Schenner«, Frohnleiten, 16. September 1891). Schenner war sein Jugendfreund aus Ulm, später Professor der Musik in Wien. Oder jenes furchtbare Hohn- und Strafgedicht: »Goethe und die Goetheforscherei«, worin er den Knittelvers mit mehr als Hans Sachsscher Wucht und schier mehr als Sp.schem Grimm um die Schädel der banausischen Goetheschnüffler sausen läßt. Er war ein Dichter von Herzenssachen. Für das Publikum mochte er nicht dichten. Freilich, die Zeitung zwang ihn dazu, in allerlei Tagesformen. Wenn Weihnachten kam, oder Ostern, buchstäblich alle heiligen Zeiten einmal, schrieb er ein Feuilleton, das allerdings ein Gedicht war. Den biederen Typus des sogenannten Weihnachtsfeuilletons, mit seiner obligaten Gelegenheitsmäßigkeit, machte er in Wien ein für allemal unmöglich. Nun galt es an solchen Tagen plötzlich Tiefe haben, Natur, Wärme, Menschlichkeit, Stimmung. Wer hatte das alles, so wie er? Und Humor dazu, dieses in seiner Unbestimmtheit so wirkliche Etwas, über alle Tragik und Komik hinaus, die irrationale Zahl in der geistigen Lebensrechnung. Das waren rechte Festmorgen des Lesers. Und der Leserin. Der Wienerin, für welche dieser Schwabe so viel übrig hatte, die er so mit dem Herzen verstand. »Das Beste, was die Wiener besitzen, sind ihre Frauen«, schrieb er einst in jenem Meisterwerk aus dem Leben geschöpfter Stimmungsprosa: »Eine Wienerin.« Das war eigentlich der Nekrolog einer Frau; Cölestine Bösendorfers, der Gattin seines alten Freundes Ludwig Bösendorfer. Einer edlen Dame und einfachen Frau. Als ob es eine einfache Frau gäbe! »Man lernt schon eine einzige Frau nie ganz kennen« (ich zitiere aus dem Gedächtnis), schrieb er einst. »Was ist doch ein Mädchen für ein oberflächliches und zugleich tiefes Ding«, steht in einem seiner geheimsten Tagebuchheftchen. Er bewunderte die Frau zeitlebens als Krone der Schöpfung, bis in ihre physischesten Arrangements hinein. So in dem Feuilleton: »Weibesschönheit«: »Wenn man die schlauen Gänge und den Situationswitz der Natur überdenkt, so ist das Weib das Meisterstück der Schöpfung… Ein System von Zwecken, aber das wundervollste, das in dieser Welt zu erspähen.« Und dann wieder einmal scherzend, mit dem scharfen Jägerblick für die Natürlichkeiten aller Geschöpfe, wenn er etwa vom breit hintappenden Gang der Venezianerin sagt: »als hätte sie Schwimmhäute zwischen den Zehen«. Aus diesem tiefen, elementaren und doch wieder abschätzenden Mannesgefühl für das Weib, aus dieser Triebhaftigkeit des Verständnisses für das Geschlecht, flossen dann gewisse lebensphilosophische Festdichtungen, die man auch nur Feuilletons nannte. »Frauenalter«, »Für die Wienerinnen«, »Fanny Elßlers Fuß«, »Hans Makart und die Frauen«, »Ohne Mutter« (»Die Mütter sind überall zugegen, und müßten sie das Grabgewölbe durchbrechen«), die märchenartige Novellette »Spiegelbilder«, »Die Kunst, arm zu werden«, aber auch einige spätere Nekrologe, über Helene Hartmann etwa und Charlotte Wolter. Selbst auf der Reise trat ihm gelegentlich eine solche Weiblichkeit entgegen und regte ihn zum Formen an; etwa die alte polnische Gräfin in Krapina-Teplitz, wo er öfters zur Kur weilte. Das ergreifendste dieser Stücke heißt »Alte Mädchen« (1876). Wie viele stille Tränen schmerzlich süßen Trostes und elegischer Ergebung haben dieses Zeitungsfeuilleton benetzt. In wie vielen Ausschnitten, mit arbeitgewohnter Schere, ruht es auf dem Grunde irgend welches altjüngferlichen Reliquienschreines weithin durch das große Wien. Aus wie vielen einsam stillen Herzen heraus ist dieses Feuilleton geschrieben. Den »Pindar der alten Jungfern« nennt er sich hinterdrein einmal, im Scherz über die eigene Bewegtheit. Und wer für das Weib fühlt, fühlt auch für das Kind. »Ein Fatschenkindlein, kaum vierzehn Tage alt, ist der Held dieses liebenswürdigen Gemäldes«, heißt es in einem frühen Weihnachtsfeuilleton: »Aus der Kinderstube.« Und Weihnachten 1872: »Wir glauben Kinder zu machen und werden von ihnen gemacht, wir glauben Kinder zu erziehen und werden von ihnen erzogen.« Ein wahres Kinderfest ist es ihm sogar, wenn er schildert, wie Mitterwurzer einem erwachsenen Publikum Märchen vorliest (»Märchenhaftes«). Wenn er solche intime Dinge schreibt, steht er so mitten in ihnen, zugleich aber hoch darüber, mit dem Blick hinab und hinein und hindurch bis auf den Grund. Das ist der eigentümliche Charakter dieser so esoterisch anmutenden Schriften. Er ist ein Durchschauer, darum sieht er auch sofort das Undurchschaubare. In allen diesen anscheinend so offenbaren Dingen geht ihm das Geheimnis auf und rührt ihn mit leisen Schauern an, die hinüberzittern in die Nerven des Lesers. Wie ratlos steht er dann vor dem Mysterium, und auch diese Attitüde ist eine ihm eigene. Und die leise, kaum einbekannte Rührung ob dieser Ratlosigkeit. Seit Jean Paul ist in deutscher Sprache solches nicht geschrieben worden. In englischer eher; Carlyle, Emerson, Ruskin.

