Lichtenstein/Zweiter Teil/VII
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„Aus einem tiefen grünen Thal
Steigt auf ein Fels als wie ein Strahl,
Drauf schaut das Schlößlein Lichtenstein
Vergnüglich in die Welt hinein.“
Schwab.[1]
Georg konnte sich anfangs nicht recht auf seine Lage und die Gegenstände umher besinnen, als er von dem Pfeifer von Hardt aus dem Schlaf aufgeschüttelt wurde; allmählich aber kehrten die Bilder der vergangenen Nacht in seine Seele zurück, und er erwiderte freudig den Handschlag, mit welchem ihn der geächtete Ritter begrüßte. „So gerne ich Euch noch tagelang in meinem Palast beherbergen würde“, sprach dieser, „so möchte ich Euch doch raten, nach Lichtenstein aufzubrechen, wenn Ihr anders ein warmes Frühstück haben wollet. In meiner Höhle kann ich Euch leider keines bereiten lassen, denn wir machen niemals Feuer auf, weil der Rauch uns gar zu leicht verraten könnte.“
Georg stimmte seinen Gründen bei und dankte ihm für seine Beherbergung. „Wahrlich“, sagte er, „ich habe selten eine fröhlichere Nacht beim Becher verlebt als in dieser Höhle. Es hat etwas Reizendes, so tief unter den Füßen der Menschen zu atmen und mit Freunden sich zu besprechen. Ich gebe nicht den herrlichsten Saal des schönsten Schlosses um diese Felsenwände!“
„Ja, unter Freunden, wenn der Becher munter kreist“, entgegnete der Bewohner der Höhle; „aber unfreiwillig hier zu sitzen, tagelang einsam in diesen Kellern über sein Unglück zu brüten, wenn das Herz sich hinaus sehnt in den grünen Wald, unter den blauen Himmel, wenn das Auge, müde dieser unterirdischen Pracht, hineintauchen möchte in die reizende Landschaft, hinüberschweifen möchte über lachende Thäler zu den fernen Bergen der Heimat; wenn das Ohr, betäubt von dem eintönigen Gemurmel dieser Wasser, die Tropfen um Tropfen von den Wänden rieseln und gesammelt in bodenlose Tiefen hinabstürzen, sich hinaussehnt, den Gesang der Lerche zu hören, zu lauschen, wie das Wild in den Büschen rauscht!“
[239] „Armer Mann! es ist wahr, eine solche Einsamkeit muß schrecklich sein!“
„Und dennoch“, fuhr jener fort und richtete sich höher auf, indem ein stolzer Trotz aus seinen Augen blitzte, „und dennoch preise ich mich glücklich, mit Hülfe guter Leute diese Zuflucht gefunden zu haben. Ja ich wollte lieber noch hundert Faden tief hinabsteigen, wo die Brust keine Luft mehr zu atmen findet, als in die Hände meiner Feinde fallen und ihr Gespötte werden; und wenn sie dahin mir nachkämen, die blutgierigen Hunde des Bundes, so wollte ich mich mit meinen Nägeln weiter hineinscharren in die härtesten Felsen, ich wollte hinabsteigen tiefer und immer tiefer, bis wo der Mittelpunkt der Erde ist. Und kämen sie auch dorthin, so wollte ich die Heiligen lästern, die mich verlassen haben, und wollte dem Teufel rufen, daß er die Pforten der Finsternis aufreiße und mich berge gegen die Verfolgung dieses übermütigen Gesindels.“ Der Mann war in diesem Augenblick so furchtbar, daß Georg unwillkürlich vor ihm zurückbebte. Seine Gestalt schien größer, alle seine Muskeln waren angespannt, seine Wangen glühten, seine Augen schossen Blitze, als suchen sie einen Feind, den sie vernichten sollten, seine Stimme dröhnte hohl und stark, und das Echo der Felsen sprach ihm in schrecklichen Tönen seine Verwünschungen nach. Obgleich diese Gradation dem Jüngling zu stark vorkommen mochte, so konnte er doch die Gefühle eines Mannes nicht tadeln, den man, weil er seinem Herrn treu geblieben war, aus seinen Besitzungen hinausgeworfen hatte, den man wie ein angeschossenes Wild suchte, um ihn zu töten: „Es liegt ein Trost in dieser Gesinnung“, sagte er zu dem Geächteten, „und Ihr werdet Euer Unglück leichter tragen, wenn Ihr den Gegensatz recht scharf ins Auge fasset. Ich bewundre Euch um Eurer Seelenstärke, Herr Ritter! aber eben dieses Gefühl der Bewunderung nötigt mir eine Frage ab, die vielleicht noch immer zu unbescheiden klingt, doch Ihr habt mich in der letzten Nacht zu oft Freund genannt, als daß ich sie nicht wagen dürfte; nicht wahr, Ihr seid Marx Stumpf von Schweinsberg?“
Es mußte etwas Lächerliches in dieser Frage liegen, das Georg nicht finden konnte, denn der Ernst, der noch immer auf den Zügen [240] des Ritters gelegen, war wie weggeblasen, er lachte zuerst leise vor sich hin, dann aber brach er in lautes Gelächter aus, in welches, wie auf ein gegebenes Zeichen, auch der Spielmann einstimmte.
