Lichtenstein/Zweiter Teil/IV
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[203]
„Weh’ mir, ich habe die Natur verändert.
Wie kommt der Argwohn in die freie Seele?
Vertrauen, Glaube, Hoffnung ist dahin.
Denn alles log mir, was ich hochgeachtet.“
Schiller.[1]
Als dieser Mann das Zimmer verlassen hatte, sahen die Gäste erstaunt einander an; es war ihnen zu Mut, als hätten sie ein schweres Gewitter aufsteigen sehen, es hätte gekracht, als ob die Erde bersten wollen, ja, als wäre ein erschrecklicher, tötender Blitz auf sie herabgefahren, und siehe da, es war nur ein „kalter Schlag“. Dem Mann mit dem Lederrücken dankten sie, daß er den ungezogenen, übermütigen Gast so schnell entfernet habe, und fragten, was er wohl von dem hageren Fremden wisse?
„Den kenne ich wohl“, antwortete dieser, „das ist unseres Herrgotts Tagdieb, ein fahrender Arzt, der den Leuten Pillen verkauft gegen die Pest, den Hunden den Wurm schneidet und die Ohren stutzt, die Mädchen von dicken Hälsen befreit und den Weibern Augenwasser gibt, daß sie blind werden. Er heißt eigentlich Kahlmäuser, aber weil er ein Gelehrter sein will, heißt er sich Doktor Calmus. Er nistet sich bei allen großen Herren ein, und wenn ihn einer einmal einen Esel geheißen hat, so meint er schon, er sei sein bester Freund.“
„Mit dem Herzog muß er aber nicht gut stehen“, bemerkte der schlaue Herr, „denn er hat doch lästerlich über ihn geschimpft.“
„Ja, mit Herrn Ulerich steht er freilich nicht gut; das ging aber so; der Herzog hatte einen schönen dänischen Jagdbund, der hatte sich im Schönbuch einen Dorn tief in die Pfote getreten. Den Herzog dauerte der Hund, er forschte nach einem geschickten Mann, der das Tier heilen könnte, und zufällig war der Kahlmäuser da und bot sich mit wichtigem Gesicht dazu an. Er bekam im Schloß in Stuttgart alle Tage gut zu essen und ein Maß Wein; das schmeckte ihm nun so gut, daß er über ein Vierteljahr an der Hundspfote dokterte. Da ließ ihn eines Tages der Herzog samt dem Hund rufen und fragte, was er ausgerichtet habe. Er soll viel [204] gelehrtes Zeug geschwatzt haben, doch der Herr hat nicht darauf geachtet, sondern die Pfote selbst untersucht, und da fand es sich, daß sie schon ganz schwarz und brandig war. Da nahm der Herzog den Kahlmäuser, so lang er war, trug ihn an die lange Treppe, auf der man bis in den zweiten Stock hinaufreiten kann, und warf ihn hinunter, daß er halb tot unten ankam. Und seit der Zeit ist der Doktor Calmus nicht gut auf den Herzog zu sprechen. Andere sagen auch, er sei der Kundschafter gewesen zwischen dem Hutten und Frau Sabina und habe nur deswegen den Hund übernommen, weil er dadurch ins Schloß kam.“
„So? mit dem Hutten hat er es gehalten?“ sagte einer der Bürger. „Das hätten wir wissen sollen, so hätten wir ihm das Fell recht gegerbt, dem Lumpendoktor! Der Hutten ist doch an all dem unseligen Kriege schuld mit seiner Liebelei, und der dürre Kahlmäuser hat ihm dazu geholfen.“
„De mortuis nil nisi bene; man muß die Toten schonen, sagen die Lateiner“, entgegnete der fette Herr; „der arme Teufel hat es mit dem Leben teuer genug bezahlt.“
„Aber es ist ihm recht geschehen“, rief jener Bürger mit großer Hitze; „an des Herzogs Stelle hätte ich’s gerade auch so gemacht, ein jeder Mann muß sein Hausrecht wahren.“
„Reitet Ihr zuweilen mit dem Vogt auf die Jagd?“ fragte der fette Herr mit überaus schlauem Lächeln, „da habt Ihr die beste Gelegenheit; ein Schwert habt Ihr ja, und eine Eiche wird sich auch finden, wohin Ihr seinen Leichnam hängen könnet.“
Ein schallendes Gelächter der Bürger von Pfullingen belehrte den Gast im Erker, daß jener eifrige Verteidiger des Hausrechts in seinem eigenen Hause nicht so ganz strenge Justiz üben müsse. Er errötete und murmelte einige unverständliche Worte in seinen Becher hinein.
