Literarische Briefe (Gutzkow) 3

Textdaten
<<< >>>
Autor: Karl Gutzkow
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Literarische Briefe
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 15, S. 231–233
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
An ein deutsche Frau in Paris
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[231]

Literarische Briefe.

An eine deutsche Frau in Paris.
Von Karl Gutzkow.
III.

Ja, da haben wir nun ein schönes Unglück –! Ihr nun rege gewordener Eifer für die vaterländische Literatur will meinen Briefen und Anleitungen schon zuvorkommen, Ihr Gatte unterstützt denselben, bringt ein Convolut Zeitungen aus seinem Casino mit, Ihr Auge fällt auf eine glänzende Empfehlung des neuen Romans „Hermann Stark. Deutsches Leben von Oscar von Redwitz. Drei Bände (Stuttgart, Cotta)“, die in der Allgemeinen Zeitung gestanden hat, Sie schicken in eine der deutschen Buchhandlungen, deren sich Paris mehrer zu erfreuen hat, lassen sich die drei kolossalen, geschmackvoll ausgestatteten Großoctavbände kommen, lesen und – schreiben mir: „Ist es denn aber erhört, daß man noch den Deutschen ein solches Buch anbieten kann! es sogar anempfiehlt! in einer der ersten Zeitungen Europa’s! Im ersten Capitel wohnt in einer langweiligen kleinen Stadt (die Langeweile wird beschrieben) ein Advocat in der Nähe des ‚Storchenthurms‘ mit seinem Ehegespons und hat jahrelang eine kinderlose Ehe zu beklagen. Im zweiten Capitel kommt endlich ein Spätling, wird getauft und sowohl die ‚nudeldicke Hebamme‘ wie die Pathen werden beschrieben auch wird der Grund für die Wahl des Namens Hermann erörtert. Im dritten Capitel sieht man den jungen Helden in den Windeln, im Einschlag, und allmählich wächst er in die Hosen. Im vierten spielt er mit bleiernen Soldaten und weckt so günstige Hoffnungen, daß der Vater vor Freude manchmal ‚einen Schoppen mehr aus dem Wirthshause kommen läßt als gewöhnlich‘. Im fünften (wir sind schon auf Seite 44) verwildert das Hermännchen, hat Prügeleien mit Nachbarkindern und nimmt, ein rechter ‚Ruinirjunge‘, Nester aus, wobei die Hosen draufgehen. Im sechsten findet sich eine große dramatische Scene, wie sich die Metzgersfrau beklagt, deren Söhnchen ‚des Stark’s Hermann‘ ich glaube den Rock zerrissen hat. Zur Strafe dafür soll er fasten, trotzdem daß es Schweinebraten giebt, wohingegen eine mitleidige Köchin durch heimlich zugesteckten Pfannenkuchen dem Verhungern abhilft. Damit stehen wir schon auf Seite 81! Nein, das ist denn doch wahrlich zu kindisch! Solche Sachen schreibt man jetzt in Deutschland?! Und erste Classikerbuchhandlungen verlegen sie?! Und erste Zeitungen, die Allgemeine in Augsburg, verkündigen sie als neue Eroberungen des guten Geschmacks und der deutschen Poesie?!“