Georg sah bald den einen, bald den andern fragend an, aber seine verlegenen Blicke schien nur die Lachlust der beiden Männer noch mehr zu reizen. Endlich faßte sich der Geächtete: „Verzeihet, werter Gast, daß ich das Gastrecht so gröblich verletzte und mir nicht lieber die Zunge abgebissen habe, ehe ich etwas von Euch lächerlich fand; aber wie kommt Ihr nur auf den Marx Stumpf? Kennet Ihr ihn denn?“
„Nein, aber ich weiß, daß er ein tapferer Ritter ist, daß er wegen des Herzogs vertrieben wurde, und daß die Bündischen auf ihn lauern; und paßt dieses nicht alles ganz gut auf Euch?“
„Danke Euch, daß Ihr mich für so tapfer haltet, aber das möchte ich Euch doch raten, daß Ihr dem Stumpf nicht bei Nacht in den Weg kommet wie mir, denn dieser hätte Euch ohne weiteres zu Kochstücken zusammengehauen. Der Schweinsberg ist ein kleiner, dicker Kerl, einen Kopf kleiner als ich, und darum kam mir unwiderstehlich das Lachen. Übrigens ist er ein ehrenwerter Mann und einer von den wenigen, die ihren Herrn im Unglück nicht verließen.“
„So seid Ihr nicht dieser Schweinsberg?“ entgegnete Georg traurig, „und ich muß gehen, ohne zu wissen, wer mein Freund ist?“
„Junger Mann!“ sagte der Geächtete mit Hoheit, die nur durch den gewinnenden Ausdruck der Freundlichkeit gemildert wurde, „Ihr habt einen Freund gefunden durch Euer tapferes, ehrenvolles Wesen, durch Euren offenen, freien Blick, durch Eure warme Teilnahme an dem unglücklichen Herzog. Es sei Euch genug, diesen Freund gewonnen zu haben, fraget nicht weiter, ein Wort könnte vielleicht dieses trauliche Verhältnis zerstören, das mir so angenehm ist. Lebet wohl, denket an den geächteten Mann ohne Namen und seid versichert, ehe zwei Tage vorbeigehen, sollt Ihr von mir und meinem Namen hören!“ Es wollte Georg dünken, als stehe dieser Mann trotz seines unscheinbaren Kleides vor ihm wie ein Fürst, der seinen Diener huldreich entläßt, so [241] groß war jene unbeschreibliche Hoheit, die ihm auf der Stirne thronte, so erhaben der Glanz, der aus seinem Auge drang.