Der Zerlumpte aber, der als Fremder nicht mitlachen wollte, nahm sich seiner an: „Jawohl hat der Herzog ganz recht gehabt; denn er hätte den Hutten auf der Stelle hängen können, ohne daß er erst mit ihm focht, er ist ja Freischöff vom westfälischen Stuhl, vom heimlichen Gericht, und darf einen solchen Ehrenschänder ohne weiteres abthun. Und er hatte die besten Beweise gleich bei [205] der Hand; kennt Ihr das schöne Liedlein? Ich will einmal ein paar Verse daraus singen:[2]
Und im Wald’ er sich zum Hutten wandt’:
‚Was flimmert dort an deiner Hand?‘ –
‚Herr Herzog, ’s ist ein Ringelein,
Das hab’ ich von meiner Liebsten fein.‘
‚Ei Hans, du bist ein stattlich Mann,
Hast auch ein gülden Kettlein an!‘ –
‚Das hat mir auch mein Schatz geschenkt,
Zum Zeichen, daß sie mein gedenkt.‘
Dann heißt es weiter:
O Hutten, gib dein’m Gaul die Sporn,
Des Herzogs Auge rollt voll Zorn,
O Hutten, fleuch, noch ist es Zeit,
Er reißt das Schwert schon aus der Scheid’. –“
„Laßt es lieber gut sein“, unterbrach ihn der fette Herr mit ernster Miene; „es ist nicht gut, daß man in solchen Zeiten dies Lied in der Herberge singt; dem Herzog kann es nicht mehr nützen, und die Bündischen sind rings um uns; es könnte leicht einer etwas davon hören“, setzte er mit einem stechenden Blick auf Georg hinzu, „und dann hieße es gleich: Pfullingen zahlt hundert Gulden Brandsteuer mehr.“
„Weiß Gott, Ihr habt recht“, sagte der Zerlumpte, „es ist nicht mehr wie früher, wo man ein freies Wort sprechen und singen durfte beim Wein in der Trinkstube; da muß man immer umschauen, ob nicht dort ein Herzoglicher und auf der andern Seite ein Bündler sitzt; aber den letzten Vers will ich noch singen, trotz Bayern und dem Schwabenbund:
Es steht eine Eich’ im Schönbuchwald,
Gar breit in den Ästen und hoch gestalt’t;
Die wird zum Zeichen Jahrhunderte stah’n:
Dort hing der Herzog den Hutten d’ran.“
Er hatte ausgesungen, das Gespräch der Bürger sank jetzt zum Geflüster herab, und Georg glaubte zu bemerken, daß sie über ihn [206] ihre Glossen machen. Auch die freundliche Wirtin schien neugierig, zu wissen, wen sie in ihrem Erkerlein beherberge. Sie setzte die Speisen, die sie ihm bereitet hatte, vor ihn hin, nachdem sie ein schönes Tafeltuch über den runden Tisch ausgebreitet hatte; dann nahm sie selbst an der entgegengesetzten Seite Platz und befragte ihn, wiewohl sehr bescheiden, über das Woher? und Wohin?