Auch seinen Freunden hat er solche kleine Denkmäler gesetzt. Ich sage Freunden, aber das Wort spielt in allerlei Schattierungen. Der Begriff reicht vom Schulkameraden Schenner bis zum Stammtischgenossen (der stille, ehrenfeste Kaufmann Ludwig fällt mir ein), von der lauteren Cölestine bis zum einsamen Spatzen, dessen öde Weihnachten er schilderte. »Einsame Spatzen«, ja, das ist wieder eines jener unvergeßlichen Feuilletons, von denen die Generation spricht, so lange sie eben noch am Leben ist. Der Held dieser ganz besonderen Stimmungsstudie ist nicht genannt. Es war einer meiner Kollegen vom Wiener »Fremden-Blatt«, Ludwig Porges. Ein schlichter, treuer Mann, nicht ohne eigenen Zug von angesäuerter Lebensfreude und resigniertem Trost im Humpen. Nebenbei Jude, getauft, aber mit plötzlichen jüdischen Jahren zwischendurch; wer kennt die Schleichwege des Gemüts und seiner Atavismen? Er hatte in der Redaktion einen großen Käfig stehen, mit einer aus Dalmatien zugesandten Schwarzdrossel oder Blauamsel (ich bin kein Ornithologe), die in der Mundart »einsamer Spatz« heißt. Jahrelang saß der dunkle Vogel in dem großen Käfig und wenn er sang, liefen dem alten verwitterten Junggesellen am beklecksten Bureautisch, dem verwittwet geborenen Tintenkuli mit der rostigen Schere in der Hand, dicke Tränen über die Backen. Der einsame Spatz war dem einsamen Spatzen eine Rührung. Zu seinem Leichenbegängnis ging Sp. natürlich nicht. Er ging überhaupt mit keinem Toten. Er haßte den Tod und wollte nichts von ihm hören. Wie Goethe, der nicht einmal zu bewegen war, die Leiche Schillers anzuschauen. Dann aber kam wohl ein Augenblick, da erwies er dem Toten die letzte Ehre in seiner Weise. Trat unangemeldet an sein Grab, der Stein und der Name darauf gleich unscheinbar, und schrieb über den Mann … eine Wiener Stimmungslandschaft. »Auf freier Höhe« heißt das wunderliebe Spazierfeuilleton, dessen Ziel der idyllenhafte Friedhof auf der Türkenschanze ist. An Porges’ Grabe setzt er sich und spricht lange mit ihm, als wären sie noch beide lebendig oder schon beide tot. »Er war, wie die Schrift sagt, ein gerechter Israeliter.« Und zuletzt: »Ich könnte ihn nennen, aber wozu? Er war ein bescheidener Journalist. Ich ehre seine Bescheidenheit, indem ich ihn nicht nenne.« Ein gefaßtes, stilles Gedenken, eine Gegenwart, die von einer Abwesenheit durchdrungen ist. Manchmal mehr nekrologisch gefärbt, aber doch immer mehr am inneren, privaten Menschen haftend, aus ihm heraus spinnend. Man denke an die Feuilletons über den Bildhauer Heinrich Natter, die treue Seele, über den musikgelehrten Kauz Gustav Nottebohm, über Anselm Feuerbach, den Satiriker Daniel Spitzer. Manchmal nekrologisierte er sie gleichsam schon zu Lebzeiten, gleich büschelweise: »Ein Wiener Stammtisch« (im alten »Winterbierhaus«), oder in peripatetischer Sommerlichkeit in einer jener geschriebenen Landpartien um den Kahlenberg herum: »Auf der Höhe von Liesing« (Mai 1872), wo ihn eine Menge Freunde oder Zeitgenossen unsichtbar begleiten: Finanzminister Brestl, Bernhard Scholz, Martin Greif, Johannes Ziegler, Ludwig Steub, jeder mit unverkennbaren Lebenszeichen sich kundgebend. Er war ja so ein Medium. Und auf dem »Liesinger Felsenkeller« versammelt er die Körperlosen um sich und tauscht mit ihnen »Biergedanken«. Er wird nicht müde, diese anmutigsten der denkbaren Hügel zu bewandern; nur Weinhügel können so in geistigem Reize schimmern. »Wer kennt nicht die Goldene Krone zu Gumpoldskirchen?« fragt er einmal in »Stilleben im Wienerwald«, einer novellistisch durchsetzten Feuilletonfolge aus früherer Zeit. Klassische Hügel und Täler. Mit noch ganz anderen alten Freunden durchstreift er sie oft. »Beethoven in Heiligenstadt« (noch 1907, jedenfalls variierter Neudruck), »Franz Schubert in der Höldrichsmühle« (Hinterbrühl bei Mödling). Beethoven ist überhaupt einer der Götter seines Lebens. »Beethovens äußere Erscheinung« ist so einer seiner Feiertagsartikel; kann es etwas Festlicheres geben, als sich Beethoven vorzustellen, wie er war und nun bleiben wird? Die Max Klingersche Vorstellung freilich ging ihm weniger ein. Wer so stark ist, daß er sich seinen eigenen Beethoven machen kann, dem gefällt der eines andern nicht. Klinger empfand den Menschen in Göttergestalt, Sp. den Gott in Menschengestalt. Er spürte auch das »Biedere« der Biederzeit in ihm und das war ihm nur noch ein menschlicher Reiz mehr. Das gewisse Altmodische (was ist denn archaisch anders?), das alle Heiligkeit hat; und für uns projiziert sich das eben chronologisch in die Biedermeierzeit hinein. Kein Wunder, daß gelegentlich einer den ganzen Sp. zu »bieder« sah und seine Vormärzlichkeit lobte. In einem der neuesten Jubiläumswerke über Wien wird gar festgestellt, er habe dergleichen »in Wielands Art geschildert«. Warum nicht gar!