Der Pfeifer hatte unter diesen Worten die Fackeln angezündet und stand erwartend am Eingang der Grotte; der geächtete Ritter drückte einen Kuß auf die Lippen des Jünglings und winkte ihm, zu gehen. Er ging und wußte nicht, wie ihm geschah, noch nie war ihm ein Mensch so freundlich nahe und doch zugleich so unendlich hoch über ihm gestanden, noch nie hatte er gefühlt wie in jenen Augenblicken, daß ein Mann entkleidet von jenem irdischen Glanze, der das Leben schmückt, selbst in ärmlicher Hülle und Umgebung, eine Erhabenheit und Größe von sich strahlen könne, die das Auge blendet und das Gefühl des eigenen Ichs so plötzlich überrascht und hinabdrückt. Mit diesem Gedanken beschäftigt, ging er durch die Höhle; die erhabene Pracht der Natur, die beim Eintritt sein Auge überrascht und gefesselt hatte, ging für ihn verloren; er staunte nicht mehr, daß sie im Schoße eines unscheinbaren Berges sich so herrlich und großartig ausgesprochen habe. War ja doch sein inneres Auge mit einem Gegenstand beschäftigt, in welchem sie sich noch imposanter und großartiger aussprach als in der nächtlichen Pracht dieser Felsen; denn er bewunderte die Erhabenheit des menschlichen Geistes über jedes irdische Verhältnis und dachte nach über die Majestät einer großen Seele, die auch im Gewande des Bettlers ihren angeborenen Adel nicht verleugnen kann.
Ein heller, freundlicher Tag empfing sie, als sie aus der Nacht der Höhle zum Licht herausstiegen. Georg atmete freier und leichter in der kühlen Morgenluft, denn der feuchte Dunst, der in den Gängen und Grotten der Höhle umzieht, und wovon sie vielleicht den Namen Nebelhöhle trägt, lagert sich beengend auf die Brust. Sie fanden das Pferd des jungen Ritters noch an derselben Stelle angebunden, munter und frisch wie sonst, und selbst die Waffenstücke, die am Sattel befestigt waren, hatten durch den Nachttau nicht Schaden gelitten, wie Georg befürchtet hatte, denn der Pfeifer von Hardt hatte ein grobes Tuch, das ihm beim Unwetter gegen Regen und Kälte dienen mochte, über den Rücken des Pferdes ausgebreitet. Georg machte seine Kleidung und das Zeug des [242] Rosses zurecht, während der Bauer diesem einige Händevoll Heu zum Morgenbrot reichte, und dann ging es weiter den Berg hinan. Sie waren noch wenige Schritte vorgerückt, als der Klang einer Glocke aus dem Thal herauf tönte, die feierliche Stille des Morgens unterbrach, eine andere antwortete, drei bis vier stimmten ein, bis die melodischen Töne von wenigstens zwölf Glocken von den Höhen umher und aus den Thälern aufstiegen. Überrascht hielt der junge Mann sein Pferd an. „Was ist das!“ rief er, „brennt es irgendwo, oder wie, sollten wir heute ein Fest im Kalender haben? Weiß Gott, ich bin durch meine Krankheit so aus aller Zeit herausgekommen, daß ich den Sonntag nur daran erkenne, daß die Mädchen neue Röcke und frische Schürzen anhaben.“
„Es ist wohl schon manchem Kriegsmann so gegangen“, antwortete Hans der Spielmann; „ich selbst habe mich oft erst auf die Zeit besinnen müssen, wenn ich wichtigere Dinge im Kopf hatte als Mess’ und Predigt; aber heute ist es ein anderes Ding“, setzte er ernster hinzu und schlug ein Kreuz, „heut’ ist Karfreitag. Gelobt sei Jesus Christus!“
„In Ewigkeit!“ erwiderte der Jüngling. „Es ist das erste Mal in meinem Leben, daß ich den Tag nicht würdig begehe, wie ich soll; und dieser Tag erinnert mich an manche schöne Stunde meiner Kindheit. Damals lebte noch mein Vater; ich hatte eine sanfte, gute Mutter und ein ganz kleines Schwesterlein. Wir beide freuten uns immer, wenn der Karfreitag kam; wir wußten nichts von der Bedeutung des Tages, aber wir rechneten dann, daß es nur noch zwei Tage bis Ostern sei, wo uns die Mutter schöne Sachen bescherte. Requiescant in pace“, setzte er hinzu, indem er seitwärts blickte, um eine Thräne zu verbergen, „sie sind drüben alle drei und feiern dort ihren heiligen Freitag.“