Der junge Mann war nicht gesonnen, ihr über den eigentlichen Zweck seiner Reise genaue Auskunft zu geben. Das Gespräch der Gäste an der langen Tafel hatte ihn belehrt, daß es hier nicht minder gefährlich sei, zu gar keiner Partei zu gehören, als sich für irgend eine bestimmt zu erklären, er sagte daher, er komme aus Franken und werde noch weiter hinauf ins Land, in die Gegend von Zollern, reisen, und schnitt somit jede weitere Frage ab; denn die Wirtin war zu bescheiden, als daß sie sich den Ort, wohin er gehe, noch näher hätte bezeichnen lassen. Es schien ihm aber eine gute Gelegenheit, sich nach Marien zu erkundigen, denn er war glücklich, wenn ihm die Wirtin zum goldenen Hirsch auch nur ihren Namen nennen, nur den Saum ihres Kleides beschreiben würde. Er fragte daher nach den Burgen umher und nach den ritterlichen Familien, die in der Nachbarschaft wohnen.
Die Wirtin schwatzte gerne; sie gab ihm in weniger als einer Viertelstunde die Chronik von fünf bis sechs Schlössern aus der Gegend, und bald kam auch Lichtenstein an die Reihe. Der junge Mann holte tiefer Atem bei diesem Namen und schob die Schüssel weit hinweg, um seine Aufmerksamkeit ganz der Erzählerin zu widmen.
„Nun, die Lichtensteiner sind gar nicht arm, im Gegenteil, sie haben schöne Felder und Wälder und keine Rute Landes verpfändet: da ließe sich der Alte lieber seinen langen Bart abscheren, obgleich er gar viel darauf hält und ihn immer streichelt, wenn er mit den Leuten spricht. Er ist ein strenger, ernster Mann; was er einmal haben will, das muß geschehen, und sollte es biegen oder brechen. Er ist auch einer von denen, die es so lange mit dem Herzog hielten; die Bündischen werden es ihm übel entgelten lassen.“
„Wie ist denn seine …, ich meine, Ihr sagtet, er habe eine Tochter, der Lichtenstein?“
[207] „Nein“, antwortete die Wirtin, indem sich ihr sonst so heiteres Gesicht in grämliche Falten zog, „von der habe ich gewiß nicht gesprochen, daß ich es wüßte. Ja, er hat eine Tochter, der gute, alte Mann, und es wäre ihm besser, er führe kinderlos in die Grube, als daß er aus Jammer über sein einziges Kind abfährt.“
Georg traute seinen Ohren nicht; was konnte die Wirtin gerade von Marien so Arges denken, daß sie den Vater glücklich pries, wenn er dieses Kind nicht hätte? „Was ist es denn mit diesem Fräulein“, fragte er, indem er sich vergebens abmühte, recht scherzhaft auszusehen: „Ihr macht mich neugierig, Frau Wirtin; oder ist es ein Geheimnis, das Ihr nicht sagen dürft?“
Die Frau zum goldenen Hirsch schaute aus dem Erker heraus nach allen Seiten, ob niemand lausche; aber die Bürger waren ruhig in ihrem Gespräch begriffen und achteten nicht auf sie, und sonst war niemand in der Nähe, der sie hören konnte. „Ihr seid ein Fremder“, hub sie nach diesen Forschungen an, „Ihr reiset weiter und habt nichts mit dieser Gegend zu schaffen, darum kann ich Euch wohl sagen, was ich nicht jedem vertrauen möchte. Das Fräulein dort oben auf dem Lichtenstein ist ein – ein – ja bei uns Bürgersleuten würde man sagen, sie ist ein schlechtes Ding, eine lose Dirne –“
„Frau Wirtin!“ rief Georg.