Stimmungskunst, das ist das innerste Wesen dessen, was wir heute modern nennen. Als großer Stimmungskünstler war auch Sp. durchaus modern. In seinem Stil eher Plastiker als Kolorist, wie die ganze neuere alemannische Literatur, von Ulm bis Seldwyla hinab, war er doch ganz vergoldet von den weicheren, westlichen Luftströmungen. Darum hatte er auch so das Talent, sich einzuwienern, obgleich er keineswegs nach jener Münchner Befürchtung verwienerte. In einer Reihe seiner Stimmungsfeuilletons nun erhob er sich bis zu Höhen historischer Stimmung, von denen ein Gregorovius etwa (der ihm überhaupt zu preziös war) keine Ahnung hatte. Schon in jüngeren Jahren fehlte es nicht an Anlässen, höchste deutsche Warten zu erklimmen und von da aus die Zeit zu betrachten. Das sittliche Moment war ihm ohnehin immer der natürliche Hintergrund des Schaffens. Er liebte es und verzieh es, wenn es dann einmal nicht gerade zu künstlerischer Mitwirkung gelangte. Zu Schiller schrieb er einst: »Der Deutsche mag sich gern den Vorwurf gefallen lassen, daß er das Sittliche und Poetische nicht zu trennen verstehe. Es liegt nun einmal in unserer Art, von der Poesie ein wenig etwas wie Erbauung zu verlangen.« Da kam denn auch die Zeit der mächtigen deutschen Stimmungen über ihn. Im »großen Weltjahre 1870« schrieb er jenes Feuilleton: »Der Gott im deutschen Lager.« Einen Lobgesang auf Armut und Arbeit der Deutschen; das ist der Gott in ihrem Lager, der sie groß und stark gemacht hat. Glänzende Schillertage kamen, zuletzt noch der 3. Juli 1904, und verlangten ihn. »Wo zwei Deutsche beieinander sind, da ist Schiller mitten unter ihnen.« Er hatte über Schiller in gar verschiedene Zeitungen zu schreiben, auch in die kaiserliche »Wiener Zeitung«. Es ist sehr interessant, wie er sich da eigens auf die Definition der Schillerschen Freiheit wirft, die so stark mit Ordnung und Gesetz synonym war. »Schiller als Partei-Name« heißt der Aufsatz (Abendblatt der W. Ztg. 18. November 1859). »Freiheit im Sinne eines Partei-Spitznamens« sei nicht nach Schillers Sinne, dessen Tell »Wiederherstellung der durch persönliche Zwingherrschaft vernichteten gesetzlichen Zustände« angestrebt habe. »Der Ehrenbürger der französischen Republik bezeichnete jene Männer auf gut schwäbisch als »elende Schinderknechte« und verschloß sich gegen die französische Revolution ebenso wie sein Freund Goethe.« Erst mit der inneren Reife, bei endgültig gefestigten äußeren Lebensumständen, fand er den ihm naturgemäßen Standpunkt und sprach wie von Souverän zu Souverän. Ich könnte ebenso gut sagen: von Deutschem zu Deutschem. Nie ist er so ganz Sp., als wenn er von einem starken deutschen Manne sagt und dessen innere[WS 2] und äußere Natur aufbauend mißt und begreift. Die Schriftsteller liegen ihm ja ganz besonders; die Schiller, Vischer, Jakob Grimm, D. F. Strauß, Uhland, Freytag, auch Andreas Schmeller und sein bayrisches Wörterbuch. »Das Heimatsgefühl der Brüder Grimm« ist ihm noch ein besonderer Weihnachtsstoff geworden. Da ist er ganz und gar in seinem Element. Literarische, philosophische, kritische Selbstmänner. Je mehr Kernmensch, ihm desto genehmer. Selbst der Jude schreckt ihn nicht. Moses Mendelssohn, Heinrich Heine, dem er sein Denkmal heischt, und Ludwig Börne, dem er im Auftrage des Wiener Schriftstellervereins »Concordia« die Festrede schrieb, »gegen den Sturm, der mir ins Gesicht weht« (in antisemitischer Zeit). »Nein, ich kann nicht glauben, daß Börne tot sei.«? Er steht »an der Spitze der Geister, die verneinen, aber er verneint nur, um für die Zukunft Raum zu schaffen«. Ins Monumentale geht er, wenn er von Ulrich Zwingli schreibt, dem sein Freund Natter in Zürich das Denkmal gesetzt. Und ins Monumentalste, wenn er Martin Luther feiert (1883), der Katholik den Protestanten. »Reicher, als man glaubt und nicht in wenige Worte zu fassen«, schreibt er unwillkürlich hin, wie ihm dieser Stoff unter den Händen ins Ungeheure schwillt. Seine Töchter erinnern sich noch genau an den Tag, an dem »Papa über Martin Luther schrieb«. Den ganzen Tag herrschte eine feierlich gehobene Stimmung in der Familie, kein Laut war zu hören, Andacht machte das Haus zur Kirche. Und als der Gottesdienst dieser Arbeit zu Ende war, zog stiller Jubel ein. Weib und Kinder verehrten ihn grenzenlos.

Deutsch, im Sinne der Klassikerzeit, war auch sein lebenslanges Festsitzen. Er war die eingefleischte Seßhaftigkeit. Sein Sehkreis war eigentlich ein Stubenhorizont, wenn auch die Stube hoch lag und weit in die Runde sah. Nicht bis ans Ende der Welt, aber hoch in den Himmel hinauf. Er kannte die Weltstädte draußen weniger gut als die Weltkörper droben. Nach jener Londoner Reise kommen erst spät weitere Flüge. Allein schwang er sich zu solchen Abenteuern überhaupt nicht auf. Wenn sich eine Lokomotive wie Heinrich Natter vorspannte, ließ er sich allenfalls auch nach Italien remorkieren, aber es kam erst 1888 dazu. Vorher hatte er bloß die Schwelle betreten, auch wiederholt mit der Familie im heißen Bade zu Battaglia, bei Padua, geweilt. Ein vorzügliches Feuilleton von dort gleicht einem abgeblendeten Zimmer, in das durch Ritzen allerhand unglaublich Lichtglühendes fällt. Es ist auf Albrecht Dürers Wort gestimmt: »Wie wird mich nach der Sonnen frieren!« Auch in die nahen Euganeen fuhren sie, nach Arquà, die Petrarca-Stätte. Mit Natter kam er bis nach Rom. Einige Stellen aus Briefen an seine Frau deuten den Eindruck an. Rom, 19. April: »Wir sind sechs Tage in Florenz geblieben, dann je einen Tag in Siena und Assisi – beim heiligen Franz – zugebracht. Venedig hat uns auch drei Tage gekostet. Wir haben viel gesehen, fast zu viel, und eine Masse Makkaroni, vorzügliche, gegessen, die nur noch besser sind, wenn Du sie bereitest. Von Rom habe ich noch keinen Eindruck, er wird kommen. Hotel Aliberti, via Margutta.« (Er hatte in vier Hotels kein Zimmer bekommen.) Rom, 20. April: »Beim Anblick vom Moses brach Natter so heftig in Tränen aus, daß er sich zehn Minuten lang hinter einem Pfeiler unsichtbar verbarg. Hier in Rom ist alles viel einfacher und größer, als man es sich aus der Ferne denkt; Michelangelo, Raffael und die ganze Stadt. Worte und Abbildungen helfen wenig, wie ja auch der Mensch immer ein anderer ist, wenn man ihn nach dem Hörensagen persönlich kennen lernt.« Aus Venedig, im April: »In Venedig, das mir wieder unglaublich gefiel, bin ich im Pelzrock herumgegangen.« Er war voll gesogen und gewiß des Eindruckes froh, dennoch schreibt er auf der Rückreise (Bergamo, 1. Mai): »Ich bin müde und werde so bald nicht wieder reisen. Reisen ist nicht mein Talent, ich bin eine viel zu beschauliche Natur, als daß ich mich jeden Augenblick durch die Außenwelt möchte aufschrecken lassen.