„Man sollte nicht von so unheiligen Dingen sprechen“, sagte der Pfeifer nach einigem Stillschweigen, „aber mein Beichtiger mag es mir schon vergeben. Ich denke, Ihr solltet nicht traurig sein, Junker! Denen, die schlafen, ist es wohl, und die, die wachen, sollen vorwärts und nicht rückwärts sehen. So würde ich an Eurer Stelle daran denken, wie Ihr einst auch Euren Kindlein das Ostern bescheren könnet, und wie sie sich freuen werden am [243] Karfreitag. Seid Ihr nicht auf der Brautfahrt, und wird ein gewisses Fräulein nicht auch eine gute, sanfte Mutter werden?“
Georg suchte umsonst ein Lächeln zu unterdrücken, das dieser sonderbare Trostspruch hervorgelockt hatte; „Höre, guter Freund“, entgegnete er, „dir ist zur Not ein solches Wort erlaubt; doch möchte ich keinem andern raten, meine Ohren durch solche sündige Gedanken zu entweihen.“
„Nichts für ungut, Herr! ich wollte weder Euch noch das Fräulein damit beleidigen; soll auch nicht mehr geschehen. Aber sehet Ihr nicht dort schon den Turm aus den Wipfeln ragen? Noch eine kleine Viertelstunde, und wir sind oben.“
„Soviel ich gestern in der Nacht bemerken konnte, ist das Schloß auf einen einzelnen, jähen Felsen hinausgestellt? Bei Gott, ein kühner Gedanke, da konnte wohl niemand hinüberkommen, wer nicht mit den Geiern im Bunde war und fliegen gelernt hatte; freilich, jetzt könnte man mit Stückschüssen sehr zusetzen.“
„Meint Ihr? Nun, es stehen auch vier gute Doppelhaken in der Halle, die auch ein Wörtchen antworten würden. Wenn Ihr recht gesehen habt, so müßt Ihr bemerkt haben, daß der Felsen ringsum durch ein breites Thal von den Bergen umher gesondert ist, dorther könnte man nicht viel Schaden thun; die einzige Seite, die näher an dem Berge liegt, ist die, wo die Zugbrücke herübergeht. Pflanzet einmal dort Geschütz auf und sehet zu, ob es Euch der Lichtensteiner nicht in den Grund schießt, ehe Ihr nur ein Fenster aufs Korn genommen habt. Und wie wollet Ihr Geschütz heraufführen in diesen Schluchten und Bergen, ohne daß Euch wenige entschlossene Männer mehr Schaden thun, als das ganze Nest wert ist?“
„Da habt Ihr recht“, antwortete Georg, „ich möchte wissen, wer den Gedanken gehabt hat, auf den Felsen ein Schloß zu bauen.“
„Das will ich Euch sagen“, erwiderte der Spielmann, der mit allen Sagen seines Landes vertraut war; „es lebte einmal vor vielen Jahren eine Frau, die mußte viele Verfolgung dulden und wußte sich nicht mehr zu raten. Da kam sie an diesen Felsen und sah, wie ein großer Geier mit seiner Familie und allem Haushalt dort lebte und gegen alle Nachstellung sicher war. Da beschloß [244] sie, den Geier zu verdrängen. Sie ließ das Schloß dorthin bauen, und als alles fertig war, ließ sie die Brücke aufziehen, stieg auf die Zinne ihres Turmes und sprach: ‚Nun bin ich Gottes Freund und aller Welt Feind.‘ Und es konnte ihr keiner mehr etwas anhaben. Aber sehet, da sind wir schon. Lebet wohl, vielleicht daß ich Euch schon heute nacht wiedersehe. Ich steige jetzt ins Land hinab und bringe dann dem Herrn in der Höhle Kundschaft, wie es dort unten aussieht. Vergesset nicht, an der Brücke Brief und Ring dem Herrn des Schlosses zu senden, und hütet Euch, das Siegel selbst zu brechen.“
„Sei ohne Sorgen! ich danke dir für dein Geleite und grüße meinen werten Gastfreund in der Höhle.“ Georg sprach es, trieb sein Pferd an, und in wenigen Augenblicken war er vor der äußeren Verschanzung von Lichtenstein angelangt.