„So schreiet doch nicht so, verehrter Herr Gast, die Leute schauen sich ja um. Meinet Ihr denn, ich sage, was ich nicht ganz gewiß weiß? Denkt Euch, alle Nacht Schlag eilf Uhr läßt sie ihren Liebsten in die Burg. Ist das nicht schrecklich genug, für ein sittsames Fräulein?“
„Bedenket, was Ihr sprechet! Ihren Liebsten?“
„Ja leider, nachts um eilf Uhr ihren Liebsten; es ist eine Schande und ein Spott! Es ist ein ziemlich großer Mann, der kommt in einen grauen Mantel gehüllt ans Thor. Sie hat es zu machen gewußt, daß zu dieser Zeit alle Knechte vom Thor entfernt sind, und nur der alte Burgwart, der ihr auch in ihrer Kindheit zu allen losen Streichen half, um den Weg ist; da kommt sie nun allemal, wenn es drüben in Holzelfingen eilf Uhr schlägt, selbst herunter in den Hof, die Nacht mag so kalt sein als sie will, [208] und bringt den Schlüssel zur Zugbrücke, den sie zuvor ihrem alten Vater vom Bette stiehlt; dann schließt der alte Sünder, der Burgwart, auf, die Brücke fällt nieder, und der Mann im grauen Mantel eilt in die Arme des Fräuleins.“
„Und dann?“ fragte Georg, der beinahe keinen Atem mehr in der Brust, kein Blut mehr in den Wangen hatte, „und dann?“
„Ja, dann wird Braten, Brot und Wein geholt; so viel ist gewiß, daß der nächtliche Liebste einen ungeheuren Hunger haben muß, denn er hat in mancher Nacht einen halben Rehziemer rein aufgezehrt und zwei, drei Nößel Wein dazu getrunken; was weiter geschieht, weiß ich nicht; ich will nichts vermuten, nichts sagen, aber das weiß ich“, setzte sie mit einem christlichen Blick gen Himmel hinzu, „beten werden sie nicht.“
Georg schalt sich nach kurzem Nachdenken selbst aus, daß er nur einen Augenblick gezweifelt habe, daß diese Erzählung eine Lüge, von irgend einem müßigen Kopf ersonnen sei; oder wenn etwas Wahres darin wäre, so konnte es doch nichts sein, das Marien zur Unehre gereicht hätte.
Wenn es wahr ist, daß die Liebe eines Jünglings in den guten alten Zeiten zwar nicht weniger leidenschaftlich war, als in unseren Tagen, aber mehr den Charakter reiner, anbetender Ehrfurcht trug, daß nach der Sitte der Zeit die Geliebte nicht auf gleicher Stufe mit ihrem Verehrer, sondern um eine höher stand, wenn wir den romantischen Erzählungen alter Chroniken und Minnebücher trauen dürfen, die so viele Beispiele aufführen, daß sich edle Männer, wenn sie in Liebe sind, für die Treue und Reinheit ihrer Dame auf der Stelle totschlagen lassen, so ist es nicht zu verwundern, daß Georg von Sturmfeder wenigstens auf diese Indizien hin von Marien nichts Schlechtes denken konnte. So rätselhaft ihm selbst jene nächtlichen Besuche vorkommen mochten, so sah er doch klar, es sei weder bewiesen, daß der Vater nichts darum wisse, noch daß der geheimnisvolle Mann gerade ein Liebhaber sein müsse. Er trug diese Zweifel auch seiner Wirtin vor.
„So? meint Ihr, der Vater wisse um die Geschichte?“ sprach sie; „dem ist nicht so. Sehet, ich weiß das gewiß, denn die alte Rosel, die Amme des Fräuleins –“
[209] „Die alte Rosel hat es gesagt?“ rief Georg unwillkürlich; ihm war ja diese Amme, die Schwester des Pfeifers von Hardt, so wohlbekannt; freilich, wenn diese es gesagt hatte, war die Sache nicht mehr so zweifelhaft; denn er wußte, daß sie eine fromme Frau und dem Fräulein sehr zugethan war.
„Ihr kennt die alte Rosel?“ fragte die Wirtin, erstaunt über den Eifer, womit ihr fremder Gast nach dieser Frau fragte.