« In seinen jungen Wiener Jahren muß er sich wenigstens zu Abstechern nach Salzburg, Prag, Pest aufraffen, von wo er Sommerfeuilletons oder Musikberichte schreibt. 1880 waren wir zusammen bei den berühmt gebliebenen Mustergastspielen in München. Dort schloß sich ihm besonders Wilhelm Trübner an, und er hatte auch eine Audienz beim Prinzen Karl. Er machte dann mit mir und meiner Schwester den Ausflug zum Spiel nach Oberammergau. (Das Feuilleton darüber schrieb er freilich erst zu nächsten Weihnachten.) Er war ein sehr bekömmlicher Reisegefährte und hatte eine Riesenfreude an der Natur. Am liebsten saß er auf dem Bock und genoß sie aus der »Kutscherperspektive«. Im Ettaler Bräustübel, wie auch auf den luftigen Sommerkellern der Theresienwiese hat er uns manche Stunde so recht auf Altmünchen gestimmt. Ich sehe ihn noch, wie er mit dem Daumen in den Maßkrug fährt und den Schaum herausschleudert. Und wie er den weißen Rettig kunstgerecht tranchiert, mit der Rettigmaschine natürlich, deren Spiraldrehung und die Entstehung der »unendlichen Kringel« einen feierlich kosmischen Unter- oder Übersinn bekam. In den Jahren 1883 und 1886 schrieb er aus Berlin über das Deutsche Theater, über eine Jubelausstellung. Seine anmutige Reiselaune macht übrigens seine Briefe an die Familie ungemein erquicklich. Und sie sind es so ohne Absicht. (»Kraft ist die Wurzel der Anmut«, schrieb er einst in jenem Aufsatz über Fanny Elßlers Bein.) Da heißt es an Frau Leontine: »Nicht wahr, die Ferne idealisiert und auf fünfzig Meilen bin ich ein ganz lieber Kerl? Ich werde Dich also nächsten Donnerstag entzaubern, wo ich mich Strohgasse 1 im dritten Stock einfinde.« (Ulm, 24. Juli 1872.) Und an eine jüngere Dame, eigens als Postskriptum: »Du bist ein gutes Mädchen, aber dumm vor lauter Gescheitheit. Das Alter wird das bessern und Du wirst gescheit werden vor lauter Dummheit.«

Über den Stil Sp.s ist nach allem Bisherigen weiter wenig zu sagen. Er ist einfach, sinnlich und deutsch. Es ist keinerlei Geflunker und Gekräusel daran, alles soll in seiner natürlichen, wie selbstverständlichen Form gesagt sein, ohne Zuviel noch Zuwenig. Ohne wirksame Geberde oder aufgepflanzte Körperhaltung, ohne Rednerei und papiernen Schnörkel. Der innere Reichtum schwellt die Form, sprengt sie aber nie. In seinen besten Sachen steckt immer viel mehr, als gesagt ist. Man kann seinen Worten nachhängen, an seinem kurzen Garn noch lang weiterspinnen. Kürze nämlich ist bei solcher Artung sein natürliches Maß. Wie er keine langen Reden hält, sondern lieber epigrammweise mit schlagenden Bemerkungen, Meinungen, Urteilen in das Gespräch eingreift, so hat er sich auch im Schreiben nicht auf den langen Atem trainiert. Wie kein Dauerredner, so kein Dauerschreiber. Und in der Handschrift sahen seine Aufsätze noch weit lakonischer aus. Auf ein Oktavblättchen schrieb er ein sechsspaltiges Feuilleton, mit einer nervigen, aber winzigen Schrift, die nach unten hin immer mikroskopischer wurde. Sein großer Essay über das Theater für das Gedenkbuch »Wien« macht im Manuskript sechs kleine Quartseiten. Diese knappe Feder kam sichtlich aus der Sphäre Lessing-Börne. Mit französischer Schulung, wie gelegentlich gesagt worden, hatte sie nichts zu tun. Er war von Grund aus deutsch. Deutsch wie unsere großen Klassiker auch darin, daß dichterische Einbildungskraft und denkerische Grübelkraft ihm aus gemeinsamer Wurzel kamen. Er faßte ganz begriffliche Werte in so sinnliche Formeln, daß der Geist dem Leser wie materialisiert entgegentrat. Es war, wie Alfred von Berger treffend bemerkt, als gebrauche er die deutschen Wörter nach ihrer »Urbedeutung«, nach dem ersten, tiefsten Sinne, den sie von Natur aus haben, der aber jetzt durch Gebräuchlichkeiten verschleiert ist. Wobei übrigens zu merken, daß er keineswegs »germanistisch« schrieb. Die meisten hielten ihn für einen gewiegten Germanisten; so tiefes Sprachempfinden schien aus der Fachschule kommen zu müssen. Aber er war nichts weniger als so ein Schuldeutscher. Sein Deutsch war das einer genialen Triebnatur, eines Germanisten, wie das Volk einer ist. Dabei hing sein Sprachwesen stark nach der Vergangenheit über. Luther, Hans Sachs, Lessing, Goethe, Hamann, die Ehrenfesten des achtzehnten Jahrhunderts überhaupt, das war seine Akademie für deutsche Sprache. Bezeichnend genug, daß der Magus aus Norden zeitlebens einer seiner Lieblingsschriftsteller blieb. Daran ließ sich so gut kauen, nämlich wenn einer die Zähne dazu hatte. Er hat in diesen dunklen Büchern gelebt und mit ihren Rätseln so lange getändelt, bis er Lösungen fand; immer andere Lösungen, denn das ist ja gerade der Reiz des Unlösbaren, daß es ins Unendliche lösbar ist. Solche Zimmergymnastik mit Zentnergewichten[WS 3] ist auch deutsch. Er hatte in seiner Bücherei zwei alte Hamannausgaben. Die kleine mit den vielen gelben Bändchen war ihm die liebste. Auch wenn er so an einer seiner langwierigen Venenentzündungen daniederlag, ließ er sich immer wieder so ein gelbes Bändchen ins Bett reichen. Das war ihm liebe Erbauung. Den Damen des Hauses war das alles schon geläufig. Überhaupt nahmen sie an seinem geistigen Leben den regsten Anteil und waren ihm »Hilfen«, mit Ibsen zu reden. Sie waren ihm ein Widerhall, den er brauchte und oft suchte. Etwa wenn er mit einem Bändchen Goethe seiner Frau bis in die Küche nachlief und keine Ruhe gab: »Hör einmal, was er da wieder sagt.« Auch dieser Goethe war übrigens so eine mächtig lange Reihe niedlicher Bändchen, in altem Originaleinband von violettem Leder mit gelbem Schnitt. Alle diese Bücher waren ihm ans Herz gewachsen. In einem Goethebändchen stieß ich einmal auf ein getrocknetes Pflänzlein. »Ach, das ist Gingo biloba,« hieß es. Sp. spazierte gern im nahen botanischen Garten und war entzückt, als er auf einem der weißen Täfelchen bei einem unscheinbaren Kräutlein den Namen »Gingo biloba L.« las. So heißt auch ein reizendes Gedichtchen Goethes. Er nahm die kleine Gingo heim und legte sie ins Büchlein zu dem Liede, das Goethe ihr gesungen. So lebte er in Poesie, ohne daß die vielen es ahnten. Sehr bezeichnend ist auch, daß nach seinem Tode ein Zettel gefunden wurde, und dann anderswo wieder einer, auf die er, bereits den Tod erwartend, mit zittrigem Rotstift die altbiedern Verse geschrieben hatte:

Ob Sterben grausam ist, so bild’ ich mir doch ein,
Daß Lieblichers nicht ist, als schon gestorben sein. (Logau.)

