Land und Leute/Nr. 26. Winterleben in Tirol
Tausende von Touristen durchwandern in der schönen Jahreszeit unser großartiges Bergland und erfreuen sich am Anblicke seiner anmuthigen oder grotesken Landschaften. Welch’ reichen Wechsel bietet es von den Limonengärten und Olivenhainen des Gardasees bis zu den Eisfeldern der Oetzthaler Gletscher! – Allein mag Tirol im Sommer an Naturschönheiten mit jedem Berglande wetteifern, auch im Winter besitzt es seine unleugbaren Reize, ja, wenn Schneemassen Thal und Berg bedecken, die Wasserfälle wie riesige Krystalle an den Felswänden funkeln und über die schneeweiße Herrlichkeit tiefblau der Himmel sich breitet, dann scheint die Bergwelt an Großartigkeit noch gewonnen zu haben. Jeder, der im Winter die Fahrt über den Brenner gemacht hat, wird diesen Winterlandschaften den Preis vor den Sommerlandschaftsbildern der Route geben. – Freut sich der Städter auf den Sommer und die erfrischenden Landpartien, so sieht der Bauer mit Sehnsucht dem Winter entgegen. Dieser ist ja die Zeit idyllischen Zusammenlebens und behaglicher Ruhe. Der Winter ist für den Bauer das, was für den Studenten die Ferien sind. Mit dem Beginne desselben zieht er sich von den Feldern und Almen, wo er den größten Theil des Sommers zugebracht hat, in die warme, getäfelte Stube zurück, schmaucht dort sein Stumpfpfeifchen oder streckt seine Glieder behaglich auf der Ofenbank. Die Burschen basteln dies und jenes für den Gebrauch des Hauses oder schnitzen Figuren für die Weihnachtskrippe, die Dirnen sitzen an den schnurrenden Rädern. In manchen Dörfern sind noch die Heimgärten im Brauche; die Nachbarleute finden sich in der größten Stube zusammen und sprechen über Gemeindesachen oder Zeitereignisse, oder erzählen sich alte Geschichten und Mähren, während die Weiberleute lauschend die Spinnräder drehen. Manchmal wird noch ein Lied gesungen oder ein Bursche giebt einen Ländler auf der Cither zum Besten. Denn nicht überall ist es frommen Eiferern gelungen, Sang und Citherklang zu verbannen.
Eine Unterbrechung dieses ruhigen Winterlebens bildet nur das Abführen des Heues aus den Bergstädeln oder das Fällen und Abtreiben des Holzes. Gewährt so der Winter den Erwachsenen meist süße Rast und behagliche Erholung, so bringt er den Kindern manche Beschwerde. Die Kleinen, die im Sommer im Freien spielend sich Umtrieben oder Vieh hüteten, müssen nun die Schule besuchen. Dies ist für viele keine geringe Aufgabe, denn sie müssen oft mehr als eine Stunde bei Kälte und Sturm, manchmal von Lawinen bedroht wandern, um die ferne Schulstube zu erreichen. Mit von Kälte gerötheten Wangen, die Kleider beschneit und bereift, ziehen sie wohlgemuth durch Wald und Feld ihrem Ziele zu, manch jüngeres aber, das zum ersten Male die Schule besucht und die Strenge des Winters und die glitschrigen Wege nicht gewohnt ist, fühlt Zagen und Bangen und mag wohl manche Thräne fallen lassen. Noch ist es häufig vorkommender Brauch, daß jedes Kind ein Holzscheit zum Heizen des Schulzimmers mit sich trägt. In diesem Falle setzen die Jungen einen besondern Stolz darein, das größte Scheit als Tribut zu bringen, und selbst halbmorsche Zaunpfähle werden mitgeschleppt. Dieser Ehrgeiz hat seinen besondern Grund in dem huldvollen Lächeln des Schulmeisters, mit dem die größten Scheiter begrüßt werden, und in der Erwerbung seines Wohlwollens. Ja, schon manche Privilegien wurden durch riesiges „Holz“ erzielt. So hatte zu meiner Zeit auf diese Weise der dicke Hans das Recht erworben, ein paar Aepfel im Ofen zu braten, und die lange Moidl durfte ein Töpfchen Milch für sich und ihr sechsjähriges Brüderlein im Ofenloch sieden.
Eine solche Schaar munterer, mit Scheiten versehener Kinder,
[229][230] die zur Schule des aus den Franzosenkriegen berühmten Dorfes Spinges eilen, finden wir auf unserem Bilde. Diese Schulgänge unserer Bauernkinder durch die tiefe Waldeinsamkeit unter Schneeballwerfen und andern neckischen Streichen haben viel Poesie; sie zählen zu den beliebtesten Erinnerungen älterer Leute. Ueber Mühsal und Gefahr setzen sich heitern, sorgenlosen Sinnes die Kinder hinweg, erfreuen sich an den Vögeln, die durch die bereiften Sträuche huschen, und mancher Bauer kann lange davon erzählen und freut sich an den Bildern, die dabei aus seiner Kindheit auftauchen. Deshalb ist auch den Kleinen kein Schulweg zu weit, und die entferntesten Kinder kommen gewöhnlich zuerst in der Schule an. Es ist eine erfreuliche Thatsache, daß die Volksschulen in Tirol sehr fleißig besucht werden und daß Tirol in dieser Beziehung andern österreichischen Provinzen voran steht.