„Ich? sie kennen? nein, erinnert Euch nur, daß ich heute zum erstenmal in diese Gegenden komme; nur der Name Rosel fiel mir auf.“
„Sagt man bei Euch nicht so? Rosel heißt Rosina bei uns, und so nennt man die alte Amme in Lichtenstein; nun seht, diese hält viel auf mich und kommt hie und da zu mir, dann koche ich ein süßes Weinmüschen, was sie für ihr Leben gerne ißt, und zum Dank vertraut sie mir allerlei Neues. Von ihr habe ich auch, was ich Euch sagte. Der Vater weiß gar nichts von diesen nächtlichen Besuchen, denn er geht schon um acht Uhr zu Bette, die Amme schickte das Fräulein jedesmal um acht Uhr in ihre Kammer. Das fiel nun nach ein paar Tagen der guten Rosel auf. Sie stellt sich, als gehe sie zu Bette, und siehe da, was geschieht? Kaum ist alles ruhig im Schloß, so macht das Fräulein, das sonst keinen Span anrührt, eigenhändig ein Feuer auf den Herd; kocht und bratet, was sie kann und weiß, holt Wein aus dem Keller, holt Brot aus dem Schrank und deckt in der Herrenstube den Tisch. Dann schaut sie zum Fenster hinaus in die kalte, schwarze Nacht, und richtig, wenn es drüben eilf Uhr schlägt, rasselt die Zugbrücke nieder, der nächtliche Geselle wird eingelassen und geht mit dem Fräulein in die Herrenstube; sie hat auch schon gehorcht, die Rosel, was wohl drinnen vorgehe, aber die eichenen Thüren sind gar dick; dann lugte sie auch einmal durchs Schlüsselloch, sah aber nichts als den Kopf des Fremden.“
„Nun, und ist er schon alt? Wie sieht er aus?“
„Alt? wo denket Ihr hin! Die sieht mir auch darnach aus, daß sie es mit einem Alten hätte! Jung ist er und schön, wie mir die Rosel sagt; er hat einen dunkeln Bart um Mund und Kinn, schönes gerolltes Haar auf dem Kopf und sah recht freundlich und liebreich aus.“
[210] „Daß ihm der Satan den Bart Haar für Haar auszwicke“, murmelte Georg und strich mit der Hand über das Kinn, das noch ziemlich glatt war. „Frau! besinnt Euch, habt Ihr denn dies alles so recht gehört von der Frau Rosel? Hat sie dies alles so gesagt? Machet Ihr nicht noch mehr dazu?“
„Gott bewahre mich, daß ich über jemand lästere! Da kennt Ihr mich schlecht, Herr Ritter! Das alles hat mir Frau Rosel gesagt, und noch mehr hat sie vermutet und mir ins Ohr geflüstert, was eine ehrliche Frau einem schönen jungen Herrn nicht wiedersagen kann. Und denket Euch, wie recht schlecht das Fräulein ist, sie hat noch einen andern Liebhaber gehabt, und dem ist sie also untreu geworden!“
„Noch einen?“ fragte Georg aufmerksam, denn die Erzählung schien ihm mehr und mehr an Wahrscheinlichkeit zuzunehmen.
„Ja, noch einen; es soll ein gar schöner, lieber Herr sein, sagte mir die Rosel; sie war mit dem Fräulein einige Zeit in Tübingen, und da war ein Herr von – von – ich glaube Sturmfittich heißt er – der war auf der hohen Schule; und da lernten sich die beiden Leutchen kennen, und die Amme schwört, es sei nie ein schmuckeres Paar erfunden worden im ganzen Schwabenland. Sie hat ihn auch ganz schrecklich lieb gehabt, das ist wahr und sei sehr traurig gewesen um ihn, als sie von Tübingen ging; nun ist sie dem armen Jungen untreu geworden, das falsche Herz; und die Amme heult, wenn sie nur an den schönen, treuen Herrn denkt, er soll noch viel, viel schöner gewesen sein als der, den sie jetzt hat.“
„Frau Wirtin, wie oft lasset Ihr mich denn klopfen, bis ich einen vollen Becher bekomme“, rief der fette Herr aus der Trinkstube herauf; denn die Frau Wirtin hatte über ihrer Erzählung alles übrige vergessen.
