Litterarische Begegnungen (Ludwig Hevesi)

Textdaten
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Autor: Wilhelm Goldbaum
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Titel: Ludwig Hevesi
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aus: Die Gartenlaube, Heft 36, S. 589-591
Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1885
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Litterarische Begegnungen.

Von Wilhelm Goldbaum.
1. Ludwig Hevesi.

Beneidenswerth vor vielen anderen sind mir immer diejenigen Schriftsteller erschienen, denen durch Geburt oder Schicksalswendung die volle Herrschaft über zwei lebendige Sprachen verliehen ist. Es kommt mir vor, als ob sie mit vier Augen durch die Welt gingen, während wir übrigen Menschenkinder uns mit einem einzigen Augenpaare begnügen müssen. Ach Gott, sterben müssen am Ende auch sie; aber sie leben ein doppeltes Leben, in zwei Vorstellungskreisen, die, koncentrisch und excentrisch zugleich, einander erweitern, obgleich sie vor einander zu fliehen scheinen. Und dieses doppelte Leben der Einzelnen ist es recht eigentlich, das den Zusammenhang der Menschheit bewirkt; denn zwei Volksseelen haben ihr ständiges Rendezvous in dem Geiste eines solchen doppelsprachigen Schriftstellers oder Dichters, sie werden einander vertraut wie Liebende, und je mehr es solcher poetischer und litterarischer Doppelmenschen giebt, desto gewisser werden die Volksseelen allesammt zu willigen Dienerinnen der großen allbeherrschenden Weltseele … Alexander von Humboldt, Adalbert von Chamisso, Heinrich Heine, Karl Hillebrand waren unwiderstehliche Vermittler dieser Art; sie verrichteten den heiligen Botendienst zwischen den Völkern, und das wird ihnen niemals [590] vergessen werden. Es ist aber nicht genug, daß nur immer über den Rhein hinüber die Brücken geschlagen werden; ost- und süd- und nordwärts wohnen auch noch Menschen. Die Franzosen haben wir Deutsche mit aller Liebe umworben; sie gaben uns wenig dafür zurück, Deutsche schrieben Französisch, jedoch von Franzosen, welche Deutsch geschrieben hätten, geht nur höchst vereinzelte Kunde. Von ost- und nordwärts aber wirbt man um uns; Russen, Dänen, Ungarn schreiben Deutsch. Und für die letzten Ziele der Menschheit ist es gleichgültig, ob der große Weltzusammenhang, die geistige Verbrüderung in der einen oder andern Sprache sich ausdrücken; der Dichter trägt, wie immer er auch rede, die Welt in seinem Herzen, er ist der wahre Kosmopolit wie Hermes, der die Botschaften der olympischen Götter durch die Lüfte trug.

An diesem Götterboten Hermes haftet, wie die Alten uns sein Bild überliefert haben, ein leiser Zug der Schalkhaftigkeit, des Humors. Gehört es zu seiner Sendung, daß er durch einander weint und lacht und mit den Augen zwinkert, als ob er immer nur Thränen zu unterdrücken oder übermüthige Fröhlichkeit zu verbeißen hätte? Ja wohl, es gehört zu seiner Sendung. Wer ein guter und ein kluger Bote sein will, darf an sich selbst nicht denken, nur an die Anderen, und wer nur an die Anderen denkt, dem wird es bald weh und bald lustig zu Muthe, und um die Traurigen nicht zu verletzen, weint er seine Lustigkeit nieder, um die Lustigen nicht zu betrüben, verlacht er sein eigenes Weh. Zwischen den Einzelnen wie zwischen den Völkern schwingen hinüber und herüber in ewigem Wechsel Haß und Liebe; sie ringen mit einander, sie beneiden einander, sie vereinigen und trennen, befreunden und entfremden sich; was sie trotz alledem zusammenhält, ist dünn wie ein Faden und doch wieder fest wie eine Eisenkette, jenes große Etwas des allgemeinen Menschenthums, das für Lachen und Weinen die nämlichen Töne hat. Und deßhalb ist der Humor die wunderbarste Offenbarung des Weltgeheimnisses, die Universalsprache des Weltgeistes, vor allem Anderen geeignet, Menschen und Völker mit einander zu verbinden. Heinrich Heine wäre ohne den Humor den Deutschen nicht sympathisch geblieben und noch weniger den Franzosen sympathisch geworden. Aber wie die Macht des Humors darin besteht, daß er nicht an eine einzige Sprache gebunden ist, so ist die Wirkung des Schriftstellers oder Dichters, der mehr als eine einzige Sprache beherrscht, eine wesentlich gesteigerte, und merkwürdig drückt sich dieses Wechselverhältniß in der Thatsache aus, daß es zumeist Humoristen sind, welche die eine Litteratur zur andern entsendet, gleichsam als Geiseln der Zusammengehörigkeit trotz aller nationalen Gegensätze und Verschiedenheiten …