Ein Knecht, der das Thor bewachte, fragte nach seinem Begehr und rief einen anderen herbei, ihrem Herrn das Brieflein und den Ring zu übergeben. Georg hatte indes Zeit genug, das Schloß und seine Umgebungen zu betrachten. War ihm schon in der Nacht beim ungewissen Schein des Mondes und in einer Gemütsstimmung, die ihn nicht zum aufmerksamsten Beobachter machte, die kühne Bauart dieser Burg aufgefallen, so staunte er jetzt noch mehr, als er sie vom hellen Tag beleuchtet anschaute. Wie ein kolossaler Münsterturm steigt aus einem tiefen Albthal ein schöner Felsen frei und kühn empor. Weitab liegt alles feste Land, als hätte ihn ein Blitz von der Erde weggespalten, ein Erdbeben ihn losgetrennt oder eine Wasserflut vor uralten Zeiten das weichere Erdreich ringsum von seinen festen Steinmassen abgespült. Selbst an der Seite von Südwest, wo er dem übrigen Gebirge sich nähert, klafft eine tiefe Spalte, hinlänglich weit, um auch den kühnsten Sprung einer Gemse unmöglich zu machen, doch nicht so breit, daß nicht die erfinderische Kunst des Menschen durch eine Brücke die getrennten Teile vereinigen konnte.
Wie das Nest eines Vogels auf die höchsten Wipfel einer Eiche oder auf die kühnsten Zinnen eines Turms gebaut, hing das Schlößchen auf dem Felsen. Es konnte oben keinen sehr großen Raum haben, denn außer einem Turm sah man nur eine befestigte [245] Wohnung, aber die vielen Schießscharten im unteren Teil des Gebäudes und mehrere weite Öffnungen, aus denen die Mündungen von schwerem Geschütz hervorragten, zeigten, daß es wohlverwahrt und trotz seines kleinen Raumes eine nicht zu verachtende Feste sei; und wenn ihm die vielen hellen Fenster des oberen Stockes ein freies, luftiges Ansehen verliehen, so zeigten doch die ungeheuren Grundmauern und Strebepfeiler, die mit dem Felsen verwachsen schienen und durch Zeit und Ungewitter beinahe dieselbe braungraue Farbe wie die Steinmasse, worauf sie ruhten, angenommen hatten, daß es auf festem Grunde wurzle und weder vor der Gewalt der Elemente noch dem Sturm der Menschen erzittern werde. Eine schöne Aussicht bot sich schon hier dem überraschten Auge dar, und eine noch herrlichere, freiere ließ die hohe Zinne des Wartturms und die lange Fensterreihe des Hauses ahnen.
Diese Bemerkungen drängten sich Georg auf, als er erwartend an der äußeren Pforte stand, die wohlverschanzt herwärts über der Kluft, auf dem Lande den Zugang zu der Brücke deckte. Jetzt tönten Schritte über die Brücke, das Thor that sich auf, und der Herr des Schlosses erschien selbst, seinen Gast zu empfangen. Es war jener ernste, ältliche Mann, den Georg in Ulm mehreremal gesehen, dessen Bild er nicht vergessen hatte; denn die düsteren, feurigen Augen, die bleichen, aber edlen Züge, seine große Ähnlichkeit mit der Geliebten hatten sich tief in die Seele des Jünglings geprägt.