Ich bin beschämt, meine erzürnte Freundin! Denn ich habe gegen Ihre Entrüstung nicht ein Wort der Widerlegung aufzubringen. Ich bin so starr wie Sie über diese drei Volumina, die ich weiter gelesen habe. Der Held kommt auf die Schule, macht in einem Städtchen Frankens alle üblichen Schülerschwänke und Leiden eines Gymnasiasten durch, bezieht die Universität, paukt sich, trinkt Bier, singt die üblichen deutschen Commerslieder und der erste Band von 424 Großoctavseiten ist zu Ende. Der zweite Band von 372 Seiten führt uns den Helden als Rechtspraktikanten, Advocaten, glücklichen Vertheidiger verschiedener Angeklagten, Bräutigam, jungen Ehemann vor. Der dritte Band von 497 Seiten läßt ihn Deputirter werden, er bringt es beinahe bis zum Minister, entwickelt in einer Posa-Scene vor Seiner Durchlaucht dem Herzog seine Ansichten über Welt und Zeit (jedes dritte Wort lautet dabei: „Halten zu Gnaden, Durchlaucht“), verdient als Advocat viel Geld, wendet es aber thöricht an, indem er einen altgräflichen Grundbesitz kauft, der sich nicht rentirt, er fallirt, hebt sich jedoch wieder empor; er wird wieder Advocat, aber, ach! – sein Vater ist gestorben und später auch seine Mutter. Und die alte Dorothea, die ihm damals den Eierkuchen zugesteckt, als es Schweinebraten gab und er fasten mußte, ist auch todt. Doch seine Kinder versprechen sich zu entwickeln. Schluß.

Bei einer solchen geradezu unglaublichen Verirrung eines Schriftstellers von Ruf möchte man sagen: Ihr habt es ja nicht anders gewollt! Ihr schwärmtet für „Amaranth“ (auch Sie werden das zierliche Goldschnittbuch als erste Grundlage einer selbstständigen Jungfrauenbibliothek über Ihr epheuumwundenes Schreibpult gestellt haben!), und so demaskirt sich der „Idealismus“, wenn er einmal die bunten Gewänder schöner Phrasen abgelegt [232] gelegt hat und seinen inneren Kern darlegen will! Es giebt einen Lyriker, den ich nicht nennen will – er ruht mit einem Lorbeerkranz im kühlen Grabe an der Elbe und eine seiner Gedichtsammlungen hat so eben die vierzehnte Auflage erlebt – wenn dieser „Novellen“ schrieb, so wurde auf jeder dritten Seite Kaffee gekocht.

Und meine Befangenheit und mein Kleinmuth will heute nicht aufhören. Denn in dem Convolut Zeitungen, das ihnen Edgar von seinem Casino mitbrachte, befanden sich auch die gelesensten Wiener Blätter, und nach den Recensionen, die Sie darin gefunden haben, brennen Sie vor Begierde auf Robert Hamerling’s „König von Sion“ (Hamburg, Richter), und ich besorge, auch hier, bald nach dem Beginn der Lectüre eines Heldengedichts von mehr als neuntausend Hexametern, begiebt sich etwas Unerfreuliches, zum Mindesten werden Sie mit Polonius im Hamlet, als dem Dänenprinzen ein Schauspieler die Zerstörung Troja’s vorträgt, den feurigsten Schwung der Rede und die erhabensten Bilder und Wendungen mit den Worten einer nüchternen Kritik unterbrechen: „Das ist zu lang –!“

Wir haben zwei unbedingte „Idealisten“ vor uns – Oscar von Redwitz und Robert Hamerling. Letzterer mag mir die Zusammenstellung mit dem Anwalt freiheitsfeindlicher Richtungen vergeben. Hamerling’s Seele glüht im heiligen Feuer der Hingebung an die großen Fragen der Menschheit, buhlt nicht mit der Gunst der Großen, leiht sein schönes, formgewandtes Talent nicht der Verherrlichung einer Romantik, die unter schimmernden Außenseiten von Poesie, unter Blumengewinden und „goldner Saiten Klange“ nur die gemeine, platte Reaction, Despotismus und Pfafferei vertritt.