„Gleich, gleich!“ antwortete sie und flog an den Schenktisch hin, den durstigen Herrn mit seiner besseren Sorte zu versehen; und von da ging es zum Keller, und Boden und Küche nahmen sie in Anspruch, so daß der Gast im Erker gute Weile hatte, einsam über das, was er gehört hatte, nachzusinnen.
Den Kopf auf die Hand gestützt, saß er da und schaute unverrückt in die Tiefe seines silbernen Bechers, so saß er am Nachmittag, [211] so saß er am Abend, die Nacht war schon lange eingebrochen, und er saß noch immer so hinter dem runden Tisch im Erker, tot für die Welt umher, nur hin und wieder verriet ein tiefes Seufzen, daß noch Leben und Empfindung in ihm sei. Die Wirtin wußte nicht, was sie aus ihm machen sollte; sie hatte sich wenigstens zehnmal neben ihn gesetzt; hatte versucht, mit ihm zu sprechen, aber er hatte ihr gedankenlos mit starren Augen ins Gesicht geschaut und nichts geantwortet; es war ihr ganz angst dabei geworden, denn gerade so hatte sie ihr seliger Mann angestarrt, als er das Zeitliche gesegnete und ihr den Goldenen Hirsch hinterließ.
Sie beriet sich mit dem fetten Herrn, und auch der Mann mit dem Lederrücken gab seine Meinung preis. Die Wirtin behauptete, entweder sei er verliebt bis über die Ohren, oder man habe es ihm angethan. Sie belegte ihre Behauptungen mit einer schrecklichen Geschichte von einem jungen Ritter, den sie gesehen, und der auch aus lauter Liebe am ganzen Leib erstarrt sei, bis er am Ende gestorben.
Der Zerlumpte war nicht dieser Meinung; er glaubte, dem jungen Mann sei vielleicht ein Unglück geschehen, wie jetzt oft im Krieg vorkomme, und er sei deswegen in so tiefe Trauer versenkt. Der fette Herr aber blinzelte einigemal nach dem stummen Gast im Erker hinauf und fragte dann mit sehr pfiffiger Miene, von welchem Gewächs und Jahrgang der Ritter trinke?
„Nun, ich hab’ ihm Heppacher gegeben von 1480. Es ist das Beste, was der Goldene Hirsch hat.“
„Da haben wir es!“ rief der kluge Mann, „ich kenn’ den Heppacher Achz’ger, den kann solch ein Junkerlein nicht führen, und der ist ihm zu Kopf gestiegen. Laßt ihn sitzen, laßt ihn immer sitzen, seinen schweren Kopf in der Hand, ich wette, ehe es acht Uhr schlägt, hat er ausgeschlafen und ist wieder so frisch wie der Fisch im Wasser.“
Der Zerlumpte schüttelte den Kopf und sagte nichts dazu, die Wirtin aber belobte den gewohnten Scharfsinn des fetten Herrn und fand seine Vermutung am wahrscheinlichsten.
Es war neun Uhr in der Nacht, die täglichen Zechgäste hatten schon alle die Trinkstube verlassen, und auch die Wirtin wollte [212] sich zum Abendsegen rüsten, als der fremde Herr aus seinem Zustand erwachte. Er sprang auf, machte einige Gänge durchs Zimmer und blieb endlich vor der Hausfrau stehen. Er sah düster und verstört aus, und die wenigen Stunden vom Mittag bis jetzt, hatten seinen sonst so freundlichen offenen Zügen tiefe Spuren des Grames eingedrückt.