Eine Geisel von dieser Art ist Ludwig Hevesi – lies: Héweschi, liebe deutsche Leserin – den das Volk der Magyaren unserem Schriftthum ausgeliefert hat, obwohl sein eigenes Schriftthum ihn längst unter seinen Zierden verzeichnet. Zwar hat Kürschner’s Litteraturkalender ihn noch bis vor kurzem nur als „Verfasser von Kinderschriften“ registrirt, aber das war eine seltsame Einseitigkeit. Kinderschriftsteller war Ludwig Hevesi als Magyar, und in jeder Hütte Ungarns, vom Rothenthurmpasse bis wo die March sich in die Donau ergießt, von der Hegyalja am Fuße der Karpathen bis zur slavonischcn Grenze liest man die „Abenteuer des Schneidergesellen Andreas Jelky“, die der magyarische Onkel Tom – so nannte sich Ludwig Hevesi als Kinderschriftsteller – der Jugend seines Volkes erzählte. Aber der ungarische „Kinderschriftsteller“ war lange schon ein angesehener deutscher Feuilletonist und Kritiker, bevor Kürschner’s Litteraturkalender noch existirte, und jetzt ist Ludwig Hevesi auch ein hervorragender deutscher Novellist, seitdem er die zwölf Erzählungen veröffentlicht hat, denen er den höchst bezeichnenden Kollektivtitel „Auf der Schneide“ gab. Auf der Schneide! Warum? Er deutet selbst diesen Titel in ein paar Widmungsversen, mit denen er einer Dame sein Büchlein dedicirte:

„Zweimal gelacht und einmal geweint,
So ist’s in diesem Buch vereint.
Wie Mancher wär’ es wohl zufrieden,
Wär’s ihm im Leben so beschieden!“

Die Lustigkeit kann der Gefahr ausgesetzt sein, sich zu überschlagen, und dann wird sie burlesk; die Traurigkeit kann zur Jämmerlichkeit entarten und dann wird sie komisch. Auf der Schneide … Menschenschicksale stehen oft auf der Schneide zwischen höchstem Glück und tiefstem Unglück – auf der Schneide des Rasirmessers, sagt der alte Tragiker – Stimmungen bewegen sich auf der Schneide zwischen Lust und Jammer – auf der Schneide des Galgenhumors, der als die subjektivste Form des Humors zugleich die willkürlichste und unkünstlerischeste ist. Nur der Dichter vermeidet, wenn Gott ihn mit dem gewaltigen Vermögen des Humors begnadet hat, den Sturz in den Abgrund nach links oder rechts; sein Lachen wird niemals häßlich, sein Weinen niemals widerwärtig.