Durch die Zeitungen ging die Kunde, der Sänger der Amaranth, welchen einst hochfürstliche Gönnerinnen nach Wien berufen hatten, um auf einem dortigen Lehrstuhl den Geist der Zeit, wozu er sich ausdrücklich erboten hatte, in Wissenschaft und Kunst zu bekämpfen, wäre in sich gegangen, bereute die Wege, die er früher gewandelt, und würde in diesem „Hermann Stark“ eine ernste Abrechnung mit seinem Jahrhundert und mit sich selbst halten. Ich habe aber in diesen drei Bänden vergebens nach einer Stelle gesucht, die jene Kunde wahr gemacht hätte. Denn die Reden, die der Advocat Stark hält, die Briefe, die Tagebücher, die er schreibt, gehen jenen allgemeinen Mittelweg der politischen Phrase, der uns übrig bleibt, wenn unsere Gesinnung nicht Fisch, nicht Fleisch ist. Advocat Stark will nicht Demokrat heißen, beileibe nicht, aber er will „verfassungsmäßiges politisches Leben“, „ein einiges Vaterland“ und ähnlichen Wortkram, der, in’s Praktische übersetzt, bei keiner einzigen Abstimmung die liberale Probe halten würde. Nur Entrüstung muß es wecken, einen Autor, der im Stande war, so die akademische Zeit zu durchleben, wie sie sein Held „Arminius Stark“ durchlebt, so die Lieder der Freiheit zu singen, so die Maienblüthe, den Jugendlenz deutschen Lebens durchzuschwärmen mit geschwungener bunter Mütze, mit bunten Bändern über die Brust, dennoch übergegangen zu wissen in die Reihen der Feinde des Zeitgeistes, ja aufgetreten gerade an einer deutschen Hochschule als öffentlicher Ankläger der Gefühle und Gedanken derselben jungen Generation, mit deren Seelenschwung er nun in edelster Begeisterung nach den Schilderungen dieses Buches mitgelebt haben will –!

Der Gegensatz des Idealismus und Realismus wurde ein besonders bezeichnender für die neuere deutsche Literatur. in die Sprache übersetzt, die Ihnen geläufiger sein wird, ist dies der Gegensatz zwischen einer künstlerischen, in unserem Falle dichterischen Schaffensweise, bei welcher ein Idealist die Gegenstände und Personen, die er schildert, den allgemeinen Schönheitsgesetzen näherzurücken sucht und sie mit erklärenden Lichtern umgiebt, während ein Realist sein Talent mehr im Erfassen und Wiedergeben des unmittelbaren Eindrucks und demnach so zu bewähren sucht, daß er Dinge und Menschen bis auf die täuschendsten Einzelheiten ihrer Natürlichkeit schildert. Das Wesen des Realismus, die Wahrheit, ist durch die Kritik der letzten Jahrzehnte mit besonderer Strenge betont worden und hat in der That den Ausschweifungen einer überfliegenden, die Maßstäbe zutreffender Richtigkeit allzusehr verschmähenden Phantasie ein lehrreiches Halt! geboten. Darüber ist man jedoch ebenfalls schon wieder einverstanden, daß beide Weisen, die reale und ideale, ohne einander nicht bestehen können.

Ein nackter Realismus, die baare und platte Darlegung der Wirklichkeit, wenn auch noch so charakteristisch, kann nicht befriedigen ohne Anknüpfung an diejenigen Empfindungen des Wohlgefallens und der höheren ästhetischen Befriedigung, von welchen in meinem vorigen Briefe gesprochen wurde. Sie kennen die Leistungen eines unbedingten Realismus in den Malereien des Franzosen Gustav Courbet, denen sich jetzt auch schon deutsche Leistungen, in München kürzlich ein Bild von Markart, zu nähern anfangen. Die Poesie ist vor den Gefahren dieser immer weiter zu gehen drohenden Anwendung des bei Shakespeare von den Macbethhexen ausgesprochen Satzes der Umkehr: „Schön ist häßlich, häßlich schön!“ durch den Umstand bewahrt, daß sie nicht das bestechende Material, die Farbe, besitzt, um die nackteste Natürlichkeit bei alledem einschmeichelnd darzustellen. Gegen eine Anerkennung des tiefen Zuges im Zeitgeiste, das gleichsam auf den Kopf gestellte Schöne zum Ausdruck des Einspruchs gegen die Voraussetzung, als wäre diese Welt die beste aller möglichen Welten, zu machen und hinter dem Zerrbilde eine Welt der Leere, der Trauer, der Unzufriedenheit, kurz dessen, was man Weltschmerz nennt, ahnen zu lassen, versperre ich mich bei alledem keineswegs.