Angesichts des Todes tröstete er sich mit dem Sprüchlein eines jener vergessenen deutschen Dichter, die ihm lieb waren. Er dürfte wohl der einzige Mensch in Wien gewesen sein, dem in seinen vorletzten Augenblicken gerade diese Logauschen Verse im Gemüt aufsteigen konnten.

Deutsch, der echte deutsche Hausvater, war Sp. auch in seiner Familie. Er heiratete 1858 Fräulein Leontine Ziegelmayer, Tochter eines Professors an der k. k. Ingenieurakademie. Sie starb am 6. Januar 1903, fast unerwartet. Daß er sie überleben würde, war nie einem in den Sinn gekommen. Bei ihrem Begräbnis war er selbst leidend und konnte sie nicht auf der letzten Fahrt geleiten. Er stand am Fenster hinter den Scheiben, und winkte ihr mit der Hand nach, ein Lebewohl, auf baldiges Wiedersehen vielmehr. Er war im Innersten erschüttert und von da an ein anderer Mensch. Sprechen durfte man mit ihm über solche Dinge nicht. Leontine Speidel war eine Frau von seltenen Eigenschaften, wie geboren, seine irdische Vorsehung zu sein. Es war die reinste Liebesheirat. Das bildschöne, tiefbrünette Mädchen, mit der hohen Gestalt und dem feurigen Temperament, wurde die tüchtigste Hausfrau, die lieb- und hilfreichste Gattin, Mutter. Ein starkes Gefühlswesen, mit elementaren Zu- und Abneigungen, eine energische Natur, die ihn zu seinem Besten disziplinierte und in ihrer Weise auch regierte. Alles, was den geistig Schaffenden an umweltlicher Sekkatur (auch Goethe gebraucht dieses Wort des 18. Jahrhunderts) zu bedrängen pflegt, nahm sie ihm in Bausch und Bogen ab. Unberührt sollte er wandeln von allem gesellschaftlichen Formelkram, materiellen Interessenzeug, von ehrenden Belästigungen, katzbuckelndem Zulauf, von allem, was Geldsache hieß, von allem, was der Begriff »Mensch mit Menschen« Unbequemes, in die Quere Kommendes, über die Hutschnur Gehendes in sich faßt. Frau Leontine war die Schwelle zu seiner Türe, und man mag sich denken, was das bedeutet bei dem allmächtigen Kritiker jener Zeiten. Sie war die unsichtbare Hand, die man nur aus den Ergebnissen ihres Waltens herausfühlte. Sie war das Rückgrat des Hauses, der Wille zum Zweck, gewissermaßen sogar die Verwalterin des Sp.schen Geistes. Sie konnte von diesem reichlich spenden oder das Almosen versagen. Aber ihre Liebe zu ihm wurde ihr zum Gewissen, vor dem sie verantworten konnte, wie sie mit seinem Pfunde wucherte. Alle, die sie gekannt, sind darin einig, daß sie ein unersetzlicher Schatz für ihn war. Das vorherbestimmte Korrektiv zu seiner genialen Bummelnatur; denn auch das Zeug, sich zu verbummeln, hatte er von Hause aus, als eine seiner Genialitäten. Zwei treffliche Töchter wuchsen heran, ganz in der Stimmung dieses Hauses. Die eine, Amrei, heiratete den Wiener Frauenarzt Dr. Adolf Hink, die andere, Leontine, war noch die aufopfernde Pflegerin des Vaters nach dem Tode der Mutter. Mit zärtlicherer Pietät ist auch ein Andenken nie gehütet worden.

Dieses System häuslicher Vorsehungen, das Sp. umgab, war auch die materielle Vorbedingung seiner Schaffensmöglichkeiten. Ein Hauptthema des Speidelmythos ist ja sein erbitterter Haß gegen alles Schreiben. Die Leute nannten das einfach »Faulheit«. Das ist bequem, aber nicht erschöpfend. In jüngeren Jahren war er sogar fleißig, vielseitig, allbereit. Erst später, als er ein wichtiges Kulturelement Wiens war, wurde sein klassisches Zeitlassen ein stadtbekanntes Naturphänomen. Die spezifische Schreibfaulheit (ich weiß nicht, ob die Psychiater sie schon unter ihre Typen von Abnormität aufgenommen haben) bekam nun bei ihm einen sittlichen Untergrund. Der strengste Kritiker war er gegen sich selbst. Nichts, was er schrieb, genügte ihm. »Könnt’ ich nur den Schmarrn in den Ofen werfen!« seufzte er, wenn er eben ein Feuilleton fertig gebracht hatte, das am nächsten Morgen das literarische Ereignis war. Dann sagte wohl Frau Leontine: »Was der Pintsch geschrieben hat, das ist geschrieben.« (»Pintsch« war ein Bernhard Scholzisches Zärtelwort und bezog sich auf die Löwenmähne Sp.s.) Zufrieden mit seiner Arbeit hat ihn nie einer gesehen. Wenn er etwas besonders Gutes geschrieben hatte, nahm er es eben hin, wie eine Fügung des Schicksals, die man stoisch zu tragen hat. In seiner vorletzten Zeit neckte er mich einmal leise, ob ich nun nicht auch ein Feuilleton zum Tausendjahrtag des Cervantes schreiben würde. Ich verneinte. Da sagte er wörtlich: »Über Cervantes zu schreiben ist sehr schwer. Man müßte ihn und seine ganze Zeit in sich lebendig haben. Nämlich etwas Gescheites zu schreiben. Das macht ja Feiglinge aus uns allen. Ich schreibe nichts. Es soll sich ein anderer blamieren.« Die Schadenfreude im voraus, mit der er dies sagte, war überaus nett. Er war immer vollbewußt der Verantwortlichkeit eines solchen Unternehmens. Aller blaue Dunst war ihm zuwider, das Nursotun der Leute, das Wortemachen um der Worte willen. »Das reiche Schaufenster vor dem leeren Laden« nannte er so eine Leistung. Manches kräftige Wort ist mir im Gedächtnis geblieben über Nichtkönner, die sich für Könner geben. »Dingelstedt hatte vom Dramatiker nichts als die Frechheit, sich für einen zu halten.