Leibesübungen und Sportkünste

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Titel: Leibesübungen und Sportkünste
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aus: Die Gartenlaube, Heft 25, S. 427
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1893
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Leibesübungen und Sportkünste.

Hasten und jagen! Das ist die Losung im Zeitalter des Dampfes. Hasten und jagen auf allen Gebieten des Lebens, selbst im Spiel und in der Erholung! Dabei werden die Ziele immer höher gesteckt, und wenn man früher sich damit begnügte, Pferde auf einer Bahn von 1000 bis höchstens 3200 Metern rennen zu lassen, so veranstaltet man heute Dauerritte und legt die rund 600 Kilometer lange Strecke Berlin-Wien in 71 bis 86 Stunden zurück. Der Mensch sucht aber das Pferd im Dauerlauf zu übertreffen. Auch die Radfahrer rasen und lassen die Reiter weit hinter sich zurück. Der Weg von Wien nach Triest ist rund 500 Kilometer lang und führt über ein hohes Gebirge, und doch hat ihn ein Radfahrer vor Jahresfrist in 28 Stunden 45 Sekunden zurückgelegt. Vor wenigen Monaten, Ende Februar, wurde in der Galerie des machines in Paris ein Match von I000 Kilometern veranstaltet und der Sieger durchfuhr diese gewaltige Strecke in 41 Stunden 58 Minnten 523/4 Sekunden, wobei er bei Tag und Nacht fuhr, auf dem Zweirad speiste und sich nur eine Ruhepause von 17 Minuten gönnte. Solche Bravourstücke werden Mode, und jüngst haben wieder auf der Strecke Berlin-Wien Menschen ihre Beine im Dauermarsche versucht. Liebhaber des Außergewöhnlichen konnten als eine neue „Leistung“ in die Jahrbücher des Sports eintragen, daß ein Mensch in 107 Stunden von Berlin nach Wien gegangen ist.

Die Bewohner der Ortschaften, durch welche die fleißigen Fußgänger eilten, haben diese eigenartigen Wanderer theils begeistert, theils mitleidig begrüßt. Das Schauspiel solcher Kraftproben ist in Deutschland noch verhältnißmäßig neu, und viele fragen mit Recht nach dem Zweck und Nutzen solcher Veranstaltungen.

Die Teilnehmer am Distanzmarsche haben gezeigt, wie schnell unter gewissen Umständen ein für den Dauermarsch und Dauerlauf trainierter Mensch die Strecke Berlin-Wien zurücklegen kann. Unser Wissen über die Leistungsfähigkeit des Menschen im Gehen und Laufen wurde dadurch keineswegs erweitert; denn Dauermarsch und Dauerlauf sind recht alte Geschichten. Bei Völkern, die keine Reitthiere kannten, standen diese Künste in besonders hohem Ansehen, da sie allein eine schnelle Beförderung von Nachrichten möglich machten. Darum waren in Peru und Mexiko die Schnellläufer ausgezeichnet organisiert, und ihre Leistungen erregten die größte Bewunderung der Spanier. In der Neuzeit haben Engländer und Amerikaner Gehen und Laufen unter die Sportkünste aufgenommen und eine Reihe tüchtiger Fußgänger und Schnellläufer ausgebildet. Es sei nur daran erinnert, daß von einem gewissen Raby die Strecke von 16090 Metern in 1 Stunde 14 Minuten 45 Sekunden gegangen und von einem anderen Sportliebhaber dieselbe Strecke in 51 Minuten 32 Sekunden gelaufen worden ist, oder daß der berühmte Läufer Fitzgerald in New-York 981 Kilometer in 5 Tagen 20 Stnnden 34 Minnten 10 Sekunden hewältigte. –

Solche Touren haben etwas Ansteckendes und man scheint hier und dort auch in Deutschland an solchen athletischen Spielen Geschmack zu finden, denn man hört aus verschiedenen Städten, daß dort Dauermärsche, wenn auch in kleinerem Stile, veranstaltet wurden. Da entsteht wohl die Frage, ob eine weitere Verbreitung dieser englisch-amerikanischen Kunststücke dem Volke zum Wohle gereicht oder ob die öffentliche Meinung sie, wie dies bei dem letzten Distanzritt der Fall war, als Auswüchse des Sports verurtheilen soll. Es sei uns gestattet, zur Klärung dieser Frage einige Worte zu sagen.

Seit jeher wurden körperliche Uebungen als ein treffliches, ja unentbehrliches Mittel zur Erhaltung der Gesundheit und Stärkung des Leibes empfohlen. In unserer Zeit, wo ein großer Theil der Menschheit in die Enge der Städte gezogen ist, werden sie mit Recht als das einzige Mittel zur Verhütung der zahlreichen Kulturkrankheiten angepriesen. Die beste und zweckmäßigste Leibesübung ist nun zweifelsohne das Turnen; es genügt aber nicht, außerdem kann es nicht immer in frischer Luft geübt werden. Einen Ersatz für das Turnen oder eine Ergänzung dazu bieten bis zu einem gewissen Grade verschiedene athletische Spiele und allerlei leibliche Bethätigungen, die man gemeinhin unter dem Begriff „Sport“ zusammenfaßt. Neben vielen Licht- haben sie aber auch ihre Schattenseiten.