Robert Hamerling hat sich leider in seinem Ihnen so anempfohlenen Gedicht nicht als ein Idealist gezeigt, der vom Realisten so viel mit aufgenommen hat, um ein Werk der vollkommenen Harmonie hervorzubringen. Die realistische Zuthat zu seiner im Ganzen phantastischen, wenn auch historischseinsollenden Schilderung ist an sich ausgezeichnet; sie bringt herrliche Schlachten-, Aufruhrs-, Naturbilder. Aber die lebendige Farbengebung derselben, ja die den Chroniken entsprechende Treue in diesen Partieen ersetzt nicht das Verfehlte der Hauptidee selbst. „Der König von Sion“ ist jener „Prophet“, den Sie aus Meyerbeer’s Oper kennen – bei Meyerbeer Alles in Allem ursprünglich ein Kellner, den die einem ersten Tenor geziemende Liebenswürdigkeit zur Zeit der Münster’schen Wiedertäuferunruhen (1534) zum König eines erträumten irdischen Sion, eines der nahen Wiederkunft Christi vorausgehenden Weltreiches macht. Hamerling hat aus Jân Bockelson von Leyden einen fahrenden Gaukler, Halbpoeten, Halbschauspieler gemacht. Freiholde nannte man im Mittelalter solche fahrenden Phantasten, Narren, Clowns besserer Art. Die Geschichte giebt dem Dichter dafür allerdings eine Anlehnung. Aber wäre er ihr nur ganz gefolgt! Welche phantastische Posse macht Hamerling aus einem Ereigniß der deutschen Geschichte, das so klar, so in allen Einzelheiten anschaulich vor uns steht!

Das Münster’sche Wiedertäuferreich hat sich von seinen ersten, aus den Kämpfen um die gereinigte christliche Lehre hervorgegangenen Anfängen an bis an das entsetzliche Ende, das es gefunden, so grell in die Annalen der deutschen Geschichte eingeschrieben, daß eine unrealistische Behandlung desselben, eine Idealisirung dieser so gräulich beirrten Menschen, die zwölf Frauen zu gleicher Zeit nahmen und diejenige, die ihnen Ursache zum Mißfallen gab, mit eigener Hand auf offenem Markte köpften, ein Verbrechen am Genius der Geschichte ist, der ohnehin ein poetischer Genius an sich ist und durch die Fortschritte unserer Geschichtschreibung auch in letzterer selbst immer mehr seine Schwingen entfaltet. Wo die Geschichte in so flammenden Zügen geschrieben hat, wo das Ende jener dem Psychologen und Dichter gewiß im höchsten Grade zu empfehlenden gräßlichen Episode des biederen deutschen Volkslebens ausgesprochen liegt in jenem noch jetzt zu sehenden eisernen Käfig am Lambertithurm zu Münster, in jenen eisernen Henkerinstrumenten, mit denen die Achtsexecutoren den König von Sion an allen Gliedern brennen, zerreißen, zerfleischen ließen, wie kann da ein Dichter kommen und uns eine Erfindung glaublich machen wollen von einem träumerischen Jüngling, der, von Zaubergewalten verführt, die Brust von Idealen gehoben, in eine Wirrniß des Lebens geräth, aus welcher ihm zuletzt eine phantastisch ersonnene Frauengestalt, dann der Dolch – des Selbstmordes heraushilft! Klio zeigt dabei auf ihre ehernen Tafeln, und alle ihre Schwestern liefern ihr den Dichter, als einen Verräther am Musenhain, gebunden aus.