« Solche Sätze fielen ihm aus dem Munde, ohne daß er eigentlich etwas Wesentliches sagen wollte. So ist auch die Abneigung gegen das Schreiben aus verschiedenen Ursachen genossen. Jedenfalls wurde sie ein chronischer Zustand, mit akuten Verschärfungen, die allen Mitteln trotzten. Auch Suggestion spielte dabei mit. Gerade um seine Blütezeit, noch die achtziger Jahre durch, herrschte in seinem Freundeskreise ein förmlicher Sport, eine Bravour des Nichtschreibens. Daniel Spitzer sagte mir offen: »Ich bin krank, wenn ich schreiben muß.« Auch einige andere des Stammtisches bei Gause waren große Nichtschreiber oder Schwerschreiber vor dem Herrn. Da fand Sp.s Anlage reichlich Nahrung; jeder Psychologe weiß, was das bedeutet. Schon in seiner Vollkraft kostete es ihn die höchste Überwindung, sich an den Schreibtisch zu setzen. Hatte er nur erst begonnen, so ging es ja und erstaunlich bald lag das Manuskript da, wie gestochen, ohne ein gestrichenes Wort. Immer schwerere Tage kamen. Das ganze Haus fieberte, wenn Papa zu schreiben hatte. Schon tags vorher richtete er seine ganze Lebensweise darauf ein. Der Arbeitstag selbst aber war ein kritischer erster Ordnung. Es wurde Nacht gemacht, die Lampe angezündet, die Türe verriegelt, kein Mäuschen durfte sich im Hause rühren. Zum Essen erschien er nicht, die Klausur war unverbrüchlich. Die Horchenden hörten ihn drinnen ächzen und stöhnen, auch wettern und im Käfig umherstürmen. Dann wurde es stiller, er schrieb. Gegen Abend ging seine Türe auf, er erschien. Man begrüßte ihn wie einen Operierten, der endlich das Sanatorium verläßt, der Alp wich vom Hause. Er hatte wiederum sein Bestes geleistet, aber er wandte sich mit Abscheu davon. Es gibt auch junge Mütter, die ihr Neugebornes nicht ansehen können. Ludwig Bösendorfer erzählte mir, wie er ihm oft ganze Feuilletons mehrere Wochen, ehe er sich zum Niederschreiben entschloß, auswendig hergesagt habe, bis auf das letzte i-Tüpfelchen. Er war eine Natur, wie die alten Philosophen, die mit ihren Jünglingen im Haine des Akademos oder in der Stoa wandelten, oder auch vor ihrem Diogenesfaß in der Sonne lagen und zwanglos disputierten. Mochte dann irgend ein Plato ihre Worte nachträglich aufschreiben, sie selbst rührten keine Feder an. So einer war Sp. Mehrere Eckermänner hätten um ihn reichlich zu tun gehabt. Im Alter wurde dann dieser Zustand zur wirklichen Krankheit. Eine Idiosynkrasie, wie sie im Buche steht, bildete sich aus, er konnte wirklich nicht mehr. Seine Redaktionen drängten, boten Schlauheiten auf, führten Handstreiche aus, es nutzte nichts. Er schloß sich wohl wieder ein, das Blatt Papier vor sich, und saß stundenlang davor, in Tränen. Wenn die Türe aufging, war keine Zeile geschrieben. Man machte sogar Miene, ihm das übel zu nehmen. Warum? Wie viele Menschen schreiben denn noch mit 72, 74, 76 Jahren? Warum sollte gerade er es sein? Eine Zeile von seiner Hand war in diesen Jahren schon eine solche Rarität, daß ich es für besonders zarte Aufmerksamkeit nehmen mußte, als er einmal eigens für mich ein Epigramm abschrieb, das er für das Stammbuch der Tochter des Hofschauspielers Konrad Löwe verfaßt hatte. Denn schon das Abschreiben war ihm schrecklich. Klassisch dafür ist der Fall bei seinem 70. Geburtstag. Dieser wurde festlich begangen, die Redaktion der »Neuen Freien Presse« gab ein Festmahl im Hotel Continental, auch ein Speidel-Festblatt erschien dazu (15. April 1900). Und von fernher kamen Grüße, ja Huldigungen. Die bekannte deutsche Weinkolonie in Griechenland, »Achaia« bei Patras, auch »Gutland« geheißen, schickte ihm damals eine Kiste voll ihres edelsten Mavrodaphne. Er freute sich und schrieb ein langes, wirklich schönes Dankgedicht in achtzeiligen Stanzen. Ich habe es im Entwurf gelesen. Denn es abzuschreiben und abzusenden, dazu brachte der Poet den Entschluß doch nicht auf. Erst Jahre später, als ich in Achaja war und in einem Feuilleton über den Mavrodaphne diesen Fall Sp. erzählte, wurde das Gedicht wieder hervorgesucht und »sollte« endlich ins Reine und auf die Post gebracht werden. Aber es kam wieder nicht dazu.

Man kann sich vorstellen, welche Anstrengungen es seiner Umgebung kostete, ihn dahin zu bringen, daß er zugesagte größere Beiträge zu hervorragenden Veröffentlichungen wirklich verfaßte. Die betreffenden Redakteure erzählen Abenteuerliches. Förmliche Verschwörungen der Freunde und der Familie fanden statt, um ihn physisch und moralisch herumzukriegen. So entstanden die erwähnten großen gehaltvollen Essays: »Theater« in dem Jubiläumswerke »Wien 1848–1888« und »Das Wiener Theater« in dem bekannten Quellenwerk »Die Österreichisch-Ungarische Monarchie in Wort und Bild«. Wie erwähnt, schrieb er auch zu Rahls athenischem Fries die Einleitung. Auch in dem mit Hugo Wittmann herausgegebenen Buche: »Bilder aus der Schillerzeit« (Stuttgart, Spemann) war sein Beitrag nur das erste Kapitel. Desgleichen zu dem Büchlein: »Kleine Schriften von Heinrich Natter.« An diesem hatte ihn die naive Natürlichkeit des schreibenden Bildhauers und Tiroler Kernmenschen gereizt, so daß er ein Natter-Feuilleton als Vorwort beifügte. An Versuchen, ihn zur Herausgabe seiner Schriften oder einer Auswahl zu bewegen, hat es natürlich nicht gefehlt. Der Hauptgrund, daß er es nicht tat, war doch eigentlich, daß er darin seiner Familie ein verwertbares Vermächtnis vorbehielt, das er nicht erst durch vorzeitige Antastung schwächen mochte. Frau Leontine barg das alles ergeben in der großen alten Truhe und ließ die Zukunft herankommen.