Ludwig Hevesi ist 41 Jahre alt, ein blonder Mann mit dem Aeußeren und den Manieren eines Engländers. Vom Pußtensohne merkt man ihm wenig an. Seine Bewegungen sind gemessen; er spricht langsam und ohne jeglichen Stimmaufwand, mit leisem fremdländischen Accent. Im Allgemeinen scheint er, wie viele andere unserer Zeitgenossen, den Kalauer als die großartigste Erfindung des letzten Jahrzehntausends zu verehren; im Besonderen beruft er sich gern auf die griechischen und römischen Klassiker, bei denen er sich in Mußestunden mit Vorliebe erholt. In seinem siebenten Lebensjahre verstand er noch kein deutsches Wort, in seinem siebenundzwanzigsten war er bereits auf magyarischem Boden ein furchtloser Bekenner des Deutschthums. Damals – im Jahre 1870 – sympathisirte man in Pest sehr laut und sehr fanatisch mit den Franzosen; Hevesi aber besaß den Muth, gegen die allgemeine Strömung anzukämpfen, und seine satirischen Glossen über die Franzosen in einem der populärsten ungarischen Witzblätter waren ein Zeugniß politischer Gesinnungstüchtigkeit, auf das er sich berufen konnte, als nachher die meisten der magyarischen Franzosenfreunde sich anschickten, in die Bahn einzulenken, auf der er längst gewandelt war. Er hat jene kurzen, knappen, treffsicheren Satiren ins Deutsche übersetzt und in einem Büchlein mit dem Titel „Sie sollen ihn nicht haben!“ vereinigt. In Wien hatte er Medicin studirt, dann in Pest das Feuilleton des „Pester Lloyd“ redigirt, schließlich kehrte er nach Wien zurück, um für das „Fremdenblatt“ die Kunstkritik und die Burgtheaterkritik zu besorgen. Das thut er noch jetzt, und in den zehn Jahren, während welcher er das Richteramt über Kunst und Schaubühne übt, hat er sich den Ruf eines der talentvollsten, unparteiischesten und geistreichsten Wiener Kritiker erarbeitet. Das will nicht wenig besagen, denn die Kritik wird in Wien noch als eine Art Kunstbethätigung betrieben, der Kritiker erhebt und erwirbt den Anspruch, auch seinerseits dem großen Schauspieler oder Maler gegenüber, den er beurtheilt, als ein Künstler betrachtet zu werden, als ein Künstler im Erkennen und Nachempfinden und zumal als ein Künstler im Schreiben.

Die Wiener Kritik, so scharf und einseitig sie an sich sein mag, ist nicht Anhängsel, sie ist Selbstzweck, soweit dies bei dem Wesen der Kritik überhaupt der Fall sein kann, und dieser Selbstzweck ist das Schriftstellerthum. Bei Ludwig Hevesi tritt dies noch besonders zu Tage an einer Fülle von Gelehrsamkeit, die er sich daheim unter seinen Büchern, und an einer Fülle von Erfahrungen, die er sich draußen auf großen Reisen erworben hat. Jedem von uns steht durch das ganze Leben unvergessen der Strom vor Augen, den wir als Knaben die heimische Landschaft durchziehen sehen; Hevesi’s Heimathsstrom ist die Theiß. Wie diese von Zeit zu Zeit, nach Intervallen stiller, behaglicher Wanderschaft, verheerend aus ihren Ufern tritt und gewaltiges Fischzeug über die weite Fläche umherstreut, so läßt sich auch dieser stille, wortkarge Ungar bisweilen von seiner Phantasie fortreißen und dann ist es der Dichter in ihm, der wundersame Geschichten umherstreut, welche zurückbleiben und begierig aufgelesen werden, wenn die Gewässer längst sich verlaufen haben.