Die Wirtin dauerte sein Anblick, sie wollte ihm, eingedenk des klugen, fetten Herrn, noch ein heilsames Süpplein kochen und ihm dann ein treffliches, weiches Bett anweisen; doch er schien für diese Nacht ein rauheres Lager sich erwählt zu haben.
„Wann sagt Ihr“, hub er mit leiser, unsicherer Stimme an, „wann geht der nächtliche Gast nach Lichtenstein, und wann kommt er zurück?“
„Um eilf Uhr, lieber Herr, geht er hinein und um den ersten Hahnenschrei kommt er wieder über die Zugbrücke.“
„Lasset mein Pferd satteln und besorget mir einen Knecht, der mich nach Lichtenstein geleite.“
„Jetzt in der Nacht?“ rief die Wirtin und schlug vor Verwunderung die Hände zusammen. „Jetzt wollet Ihr ausreiten? Ei, geht doch, Ihr treibt Spaß mit mir.“
„Nein, gute Frau, es ist mein wahrer Ernst; aber sputet Euch ein wenig, ich habe Eile.“
„Die habt Ihr den ganzen Tag nicht gehabt“, entgegnete jene, „und jetzt wollt Ihr auf einmal über Hals und Kopf in die Nacht hinaus. Zwar die frische Luft kann nichts schaden bei solchen Kranken; aber weiß Gott, Euer Pferd lasse ich nicht aus dem Stall, Ihr könnt mir herunterfallen oder allerlei Unglück anrichten, und dann hieße es, wo hat denn die Hirschwirtin wieder den Kopf gehabt, daß sie die Leute so laufen läßt.“
Der junge Mann hatte ihre Rede ganz überhört, denn er war wieder in sein düsteres Sinnen zurückgesunken; als sie aufhörte zu sprechen, schrak er auf und wunderte sich, daß sie seinen Befehl noch nicht befolgt habe.
Er ging, als sie noch immer zauderte, um sein Pferd selbst zu besorgen; da gedachte sie, daß sie doch keine Gewalt habe, ihn [213] zurückzuhalten, und daß es geratener sein möchte, ihn ziehen zu lassen. „Lasset dem Herrn seinen Braunen herausführen“, rief sie, „und der Andres soll sich rüsten, heute nacht noch ein Stück Weges zu gehen! – Er hat recht, daß er jemand mitnehmen will“, sprach sie für sich weiter, „der kann ihn doch im Notfall halten; zwar sagt man, sie haben ein paar Sinne mehr, wenn sie etwas im Kopf haben, und es falle keiner so leicht vom Pferd, wenn er auch hin- und herschwankt wie der Schwingel in der großen Glocke, aber besser ist besser. – Was Ihr schuldig seid, Herr Ritter? nun Ihr habt gehabt eine Maß Alten, macht zwölf Kreuzer, und das Essen – nun, es ist nicht der Rede wert, was Ihr gegessen habt; Ihr habt ja mein Huhn kaum angesehen. Nun, wenn Ihr für den Stall und das Essen noch zwei Kreuzer zulegen wollt, so wird Euch eine arme Witfrau schön danken.“
Nachdem die Rechnung in dem niederen Münzfuß der guten, alten Zeiten berichtigt war, entließ die Wirtin zum Goldenen Hirsch ihren Gast; sie war ihm zwar nicht mehr so gewogen wie heute mittag, als er herrlich wie der junge Tag in ihre Trinkstube getreten war, aber dennoch konnte sie sich nicht verhehlen, als er beim Schein der Kienfackeln sich aufs Pferd schwang, daß sie nicht leicht einen schöneren Mann gesehen habe, und sie schärfte daher ihrem Knecht, der ihn begleitete, um so sorgfältiger ein, recht genau auf ihn acht zu haben, weil es bei diesem Herrn „doch nicht ganz richtig im Kopfe sei“.