Hat der Winter für die Kinder seine Last und Mühe, so gewährt er ihnen auch die innigsten und größten Freuden. Ich meine nicht so sehr die gewöhnlichen Spiele des Schneeballenwerfens, des Schneemannmachens, des Eislaufens und des pfeilschnellen Rodelns (das Fahren auf kleinen Schlittchen auf abschüssigen Wegen und Plätzchen), als andere Bräuche und Feste. Mit welcher Freude und seliger Hoffnung schlägt das Kindesherz dem Sanct Niklaustage (6. December) entgegen! Denn in der vorhergehenden Nacht reitet der heilige Mann auf seinem Esel herum und legt braven Kindern Nüsse, Aepfel und andere liebe Sachen ein. An manchen Orten geht noch der heilige Bischof leibhaftig um, befragt, ermahnt und beschenkt die Kleinen, während der Klaubauf mit klingenden Schellen und rasselnden Ketten schlimme und träge Kinder schreckt. Hier und dort wird noch das „Niklausspiel“ von umziehenden Burschen ausgeführt, in dem, wie es sich für ein echtes Volksspiel ziemt, Ernst und Scherz, fromme Belehrung und kecker Humor auf’s Innigste vereint sind. In Wälschtirol vertritt Santa Lucia (12. December) die Stelle des heiligen Bischofs und bescheert den Kindern. Sogar in der deutschen Gemeinde Luserna, hart an der vicentinischen Grenze, waltet Lucia des kindererfreuenden Amtes, aber dabei hat sich die echtdeutsche Sitte dort erhalten, einen Schuh zur Aufnahme der Spenden hinzustellen, die im nördlichen Deutschland sich findet, in Tirol jedoch sonst ganz unbekannt ist. Der poetische Brauch, am Barbaratage oder Luciafeste Kirschbaumzweige zu schneiden, um sie auf die Christnacht zur Blüthe zu bringen, lebt noch in den meisten Thälern fort, wie dies auch die fränkische alte Sitte ist.
Mit December beginnt der Advent, der wirklich noch in unseren Bergen als Zeit frommer Vorbereitung und freudiger Hoffnung gefeiert wird. Frühmorgens werden „die goldenen Aemter“ (Norate) in der Kirche gehalten und aus fernen Berghöfen eilt das Volk zu diesem Gottesdienste herbei, dessen goldener Name besonders für die Phantasie der Kinder einen eigenen geheimnißvollen Zauber hat. Welch’ malerischer Anblick von der Tiefe aus, wenn durch das Morgendunkel die brennenden Späne, hier Bucheln oder Kendeln genannt, der Kirchgänger irrlichtartig von den einsamen Höhen, bald glänzend auftauchen, bald im Walde wieder verschwinden! Im Advente wird auch am fleißigsten für die Weihnachtskrippe gearbeitet, besonders an den langen Abenden, wo die Väter und Burschen gern „Krippelemanlen“ schnitzen, während die Kinder neugierig und lauschend dem Schaffen ihrer Künstler zusehen. In die Adventzeit fallen ferner die sogenannten „Klöpfelnächte“, als welche meist die drei Donnerstage vor dem Christtage gelten. Bursche oder Kinder ziehen herum, singen Lieder oder sagen gereimte Sprüche auf und erhalten dafür von den Bäuerinnen Kuchen oder Nüsse und anderes Obst.
Ein Haupttag im Winter ist aber das Thomasfest, berühmt durch die Schweinemärkte und eine Fülle von Gebräuchen und Aberglauben. Wie der heilige Zwölfbote zu den Schweinen und den Liebesorakeln in Beziehung gekommen ist, wäre für uns ein Räthsel, wenn wir nicht wüßten, daß er im Volksglauben an die Stelle des Freude und Frieden, Liebe und Ehe spendenden Gottes Fro (Frehr), der auf goldborstigem Eber ritt und dem die Schweine heilig waren, getreten ist, wie Sanct Nicolas an den Platz Nyördr’s, Sanct Oswald und Michael an den Wuotan’s gekommen sind. Alle die Bräuche und Liebesorakel, die durch ganz Deutschland am Thomasabende haften, z. B. Bleigießen, Schuhwerfen, Loosen, finden auch hier statt, und manche Dorfschöne erforscht in dieser Nacht das Liebeloos ihrer Zukunft. An diesem Tage sollen auch die Weihnachtzelten gebacken werden, Brodlaibe mit Nüssen und gedörrten Obstschnitzen, die zweifelsohne Reste eines alten Opferbrodes sind und von Liebenden feierlich angeschnitten werden.