„Ihr seid willkommen in Lichtenstein“, sagte der alte Herr, indem er seinem Gast die Hand bot und eine gütige Freundlichkeit den gewöhnlichen strengen Ernst seiner Züge milderte. „Was steht ihr müßig da, ihr Schlingel!“ wandte er sich nach dieser ersten Begrüßung zu seinen Dienern. „Soll etwa der Junker sein Roß mit hinaufführen in die Stube? Schnell, hinein mit in den Stall; das Rüstzeug traget auf die Kammer am Saal! – Verzeihet, werter Herr, daß man Euch so lange unbedient stehen ließ, aber in diese Bursche ist kein Verstand zu bringen. Wollet Ihr mir folgen?“
Er ging voran über die Zugbrücke, Georg folgte. Sein Herz pochte bei diesem Gang voll Erwartung, voll Sehnsucht, seine Wangen röteten sich vor Liebe und vor Scham, wenn er an die letzte [246] Nacht und an die Gefühle zurückdachte, die ihn zuerst vor diese Burg geführt hatten. Sein Auge suchte an den Fenstern umher, ob es nicht die Geliebte erspähe, sein Ohr schärfte sich, um vielleicht ihre Stimme zu vernehmen, wenn auch ihr Anblick ihm jetzt noch verborgen war. Aber umsonst suchten seine Blicke diese Mauern zu durchbohren, umsonst fing sein scharfes Ohr jeden Laut begierig auf, noch schien sie sich nicht zeigen zu wollen.
Sie gelangten jetzt an das innere Thor. Es war nach alter Art tief, stark gebaut und mit Fallgattern, Öffnungen für siedendes Öl und Wasser und allen jenen sinnreichen Verteidigungsmitteln versehen, womit man in den guten alten Zeiten den stürmenden Feind, wann er sich der Brücke bemeistert haben sollte, abhielt. Doch die ungeheuren Mauern und Befestigungen, die sich von dem Thor an rings um das Haus zogen, verdankte Lichtenstein nicht der Kunst allein, sondern auch der Natur; denn ganze Felsen waren in die Mauerlinie gezogen, und selbst der schöne, geräumige Pferdestall und die kühlen Kammern, die statt des Kellers dienten, waren in den Felsen eingehauen. Ein bequemer, gewundener Schneckengang führte in die oberen Teile des Hauses, und auch dort waren kriegerische Verteidigungen nicht vergessen; denn auf dem Vorplatz, der zu den Zimmern führte, wo in anderen Wohnungen häusliche Gerätschaften aufgestellt sind, waren hier furchtbare Doppelhaken und Kisten mit Stückkugeln aufgepflanzt. Das Auge des alten Ritters ruhte mit einem gewissen Ausdruck von Stolz auf diesem sonderbaren Hausrat, und in der That konnten diese Geschütze damals für ein Zeichen von Wohlhabenheit und selbst Reichtum gelten, denn nicht jeder Privatmann war im stande, seine Burg mit vier oder sechs solchen Stücken zu versehen.
Von hier ging es noch einmal aufwärts in den zweiten Stock, wo ein überaus schöner Saal, ringsum mit hellen Fenstern, den Ritter von Lichtenstein und seinen Gast aufnahm. Der Hausherr gab einem Diener, der ihnen gefolgt war, mehr durch Zeichen als Worte, einige Befehle, die ihn aus dem Saale entfernten.[Hauff 1]
- ↑ Erste Strophe des Gedichtes „Schloß Lichtenstein“.
Anmerkungen (Hauff)
- ↑ [298] Crusius beschreibt in seiner Chronik das Schlößchen Lichtenstein, wie wir es hier nacherzählen. Er sah es zu Ende des sechzehnten Jahrhunderts, also etwa siebzig Jahre nach dem Jahr 1519. Dort findet sich auch die hieher gehörige Stelle: „Im oberen Stockwerk ist ein überaus schöner Saal, ringsum mit Fenstern, aus welchen man bis an den Asperg sehen kann: darin hat der vertriebene Fürst Ulerich von Württemberg öfter gewohnt, der des Nachts vor das Schloß kam und nur sagte: [299] ‚Der Mann ist da!‘ so wurde er eingelassen.“ Wo aber wohnte er den Tag über? wo hielt sich der Vertriebene auf? Die Frage lag sehr nahe. Jetzt ist in die Ruinen des alten Schlosses ein Jägerhaus erbaut, das noch immer den Namen des „Lichtensteiner Schlößleins“ trägt, und am fröhlichen Pfingstfest einer lebensfrohen Menge zum Tummelplatz dient.
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