Leuchtturmtragödien (Das Buch für Alle)

Textdaten
Autor: Walther Kabel
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Titel: Leuchtturmtragödien
Untertitel:
aus: Das Buch für Alle, Illustrierte Familienzeitung, 47. Jahrgang 1912, Heft 22, S. 494–495
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Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1912
Verlag: Union Deutsche Verlagsgesellschaft
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Erscheinungsort: Stuttgart
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Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Commons
Kurzbeschreibung:
Die Erzählung Leuchtturmtragödien erschien mit zwei Illustrationen von Fritz Bergen auch in: Illustrierter Deutscher Flotten-Kalender für 1916, 16. Jahrgang, S. 183–188
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Leuchtturmtragödien.
Von W. Kabel.
(Nachdruck verboten.)

Im Herbst des Jahres 1882 wüteten in der Nordsee wochenlang ungeheure Stürme, die nicht nur einer Unzahl von Schiffen den Untergang brachten, sondern auch den Besatzungen der auf der festländischen Nordseeküste verteilten Leuchttürme insofern gefährlich wurden, als es längere Zeit unmöglich war, jenen von der Außenwelt völlig abgeschnittenen Männern neuen Proviant zuzuführen.

Am schrecklichsten war das Schicksal der drei Wärter des auf der Ostspitze der holländischen Insel Vlieland stehenden Leuchtturmes, der, aus Steinquadern im Jahre 1830 aufgeführt und mit höchst primitiven Einrichtungen versehen, vielleicht zu den ungemütlichsten Posten dieser Art gehörte. Die Besatzung sollte vorschriftsmäßig am 12. Oktober 1882 abgelöst, und gleichzeitig sollte der Nahrungsmittel- und Trinkwasservorrat ergänzt werden; aber schon am 9. setzte jene Sturmperiode ein, die dann nur mit wenigen kurzen Unterbrechungen bis zum 20. November anhielt.

Da die See derart hoch ging, daß das Ablösungsboot den Hafenort Harlingen nicht verlassen konnte, beschloß das Hafenamt, zunächst auf besseres Wetter zu warten. Man hoffte eben, daß der Orkan bald ausgetobt haben würde. Aber drei Wochen vergingen, ohne daß die Wetterlage sich wesentlich änderte.

Jetzt mußte unbedingt der Versuch gemacht werden, bis zu dem Leuchtturm vorzudringen. Man befürchtete, die eingeschlossene Besatzung würde sonst durch Hunger und Durst umkommen. Am 1. November verließ der Lotsenkutter Harlingen und kreuzte gegen Vlieland auf. Zwei Tage später kehrte er zurück mit der traurigen Nachricht, daß alle Anstrengungen, durch die Brandung bis an den Turm heranzugelangen, gescheitert seien. Zwar habe man zwei der Wärter auf der Galerie stehen und winken sehen, eine Verständigung mit ihnen sei jedoch nicht möglich gewesen.

Der Umstand, daß nur zwei von den drei Leuten der Besatzung sich gezeigt hatten, ließ vermuten, daß der dritte zum mindesten bereits schwer krank daniederlag. Es wurde daher schon am folgenden Tage der Kutter abermals ausgeschickt. Er sollte auf jeden Fall zusehen, sich wenigstens mit den Eingeschlossenen durch Signale in Verbindung zu setzen. Auch dieser Versuch mißlang. Der Kutter kenterte in der haushohen Brandung, die Lotsen fanden trotz der Schwimmwesten den Tod in der Brandung und wurden erst nach Wochen als Leichen ans Land gespült.