Die Geschichte ist das größte Gedicht. Die Ereignisse, in ihren Urquellen erfaßt, die Thaten, in ihren Beweggründen erkannt, spotten alles Menschenwitzes, der sie erklären und auf seine Weise deuten will. Die Riesenharfe, die der Weltgeist spielt, hallt in so mächtigen Tönen wider, daß die Leiern aller Dichter wie Heimchentöne dahinschrillen im rollenden Donner. Wo sich [233] die dem Dichter gewordene Offenbarung nicht befähigt zeigt, die eherne Sprache der Dinge, wie sie wirklich waren, zu fassen, zu deuten, annähernd wiederzugeben, da soll die Hand fern bleiben, die mit Rosen kommt, wo die Wirklichkeit Feuergluthen hatte, mit Träumen und Mondscheinwandeln, wo Alles die grellste, nur zu gewisse Tageshelle beleuchtete. „Ik, Johann von Leyden, mit myner eegnen Hand ontertekent –“ unterzeichnete sich der König von Sion, sprach ein holländisches Plattdeutsch und kam in seiner Bildung über einen verdorbenen kleinen Schulmeister, den er neben dem Schneider machte, nicht hinaus. Er hatte, wie damals die Handwerker alle („die Meistersinger von Nürnberg“ bringen’s ja jetzt auf der Bühne in Töne), Verse gemacht der Art, wie man damals Verse machte. Man wiederholte die Sprache und die Anschauungen der Bibel. Die Pracht der salomonischen Zeit, die Bilder in den holländischen Kirchen waren Bockelson geläufig. Er führte in sein Königreich Pracht und Herrlichkeit ein mit der Phantasie eines Schneiders aus jenen costümliebenden Zeiten, die sich in den unsrigen nur noch bei den Damenschneidern erhalten hat. Welche Hamlet-Empfindungen, welche Spinoza- Raisonnements legt ihm Hamerling unter! Darf man das? Ich bestreite es sämmtlichen Feuilletonisten der österreichischen Zeitungen gegenüber, ja, ich erkläre die wirkliche Geschichte des Königs von Sion für viel poetischer, als die für ein Ballet-Libretto passende Erfindung Hamerling’s. Es ist die: Ein Syndicus aus Leipzig, der sich nach Münster zurückgezogen hatte, brachte ein schönes, leichtsinniges Weib mit sich, ein Weib voll Liebreiz und Anregungsbedürftigkeit. In einem schönen Garten versammelte sie Alles um sich, was in Münster Musik, Tanz, Freuden der Tafel, Liebreiz der Frauen zu schätzen wußte. Ein edler lutherischer Geistlicher, der Tonangeber und geistige Beherrscher Münsters, Rottmann, wurde das Opfer ihrer Künste. Ihr Gatte starb. Sie hatte ihn vergiftet, sagte man. Rottmann ehelichte sie. Die innere Unruhe, die Angst des Gewissens trieb ihn zu religiöser Exaltation. Er befürwortete die Wiedertaufe, das Anziehen eines neuen Menschen. So traf ihn der Wanderapostel der Wiedertäufer, Matthiesen, der aus Holland kam mit einem jungen Weibe Diwara (Deborah). Diesem folgte Jân Bockelson, ebenfalls beweibt. Schaaren von Wiedertäufern wanderten in Münster ein. Bockelson trat in einen bereits überspannten Kreis, der die Sünde im Fleisch durch den Geist sühnen wollte, in einen Kreis, der sich mühte, in jenem Bezirke einen Anker zu werfen, in welchem es, wie Schiller sagt, keinen giebt, im Bezirk der Phantasie. Auch ihn verlangte nach Diwara. Diese hatte nicht nöthig, ihren Gatten zu vergiften. Er fiel schon vor dem Feinde. Da erfanden sich die glühenden Leidenschaften und jene inneren Stimmen, die uns für die Leidenschaften die Verantwortlichkeit ausreden wollen, eine Wiederaufnahme dessen, was einst den Patriarchen erlaubt gewesen wäre. Diwara wurde des Königs Weib zu demjenigen, das er schon hatte, und noch zu zehn anderen hinzu, die nur die symbolische Zahl voll machen sollten, ohne daß sie Jân berührt zu haben scheint. Die Schwärmerei der Frauen, nicht für die Entfesselung der Sinne, nicht für das sehr zweifelhafte Glück, auf Gerathewohl einem Manne als sein zwölftes Weib zugewiesen zu werden, sondern die wirkliche Liebe für Einen, den sie schwach erkannten, unglücklich fanden um eine Leidenschaft, die ihn verzehrte, kam dem wüsten Wahn zu Hülfe, und es thürmte sich aus schmerzlichen Wahrheiten und den grauenvollsten Irrthümern im Menschenherzen eine Welt voll Gräuel auf, die zu schildern den Dichter reizen kann. Hamerling hat den Kern der Frage nicht getroffen. Nicht einmal die Wiedertaufe, diesen eigentlichen Quell einer solchen moralischen Sündfluth, hat er an irgend einer Stelle seines Gedichts in ihrer tieferen Bedeutung dargestellt, noch irgend etwas von dem entwickelt, was für sie sprechen und durch sie hervorgerufen werden sollte.