Ein Konservativer war Sp. auch in seinen Freundschaften. Einige dieser Beziehungen sind ja schon erwähnt. Manche kündigen sich bereits in früherer Generation an. In seinem Nekrolog auf den Wiener Klavierbauer Ignaz Bösendorfer (1859) verweist er schon auf dessen ältesten Sohn Ludwig, auf den die Hoffnungen der Fabrik übergehen. Schon damals, wie später bei diesem, heißt es: »Seine Klaviere besitzen das beneidenswerte Talent, den Künstlern Genüge zu leisten und dem Publikum zu gefallen. Sie genießen das seltene Glück, zugleich vortrefflich und populär zu sein.« Ludwig wurde später einer seiner vertrautesten Freunde. Eine besondere Stellung zu ihm nahm Hugo Wittmann ein, sein Landsmann aus Ulm und ausgezeichneter Mitfeuilletonist an der »Neuen Freien Presse«. Von ihm erwartet man auch die Herausgabe der gesammelten oder ausgewählten Schriften. Es wäre eine lange Liste, die Personen alle zu nennen, die zeitweilig oder dauernd am Sp.schen Stammtisch gesessen, wo immer er sich befand, im »Reichenberger Beisel«, Winterbierhaus, »Griechenbeisel« oder bei Gause (es war die erste Siegesblüte des Pilsener Bieres). Da war durchaus kein Fachprotzentum, mancher schlichte Mann war eine Hauptstütze des Tisches und mit der Zeit als Veteran in dieser Eigenschaft gefeiert. Wie Kaiser Franz sagte: »Gemischte Gesellschaft? Wenn ich in keiner solchen sein wollte, müßte ich in die Kapuzinergruft gehen.« Es waren natürlich meist trinkbare Leute. Der Musikkritiker Eduard Schelle trug wohl den Rekord davon; auf ihn und noch etliche paßten gewisse in echt Sp.scher Weise ergründende Betrachtungen »über die unbändige deutsche Trinklust, die ihre tief dämonische Seite hat«. (In der Kritik über »College Crampton«, auf eine Rosenkranzsche Diatribe gestützt.) Aber auch in dieser Richtung wurde alle die Zeit her viel gefabelt. Jedenfalls konnte es, wo Sp. zu Biere saß, jederzeit mit Plutarch (Brutus 34) heißen: »Καὶ παιδιὰν ὁ πότος ἔσχεν οὐκ ἄχαριν οὐδ’ ἀφιλόσοφον.« (»Auch war Scherz bei dem Trinken, und dieser war nicht ungefällig und nicht unphilosophisch«.) Man vertrug viel, aber nicht ohne Würde. Noch jetzt ist ein großes Kartonblatt erhalten, worauf Anselm Feuerbach bei Gause (1876) »Die Plejaden« gezeichnet hat, nämlich die Sp.sche Tafelrunde, mit sieben Porträts und zwei Vignetten. (»Neue Ausgrabungen in Pompeji. Mosaikboden in der Casa des Lätitius Asinius. Gefunden von Prof. Zucurtius in Berlin.«) In der Mitte der Kopf Sp.s als Sonne, die Mähne als Strahlenkranz stilisiert. Um ihn her Johannes Ziegler, Nottebohm (der beste), der Pianist Eder, Josef Bayer, Martin Greif und Hugo Wittmann, dieser noch voll Pariser Erlebnisses, Cancan tanzend nach der Melodie: »J’ai du bon tabac..« Horaz hätte dazu gelächelt. Es war damals überhaupt, man möchte sagen, eine jüngere Zeit. Die große Wiener Lebezeit vor dem Krach wirkte noch nach und der Krach hatte diesen Musenpriestern nichts anhaben können. Ein Stil für reizende Privatissima bei Wein, Weib und Gesang hatte sich erhalten. Ich erinnere nur an die köstlichen Kellerabende im Hause des Barons Erlanger in der Metternichgasse, wo junge Damen der Gesellschaft, als Kellnerinnen gekleidet, aufwarteten und das amüsante Wien beisammen war. Auch Sp. gehörte dazu. Und Bösendorfer, der taktvoll Fürsorgliche, machte so manches Mal den getreuen Eckart, der unverläßlich gewordene Schritte sicher heimwärts lenkte. Man war jung. Sp. war sein lebelang ein äußerst angenehmer Gesellschafter. Gemütlich, scherzbereit, nie zum Bedeutendsein aufgelegt, eher all die Lichtlein leuchten lassend, er lastete nicht auf der Gesellschaft. Allerdings ging er nur in wenige vertraute Häuser. Ich glaube übrigens keineswegs, daß etwa der Wein daran schuld war, daß Sp. einst in Kaltenleutgeben, längs des Baches (der »Kalte Gang« heißt er) heimwärts wandernd, die Herrschaft über sein Gleichgewicht verlor und in den Bach fiel. Ein Schrecken ging durch die ganze Ortschaft, so daß der Vizebürgermeister tags darauf eigens nach Wien reiste, bei Sp. Audienz nahm und sich und Kaltenleutgeben und den Bach in aller Form entschuldigte. Es sei nicht gern geschehen. Sp. war eben schon damals ein schwerer Körper, der all die Leiblichkeit nicht immer in der Gewalt hatte. Später wurde er noch umfangreicher und schwerfälliger; Krankheitszustände hinderten ihn oft Bewegung zu machen. Noch ein Jahr vor seinem Tode fiel er auf seinem eigenen Hausgang im Dunkeln kopfüber zehn Stufen hinab, merkwürdigerweise ohne Schaden zu nehmen.