Vor dem Thor von Pfullingen fragte der Knecht den nächtlichen Reiter, wohin er reiten wolle; und auf seine Antwort „Nach Lichtenstein!“ schlug er einen Weg rechts ein, der zum Gebirge führte. Der junge Mann ritt schweigend durch die Nacht hin; er sah nicht rechts, er sah nicht links, er sah nicht auf nach den Sternen, nicht hinaus in die Weite, seine gesenkten Blicke hafteten am Boden. Es war ihm wie damals, als ihn die Mörder am Wege niedergeschlagen hatten, seine Gedanken standen stille, er hoffte nicht mehr, er hatte zu leben, zu lieben und zu wünschen aufgehört. Und doch war ihm damals wohler gewesen, als ihm auf dem kühlen Teppich des Wiesenthales die Besinnung schwand, er war ja entschlummert mit dem erhebenden Gedanken an sie, [214] und die erstarrenden Lippen hatten noch einmal einen süßen Namen ausgesprochen.
Aber jetzt war die Leuchte verlöscht, die seinen Pfad durchs Leben erhellt hatte. Es war ihm, als habe er nur noch einen kurzen Weg im Dunkeln hinzugehen, und dann in lichteren Höhen als auf dem Lichtenstein seine Ruhe zu finden; und unwillkürlich zuckte seine Rechte hie und da ans Schwert, als wolle er sich versichern, daß ihm dieser Gefährte wenigstens treu geblieben sei, als sei dies der gewichtige Schlüssel, der die Pforte sprengen sollte, die aus dem Dunkel zum Lichte führt.
Der Wald hatte längst die Wanderer aufgenommen; steiler wurden die Pfade, und das Roß strebte mühsam unter der Last des Reiters und seiner Rüstung bergan; doch der Reiter bemerkte es nicht. Die Nachtluft wehte kühler und spielte mit den langen Haaren des Jünglings, er fühlte es nicht; der Mond kam herauf und beleuchtete seinen Pfad, beleuchtete kühne Felsenmassen und die hohen, gewaltigen Eichen, unter welchen er hinzog, er sah es nicht; unbemerkt von ihm rauschte der Strom der Zeit an ihnen vorüber, Stunde um Stunde verging, ohne daß ihm der Weg lang bedünkte.
Es war Mitternacht, als sie auf der höchsten Höhe ankamen. Sie traten heraus aus dem Wald, und getrennt durch eine weite Kluft von der übrigen Erde lag auf einem einzelnen, senkrecht aus der nächtlichen Tiefe aufsteigenden Felsen der Lichtenstein.
Seine weißen Mauern, seine zackigten Felsen schimmerten im Mondlicht, es war, als schlummere das Schlößchen, abgeschieden von der Welt im tiefen Frieden der Einsamkeit.
Der Ritter warf einen düsteren Blick dorthin und sprang ab. Er band das Pferd an einen Baum und setzte sich auf einen bemoosten Stein gegenüber von der Burg. Der Knecht stand erwartend, was sich weiter begeben werde, und fragte mehreremal vergeblich, ob er seines Dienstes jetzt entlassen sei?
„Wie weit ist’s noch bis zum ersten Hahnenschrei?“ fragte endlich der stumme Mann auf dem Steine.
„Zwei Stunden, Herr!“ war die Antwort des Knechtes.
Der Ritter reichte ihm reichlichen Lohn für sein Geleite und [215] winkte ihm, zu gehen. Er zögerte, als scheue er sich, den jungen Mann in diesem unglücklichen Zustand zu verlassen; als aber jener ungeduldig seinen Wink wiederholte, entfernte er sich stille; nur einmal noch sah er sich um, ehe er in den Wald eintrat, der schweigende Gast saß noch immer, die Stirne in die Hand gestützt, im Schatten einer Eiche auf dem bemoosten Stein.
- ↑ „Wallensteins Tod“, 2. Aufzug, 7. Auftritt.
- ↑ Vgl. S. 30 und unsre Anmerkungen am Schluß des Bandes.
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