Was war nun in dem Leuchtturm selbst vorgefallen? Hierüber gibt ein Bericht, der Mitte Dezember 1882 in einer Amsterdamer Zeitung erschien und dessen Einzelheiten dem Tagebuche des Oberwärters des Leuchtturmes Pieter Vjelmeling entnommen waren, genauen Aufschluß. Bis zum 25. Oktober reichte der Reserveproviant, der nur in dringenden Notfällen angegriffen werden sollte, für die drei Männer einigermaßen aus. Nur das Trinkwasser war bereits früher knapp geworden, obwohl die Rationen von Tag zu Tag kleiner bemessen wurden. Darauf begannen für die Unglücklichen jene furchtbaren Leiden, denen sie sämtlich erliegen sollten. Am 28. hatte der jüngste der Wärter namens Graaling, von Durst und Hunger gepeinigt, das Branntweinfäßchen heimlich geöffnet, war dann im Rausche die steile Turmtreppe hinabgefallen und mit gebrochenem Genick unten liegen geblieben. Seine beiden Kameraden hüllten die Leiche in geteerte Leinwand und legten sie in einen Verschlag im unteren Stockwerk. Durch die Anwesenheit des Toten in dem engen Steinbau wurde die Lage der Überlebenden noch entsetzlicher. Ihre durch die Qualen des Hungers ohnedies geschwächten Nerven konnten den Gedanken, mit einer Leiche fast Wand an Wand hausen zu müssen, kaum noch ertragen. In ihrer abergläubischen Furcht vernagelten sie die Treppentür und hielten sich nur noch in dem obersten Stockwerk auf, einem Raum von kaum acht Quadratmeter Bodenfläche. Die meiste Zeit verbrachten sie draußen auf der Galerie, die um den Turm herumlief. Als der Lotsenkutter sich zum ersten Male ihrem steinernen Gefängnis näherte, hatten sie bereits das in Öl aufgeweichte Leder ihrer Stiefel zu verzehren begonnen. Verzweifelt sahen sie das Boot nach dem vergeblichen Kampf gegen die Wogen umkehren. Drei Tage später erschien der Kutter aufs neue. Hoffnung schwellte die Brust der beiden halbverhungerten Männer, die kaum noch die Kraft hatten, sich auf die Galerie hinauszuschleppen. Der Kutter versank. Auch diese Hoffnung war dahin. Am 5. November zeigte sich bei Kelling, dem Manne, der die Lampen in Ordnung zu halten hatte, die ersten Anzeichen des beginnenden Wahnsinns. Bis dahin hatte das Feuer des Turmes nachts noch regelmäßig seinen Lichtkegel in die Finsternis hinausgeworfen. Jetzt erlosch es. Kelling hatte den Mechanismus und die Lampen selbst mit einem Hammer in wilder Wut zertrümmert. Am Tage darauf machte der vom Irrsinn Ergriffene dem Oberwärter den Vorschlag, von der Galerie gemeinsam in die See hinabzuspringen, um so schnelle Erlösung von all den Qualen zu finden. Vjelmeling gelang es, dem Irren dies auszureden. Inzwischen war die Leiche Graalings in Verwesung übergegangen, und der Leichengeruch drang immer stärker in das obere Stockwerk hinauf.

Als die beiden Männer ihre Stiefel verzehrt hatten, begannen sie ihre Ölanzüge in kleine Stücke zu zerschneiden, die sie, in Öl getaucht, hinunterwürgten. Sie vermochten sich nur noch auf allen vieren fortzubewegen. Zum Glück brachte ihnen ein wolkenbruchartiger Regen wenigstens etwas trinkbare Flüssigkeit. Am 7. November kam der Wahnsinn bei Kelling vollends zum Ausbruch. Der Irrsinnige überfiel seinen Kameraden und suchte ihn mit einem großen eisernen Schraubenzieher niederzuschlagen. Vjelmeling, nicht mehr fähig, sich anders zu wehren, ergriff ein geladenes Gewehr und streckte den Angreifer mit einem Schuß nieder. Die Kugel war Kelling mitten durch die Brust gegangen. Mühsam schleppte er den Körper des Toten auf die Galerie hinaus und stürzte ihn in die See.

Bis hierher reichten Vjelmelings kurze, zuletzt mit zitternder Hand geschriebene Aufzeichnungen. Endlich, am 18. November, gelang es einem Lotsendampfer, mit Hilfe eines langen Taues zwei Leute bis an den Leuchtturm heranzubringen. Diese Männer kehrten von Grauen geschüttelt aus dem von Leichengeruch verpesteten Turme an Bord des Dampfers zurück und meldeten, daß sie Vjelmeling tot neben dem Leuchtapparat und Graalings schon stark in Verwesung übergegangene Leiche in der Gerätekammer aufgefunden hätten. Erst vier Tage später, als die See sich völlig beruhigt hatte, konnte man daran denken, die beiden Toten aus dem Turme herauszuholen und nach Harlingen zu schaffen. Dabei entdeckte man auch des Oberwärters Tagebuch, das in kurzen Worten das schreckliche Drama enthüllte, dessen Schauplatz der Leuchtturm von Vlieland geworden war. –

Im Jahre 1872 hatte die mexikanische Regierung durch eine New Yorker Baufirma auf der Spitze der dem Golf von Tehuantepec vorgelagerten Halbinsel einen zwanzig Meter hohen Leuchtturm [496] in Eisenkonstruktion errichten lassen. Die Verankerung des Turmes machte wegen des felsigen Bodens viele Schwierigkeiten, gelang schließlich aber doch. Zu der Kommission, die das fertigte Bauwerk abnehmen sollte, gehörte auch der in die Dienste Mexikos übergetretene deutsche Ingenieur Rennhagen. Dieser erklärte nach sorgfältiger Prüfung der in den Fels eingelassenen eisernen Grundpfeiler, daß die Verankerung nicht, wie in dem Projekt vorgesehen, fünf Meter, sondern höchstens nur zweieinhalb Meter Tiefe besitze. Dieses unsoliden Unterbaues wegen liege die Befürchtung nahe, daß der Turm bei heftigem Seegang dem Anprall der Wogen nicht genügenden Widerstand leisten könne. Man beachtete diese Warnung jedoch nicht und setzte den Leuchtturm am 2. November 1872 in Betrieb. Die Besatzung bestand aus vier Männern, die sich vorläufig für ein Jahr als Wärter verpflichtet hatten. Eine Ablösung nach zwei bis vier Monaten, wie sie sonst bei der Besatzung von Leuchttürmen üblich ist, wurde nicht vorgesehen. Allerdings hatten die vier Männer auch insofern größere Bewegungsfreiheit, als der Turm während der Ebbe völlig auf trockenem Lande lag und den Leuten so die Möglichkeit gegeben war, wenigstens einige Stunden des Tages im Freien zuzubringen.