Wird ein Spiel oder eine Leibesübung sportsmäßig betrieben, so tritt dabei der Wettbewerb in den Vordergrund. Naturgemäß suchen die Theilnehmer die beste Leistung hervorzubrlngen und naturgemäß werden die Ziele immer höher gesteckt, denn die fortwährende Uebung nach einer Richtung hin steigert die Leistungfäigkeit. Beim Radfahren kann sie z. B. so groß werden, daß die Muskeln schließlich gar nicht in Frage kommen; bei gut trainierten Fahrkünstlern arbeiten diese mit voller Gleichgültigkeit wie die Kolben einer Dampfmaschine; „die Bewegung der Beine verursachte uns in der letzten Stunde der Fahrt ebenso wenig Mühe wie in der ersten Stunde“, erklärten die Theilnehmer an dem letzten 1000 Kilometer-Match in Paris; worunter sie zu leiden hatten, das war die Ermüdung des Gehirns, obwohl sie sich auch in Schlaflosigkeit geübt hatten.

Es unterliegt keinem Zweifel, daß mit den gewiß schon erstaunichen Records, die wir im Anfange dieses Artikels erwähnt haben, die Grenze der menschlichen Leistungsfähigkeit noch durchaus nicht erreicht ist. Es wird Menschen geben, die bei richtiger Trainierung noch Größeres erzielen. Diese Erfolge werden aber theuer bezahlt: denn sie sind mit ungeheuren Kraftanstrengungen verbunden, welche auf die Dauer den Körper zu Grunde richten müssen. Das Schlimmste dabei ist, daß die Schäden der Athletik nicht immer unmittelbar auf die Glanzleistungen folgen. Durch Ueheranstrengung werden vor allem die Organe des Blutkreislaufes beeinträchtigt, und es ist in medizinischen Kreisen wohl bekannt, wie oft Krankheiten des Herzens und der Blutgefäße auf derartige Ursachen zurückgeführt werden müssen. Dabei sollte nicht vergessen werden, daß das Herz früher als die Muskeln altert; schon mit dem vierzigsten Lehensjahr hat es den Höhepunkt seiner Leistungsfähigkeit überschritten.

Athleten werden nicht alt, das ist ein Erfahrungssatz, aus dem der Schluß zu ziehen ist, daß Athletik kein hygieinisches Mittel ist, welches man dem Volke zu seiner Stärkung empfehlen könnte.

Ein zweiter Uebelstand bei diesem körperlichen Sport liegt darin, daß die Grenze, an welcher die Ueberanstrengung beginnt, selbst für Gesunde nicht die gleiche ist und durch die Trainierung verwischt wird. Weniger Geübten werden sich bereits anscheinend geringfügige Leistungen schädlich erweisen. Man beachtet diese Fälle viel zu wenig: im Vordergrund der allgemeinen Aufmerksamkeit bleiben stets die wenigen Sieger, und auch diese werden bald vergessen; um die späteren Schicksale der Besiegten aber, die unterwegs zusammenbrachen, kümmert sich niemand.

Was die Menschen zu solchen Wettläufen, Wettmärschen, Distanzfahrten etc. verlockt, ist die liebe Eitelkeit.

Der Ruhm, aus einem derartigen Wettbewerb als Sieger hervorgegangen zu sein, erscheint vielen so schön, daß sie es nicht unterlassen können, mit um die Palme zu ringen. Diesen Ruhm verleiht aber nicht allein das Preiskomitee, sondern auch und vielleicht mehr noch die öffentliche Meinung. Die Sache bleibt belanglos, so lange einige wenige einem derartigen Sport huldigen; sie wird bedenklich, wenn sie sich auf weitere Kreise erstreckt und Mode wird. Das wird sie aber nur dann, wenn den Siegern in solchen Veranstaltungen von der Allgemeinheit eine zu große Beachtung geschenkt wird. Etwas Mitleid ist hier eher am Platz.

Lassen wir den Engländern und Amerikanern ihre Weltrecords, ihre besten beglaubigten Leistungen im Gehen, Laufen u. dgl. Sie beweisen weiter nichts, als daß eine Anzahl von Menschen eine ungeheure Summe von Zeit, Kraft und Gesundheit verschwendet hat, um ein paar berühmte Athleten hervorzubringen. Was uns noth thut, das ist ein Gegengewicht gegen die Schäden der Kultur, eine vernünftige Uebung des Leibes, welche den gesamten Körper harmonisch ausbildet und stärkt. Zu solcher Uebung sind Gehen und Laufen und auch das Radfahren trefflich zu verwerthen, aher wir hrauchen nicht darin und in ähnlichen Sachen Engländer und Amerikaner nachzuahmen, sondern nur das wieder aufleben zu lassen, was früher in Deutschland Brauch und Sitte war. Da wurden auch vor den Thoren der Städte Wettrennen zu Fuß abgehalten, an denen sogar Frauen theilnahmen, um einen vom Rathe ausgesetzten Preis zu erringen; aber man steckte sich vernünftige Ziele, die Frauen hatten 250 Schritte, die Männer 400 bis 500 Schritte zu laufen. Die meisten dieser volksthümlichen Leibesübungen sind in den Nöthen des Dreißigjährigen Krieges in Vergessenheit gerathen, und es bedürfte nur ihrer Wledererweckung; wir glauben, daß, wenn man sich Mühe geben wollte, manches deutsche Spiel auf deutschem Boden wieder volksthümlich werden würde. Die Grundsätze, nach denen damals Leibesübungen ahgehalten wurden, waren durchaus zutreffend, und wir können noch heute die Straßburger „Institutiones litteratae“ vom Jahre 1587 unterschreiben, in denen es heißt: „Das Ende der Uehung soll aber sein rothe Farbe, tiefes Athemholen, Schwitzen und Ermüdung, doch nicht Ermattung.*