Der Dichter … das wird nicht schwer zu erweisen sein an den Geschichten, welche Ludwig Hevesi – Hevesi Lajos sagen die Magyaren – „auf der Schneide“ erfunden und erzählt hat. Der deutsche Dichter … auch das ist bald demonstrirt; man braucht nur darauf zu verweisen, wie er unsere Sprache handhabt. Wie knapp und heiter liest sich die Einleitung in die Reisegeschichte „Zwischen Thorbach und Seefehlen“: „Von Thorbach an wurde die Gegend interessanter. Es stiegen nämlich zwei Damen in mein Koupé, das ich bisher allein innegehabt. Die eine war alt und häßlich, die andere jung und hübsch. In die junge verliebte ich mich natürlich sofort. Ich thue das in solchen Fällen immer.“ Und wie ahnungsvoll düster dagegen beginnt die „Romanze“: „Der volle Mond stand am Himmel und die Luft [591] schlug silberne Wellen in seinem Lichte. Von den schlafenden Linden floß schwarzer Schatten nieder. Ein weiches, warmes Schweigen lag über dem Park, in einen Sommernachtstraum gehüllt stand das Schloß darin. Ein stilles Athmen rings, ein Duften und Schimmern. Ganz fern, irgend im tiefsten Busch, lachte weinend, weinte lachend die Nachtigall.“ Das ist, denke ich, so gut deutsch empfunden, geschaut und geschrieben, daß Hevesi sich erst als Ungar legitimiren müßte, wenn man nicht zufällig von seiner Abstammung Kenntniß hätte. Aber als Novellist würde er trotzdem unter der Fülle von seines Gleichen untertauchen, wenn er daneben oder vielmehr darüber hinaus nicht noch etwas Anderes wäre, nämlich ein Humorist.

Erfinden, komponiren, schreiben können heutzutage so viele, daß der Litteraturhistoriker bündelweise die Registrirung besorgen muß, während der Kritiker auf eine Art ästhetischer Kollektivterminologie angewiesen ist, die mehr oder minder auf Alle in gleicher Weise paßt. Der Humorist aber ist eine Rarität, ein Individuum für sich, und für die historische Auffassung der Litteratur ist dies der alleinige Maßstab. Bei uns hat der Humor sich nicht oft an eine künstlerische Form gebunden; Jean Paul verschmäht sie, Heine und Börne gingen ihr gern aus dem Wege, Bogumil Goltz, Saphir, Kalisch, Busch, Stettenheim, Spitzer rebelliren gegen den formalen Zwang der dichterischen Kategorien. Hevesi nur versucht es mit Erfolg, die Form der Novelle seinem Humor dienstbar zu machen, und dadurch wird er auch im litterarhistorischen Sinne zu einer schriftstellerischen Individualität, er geht über die Anderen einen Schritt hinaus. Daß manche seiner Erzählungen ein blutig ernsthaftes Ende nehmen, das hat die Kritiker von der ästhetischen Observanz irre gemacht; sie appellirten an die Parodie, die den Humor im Schauerlichen übertreibt. Aber so ist es nicht gemeint und braucht es auch nicht gemeint zu sein. Börne ist ein Humorist auch in der wunderbar ergreifenden Trauerrede auf Jean Paul. Für den Humoristen ist ja überhaupt der Vorgang, den er schildert, nicht das Wesentliche; er sieht ihn nur mit anderen Augen an als die Anderen, und das beweist er durch die Form, in welche er den Vorgang kleidet. Zum Parodiren ist dem Humoristen die Welt zu ernst; zum ohnmächtigen Jammern ist er selbst zu frei von den tausend Ketten, die andern Menschenkindern an den Füßen klirren. Unter den Armen ist er der Reiche, unter den Thoren der Weise, obgleich er sonst weder reich noch weise ist.

Auf der Schneide steht das Menschenleben in jeder Stunde, denn der Tod ist sein unabwendbarer Begleiter. Auf der Schneide steht jede unserer Handlungen, denn der Zufall ist der allezeit lauernde Feind unserer Absichten. Wie könnten wir das unsäglich Traurige dieses Bewußtseins überwinden, wenn nicht der Humor uns dabei zu Hilfe käme? Verhüten kann er die Katastrophen nicht, aber ihren Eindruck kann er mildern, durch das Licht, das er über sie ausgießt. Wer die Pußta mit Augen geschaut hat in ihrer ungeheuren Oede, die doch den Menschen, welche sie umgiebt, als das Höchste auf Erden erscheint, der begreift es, warum Ludwig Hevesi, der Ungarn, zum Humoristen geworden ist. Im Csardas wirbelt der Csikos lachend dahin, die Fiedel des Zigeuners weint dazu. Und der Humorist steht dabei, er erblickt darin das Bild des Lebens und kommt sich schier wie Odvardo vor:
     „Wer lacht da? Ich glaub’, ich war es selbst.“