Fünf Monate gingen hin, ohne daß auf dem Leuchtturm von Tehuantepec etwas Auffallendes vorkam. Das einzige, worüber die Besatzung sich beklagte, war das Schwanken des Turmes, das sich besonders bei anhaltendem Sturm höchst unangenehm bemerkbar machen sollte, wie ein Bericht der Besatzung besagte. Die zuständige Behörde legte dieser Erscheinung, die in gewissem Grade bei allen freistehenden schlanken Bauwerken zu beobachten ist, keinerlei Bedeutung bei.

Dann trat am 14. März 1873 jene Katastrophe ein, die damals in der ganzen zivilisierten Welt ebenso großes Aufsehen wie tiefgehende Entrüstung hervorrief. Am Morgen jenes Tages tobte aus Nordost ein furchtbarer Orkan, der bis zum Mittag anhielt und von einer völligen Windstille abgelöst wurde. Um 1 Uhr mittags passierte der Hamburger Dreimaster „Konsul Hennings“ den Leuchtturm und ging in die offene, noch stark bewegte See hinaus. Eine halbe Stunde später bemerkten die Leuchtturmwärter, daß der Segler wendete und mit aller Kraft der Einfahrt des Golfes wieder zustrebte. Inzwischen war neuer Wind aus gerade entgegengesetzter Richtung, aus Südwest, aufgekommen, der sich bald zum Sturm verstärkte. Der Dreimaster ging in einer geschützten Bucht innerhalb des Golfes etwa eine Meile von dem Leuchtturm entfernt vor Anker, reffte alle Segel und wartete die durch das plötzliche Umspringen des Windes notwendig bedingte Sturmflut ab.

Der Kapitän dieses Schiffes hat später auf Veranlassung der mexikanischen Regierung vor dem Hamburger Seeamt über seine Beobachtungen an diesem Tage folgende eidliche Erklärung abgegeben: „Ich war, um mein Schiff vor der drohenden Sturmflut in Sicherheit zu bringen, bei den ersten Anzeichen des Südweststurmes umgekehrt und in der Bucht von Maria Cruz vor Anker gegangen. Um 3 Uhr nachmittags setzte, wie ich vorausgesehen hatte, die Sturmflut ein. Als mein erster Steuermann, der mit einem Glase die in den Golf hereinstürmenden haushohen Wogen verfolgte, mich darauf aufmerksam machte, daß der Leuchtturm auf der Spitze der Halbinsel in beängstigender Weise hin und her pendele, nahm ich gleichfalls mein Glas zur Hand und schaute nach dem Turme hinüber, der bis zur halben Höhe fast ständig von den Wellen eingehüllt war. Um 4 Uhr 15 Minuten konnte man deutlich bemerken, daß der Leuchtturm nach Nord hin vollständig schräg stand, sich also offenbar von seiner Verankerung gelöst hatte. Eine weitere Viertelstunde später knickte er dann urplötzlich um und verschwand in den hochgehenden Wogen. Als am folgenden Morgen der Sturm vorüber war und infolge abermaligen Umspringens des Windes nach Nord die Flut sich schnell verlief, tauchte der umgestürzte Turm langsam aus den Wassern wieder auf. Ich ließ gegen Mittag das Großboot aussetzen und nach der Unglücksstelle hinüberrudern. Es gelang uns, in den Turm hineinzukommen. In dem Maschinenraum fanden wir die Leichen der vier ertrunkenen Wärter, die aber, um erst das Eintreffen des Regierungsdampfers aus Tuxtla abzuwarten, unberührt blieben. Schon am Nachmittag war es möglich, den Platz, wo der Turm gestanden hatte, genauer zu besichtigen. Es ergab sich, daß die eisernen Grundpfeiler, die mit Blei in den Felsen eingegossen waren, sich sämtlich gelockert hatten und mindestens einen halben Meter durch das Pendeln des Turmes herausgezogen worden waren. Die Pfeiler an der Südseite hatten dann den ungeheuren Druck des Orkanes und der Wellen nicht ausgehalten und waren geborsten, so daß der Turm in der Windrichtung umknicken mußte.“