Dagegen hat sein unhistorischer Rahmen allerdings eine Füllung erhalten, die uns anzieht durch beschreibende Schönheiten, aber auch abstößt durch Hereinziehen aller der Fragen, die dem Nachtleben – unserer Zeit angehören! Selbst eine Vertreterin jener Form der „freien Liebe“ fehlt nicht, die den Frauen das Vorrecht sichern will, sich ihre Männer selbst auszuwählen, wie sich bei Hof die Fürstinnen ihre Tänzer selbst aufrufen! Fehlt denn unsern Tagen diese Freiheit? Auf jeder letzten Seite unsrer Zeitungen bieten Frauen, „denen es an Herrenbekanntschaft fehlt“, ihre Hand aus. Diwara’s Liebe fehlt auch unserm Gedicht nicht. Sie ist des „edlen Schwärmers“ Jân Bockelson, des Vertreters des „Schönheitsprincips im Leben“, böses Princip. Warum aber als Zigeunerin? Die Kinder des „wandernden Stammes“ spielen in dem wüsten Hexensabbath, wie ihn der Dichter schildert, eine entscheidende Rolle. Würde das damals unter Christen geduldet worden sein?

Diwara ist die vollständige Deborah der Bühne. Die theatralische Attitüde waltet überall vor, nicht blos die des Ballets, der Massengruppirungen mit blauer und rother Beleuchtung, sondern auch das theatralische Pathos der Empfindungsübergänge. Eine Nonne, Hilla, kniet erst vor dem Muttergottesbilde und stößt den Gegner des Nazarenerthums, Jân Bockelson, mit Abscheu von sich, es folgt ein Duett mit Ja! Nein! Nein! Ja! und beim Finale trinken sie sich schon wie Jener gesagt hat, einander ihre Seelen zu. Diwara, die ihrerseits von Bockelson (bei Hamerling) nicht geliebt wird, hat „als Königin, Rächerin, Heldin“ gesiegt, sie hofft es nun auch zum Siege „als Weib“ zu bringen. Man hört einen förmlichen Actschluß des Fräulein Wolter vom Burgtheater.

Gleichviel, ob Sie nun mir, der ich an sich Hamerling’s schönes Talent und seine freiheitsfrische Gesinnung schätze, oder jenen Zeitungen vom Casino folgen wollen, mir lag daran, Sie mit den Gegensätzen zwischen Idealismus und Realismus vertraut zu machen, die eine Zeitlang eine tiefe Kluft in unsre literarischen Debatten gerissen hatten. Sie fängt an sich zu schließen. Doch dürfte in meinen Briefen noch öfters Gelegenheit eintreten, auf sie zurückzukommen.