Einige Jahre vor seinem Ende verzog Sp. aus jener Strohgasse des dritten Bezirkes, wo der dritte Stock ihm unerklimmbar geworden. Hohe Warte Nr. 48 war die neue Adresse. Ein Hochparterre, mit parkartigem Garten dahinter und Aussicht über Wien hinweg, das taugte nun. Auf dem Wege hinaus kommt man in der Nußdorferstraße an Schuberts Geburtshaus vorbei, mit der kleinen weißen Büste über dem Haustor. Ein paar hundert Schritte jenseits seines neuen Heims senkt sich die Straße nach Heiligenstadt hinab, Beethovenschen Angedenkens. Auch früher hatte er diese Schubert-Beethovensche Seite Wiens bevorzugt. Sonnige Rebenhügel, mit kühlen Felsenkellern in ihren Flanken, mit Lerchen und Echos klassischer Musik drüber hin. In Sievering hatte er häufig die Sommerwohnung bezogen, von deren ansteigendem Garten aus der Blick nach jener Irrenpension streift, wo Nikolaus Lenau gestorben ist. Selbst sein Hausarzt war der Sieveringer Dr. Schatzl, der sein volles Vertrauen verdiente; er ist übrigens auch Maler, in Nebenstunden. Und in Sievering ist er ja nun auch begraben. Zu Badereisen und entlegeneren Sommerfrischen (wiederholt Mattighofen in Oberösterreich) schwang er sich nicht mehr auf. Er war schwer beweglich geworden, und es war schon ein Ausflug, wenn er voll ausgerüstet eine Bank in der Allee vor dem Hause aufsuchte. Daheim saß er den ganzen Tag im Großvaterstuhl, dessen hohe geschnitzte Lehne hinan das Enkelknäblein gewagte Kletterpartien machte, um einen Gutenachtkuß anzubringen. So klettert man später nach Edelweiß. In seinem gelben Kamelhaarschlafrock, den im Sommer ein weißleinener ersetzte, saß der alte Herr mächtig da. Wuchtig und massig wie ein Block. Im Lehnstuhl wurde er von Zimmer zu Zimmer geschoben, bis Benedikt, der Herausgeber der »Neuen Freien Presse«, ihn mit einem gediegenen Rollstuhl überraschte. Das Herz litt bereits und mehrmals traten leichte Lähmungserscheinungen auf. Er las viel; bis zuletzt ohne Brille, deren er aber für die Ferne bedurfte. Schwere wissenschaftliche Literatur, mit der ihn Verehrer versorgten; aber auch leichte Büchlein des huldigenden Nachwuchses blätterte er an. Am meisten doch seine Alten: Goethe, Hamann, die Bibel. Auf einem alten Nähtischchen war immer eine Menge Tageslektüre aufgestapelt. Er hatte hinreichend Besuch von Freunden oder von deren Witwen. Die der Burgschauspieler Robert und Mitterwurzer waren ihm besonders anhänglich. Frau Mitterwurzer zuliebe ermannte er sich sogar zu einem Brief an mich. An seinen guten Tagen war er liebenswürdig und geweckt, wie je. Er lachte gern und seine epigrammatischen Bemerkungen stiegen gleich Raketen. Er war noch immer ein reizender Verkehr. Dann wieder kamen umnebelte Tage, mit Verworrenheiten. Auch aus diesen heraus wetterleuchtete es noch manchmal gar hübsch. Einmal sprudelte er hastig drei Verse heraus, die nach etwas klangen. »Ist das ein Zitat?« fragte ich. Er merkte plötzlich, daß etwas schief gegangen war, und sagte halb verdrießlich, halb entschuldigend: »Na, es war eben so dran hinzitiert.« Oft spielten wir Tarok. Wie er das erlernt hat, ist mir ein Rätsel. Er spielte es freilich, sagen wir, in seiner Weise. Da es, außer wenigen Photographien, kein Porträt von ihm gab, bewog ich ihn, dem Maler Josef Engelhart zu sitzen. Ich wählte diesen mit gutem Bedacht, als einen Kulturmenschen mit Natur im Leibe, einen jener Wiener, wie sie Sp. gern mochte. Wir gingen wiederholt hinaus, und Engelhart malte zwei Porträtstudien in Öl, die eine lebensgroß, und zeichnete, um sich den Bau des Kopfes ganz klar zu machen, mehrere Ansichten von allen Seiten. Das war drei Monate vor seinem Tode. Es ist bezeichnend für das posefreie Wesen Sp.s, daß der Freund eines Rahl, Natter, Feuerbach und so vieler anderer Großkünstler sich nie zu einem Porträt haben ließ. Den Nachmittag vor seinem Tode sah ich ihn zum letzten Mal. Er wußte, woran er war, und hatte, schon zu Bette, einmal plötzlich gerufen: »Jetzt weiß ich schon, wo Bartel den Most holt!« Einer aus dem Volke hätte die bittere Erkenntnis nicht derber und dabei, sozusagen, bauernphilosophischer ausdrücken können.

Am 5. Februar 1906 war die Bestattung. Ein schmelzendes Schneewetter beeinträchtigte die Teilnahme. Dennoch war die Wiener Geisteswelt zahlreich vertreten. Ein langer Wagenzug bewegte sich hinab zur alten gotischen Pfarrkirche in Heiligenstadt, wo die Einsegnung stattfand, und dann hinüber nach Sievering. Das Wetter machte die Reden kurz, barhaupt zu stehen war nicht ratsam. Am unteren Ende des Gottesackers, mit dem Blick über Wien, ruht er mit seiner Frau unter einem unbehauenen Stein, dessen Tafel bloß die Namen und Daten trägt.

Literatur: Die Wiener Tagesblätter vom 11. bez. 13. April 1900 (siebzigster Geburtstag) und 4. Februar 1906 (Tag nach dem Tode). In der »Neuen Freien Presse« an der Spitze des Sonntag-Morgenblattes, 4. Februar, Nekrolog aus der Feder des Herausgebers Moritz Benedikt, dann Feuilleton von Hugo Wittmann, an den folgenden Tagen Berichte, Beileidsbezeigungen, 8. Februar Würdigungen von Prof. Jakob Minor und Alfred Freiherrn von Berger. Im »Fremden-Blatt«, dessen Musikkritiker Sp. über vierzig Jahre war, Aufsätze von Ludwig Hevesi (auch 1900) und Albert Kauders (»Ludwig Speidel als Musikkritiker«, 8. Februar 1906). In der »Österreichischen Rundschau« (Sommer 1906) Schilderung seiner letzten Zeit: »Mit Ludwig Speidel«, von Ludw. Hevesi. Unter den Nekrologen etwa noch die von Max Kalbeck (»Neues Wiener Tageblatt«) und Dr. Max Graf (»Wiener Journal«) zu erwähnen. In der Berliner »Zukunft« ging gelegentlich Maximilian Harden (»Zwei Kritiker«) mit ihm schärfer ins Gericht.

Ludwig Hevesi.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: letzes
  2. Vorlage: innnere
  3. Vorlage: Zentnergerwichten