Am Christabende werden allenthalben zur Lust von Alt und Jung die Krippen „aufgemacht“ und mit Tannenzweigen oder in Südtirol auch mit Epheuranken geschmückt. Wohl in keinem Lande sind die Krippen so verbreitet wie in unseren Bergen, wo zum Kunsthandwerke, besonders zum Schnitzen so viele Anlage und Freude sich findet. Eine echte Tiroler Krippe begnügt sich aber nicht mit der Darstellung des biblischen Stoffes, dem gewöhnlich nur das Parterre eingeräumt wird, sondern sie stellt die ganze Gebirgswelt und das Leben derselben im Kleinen vor. Auf den schneeigen Kuppen des „Krippelnberges“ Hausen Gemsen und verwegene Jäger klimmen die steilen Felsen hinan; das reichste Leben entwickelt sich aber auf dem Mittelgebirge, das schmucke Bauernhäuschen und graue Burgen mit Thürmen und Zinnen zieren. Fröhliche Hirten, butterschlegelnde Bäuerinnen, Viehhändler und Eierträgerinnen beleben das freundliche Gelände. Aus dunkeln Schachten fördern Knappen das Erz zu Tage, und vor einer abgelegenen Grotte betet oder liest der langbärtige Einsiedler. Wie in den alten Passionsspielen neben dem heiligsten Ernst auch der derbste Scherz durch die dummen Teufel oder den Schacherjuden vertreten ist, so ist auch bei den Krippen, namentlich in der oberen Etage, der Humor nicht ausgeschlossen und manch lustiger Einfall macht sich auf den Hügelterrassen breit.
Die Christmette wird noch in Städten und auf dem Lande um Mitternacht gehalten und von den höchsten Berghöhen eilen die Bewohner mit ihren Fackeln auf unwegsamen Pfaden zur Kirche, sobald die Glocken durch die nächtliche Stille feierlich klingen, wie dies in einem früheren Jahrgange die Gartenlaube ihren Lesern im Bilde vorgeführt hat. Alles – Jung und Alt - will die heilige Nacht mitfeiern. Eine tiefe Poesie webt nach dem Volksglauben in dieser geheimnißvollen gnadenreichen Nacht und durchdringt die ganze Natur. Die Schätze blühen, den Quellen entströmt Wein, neues Leben beginnt in den Pflanzen, die Zukunft enthüllt sich dem Forschenden. In der heiligen Nacht fütterte man noch vor kurzer Zeit in manchen Thälern die Elemente, damit sie den Menschen hold seien, und noch geht man in einigen Gegenden in den Obstgarten, um die Bäume zu rütteln oder zu umfassen, damit sie viel Aepfel und Birnen tragen. Wie aber in der heiligsten der Nächte das Wunder, so ist auch der Zauber thätig, denn der Wildschütze soll sich in der Nacht die Freikugeln gießen und der Zauberlehrling die schwarze Kunst lernen. Die Kinder ziehen von nun an bis zum Dreikönigstage gern als „Sternsinger“ herum und heischen dafür kleine Geschenke: Obst und Zelten. Die dabei gesungenen Lieder reichen oft weit zurück und sind verschiedenen deutschen Gauen gemeinsam. Als eines der bekanntesten gilt:
Am Dreikönigsabende, an manchen Orten auch am Christ- und Neujahrsabend, herrscht noch die alle Sitte, daß der Familienvater oder ein Priester die Räumlichkeiten des Hauses, oft auch die Felder und Aecker beräuchert und mit Weihwasser besprengt.
Der frommen Handlung folgt ein bescheidener Trunk, denn nach altgermanischem Brauche darf bei solcher Gelegenheit ein kleines Gelage nicht fehlen. An die Rauchnächte knüpfen sich viele alte Glauben und Bräuche, die noch auf die heidnische Julzeit zurückweisen, und heutzutage noch glaubt in einsamen Thälern manch’ altes Mütterchen, daß in dieser heiligen Zeit der Zwölften die Perchtl mit ihren Kindern umziehe. So treu und fest hat sich das Volk manche Ueberlieferungen bewahrt, daß das Gedächtniß der leuchtenden Göttin Perchta noch jetzt nicht gänzlich verschollen ist.
Die Wetterfeste sind mit dem Dreikönigfeste abgeschlossen. Der Bauer fängt nun an auf den nahenden Frühling zu sorgen und Dies und Jenes für die künftige Feldarbeit vorzubereiten. Gilt ja vom 25. Januar das alte Sprüchwort:
„Paulbekehrt
Kehrt sich das Würzet um in der Erd.“
und am Lichtmeßtage (2. Februar) kriecht nach dem Volksglauben der Fuchs aus dem Loche. An diesem Feste herrscht ein reges, bewegtes Leben. Denn es ist der Hauptschlenkeltag der Dienstboten, die aus dem frühern Dienste aus- und in einen neuen eintreten. In manchen Dörfern setzt es eine kleine Volkswanderung ab, wenn zufällig viele „Ehehalten“ – man gebraucht in Tirol noch dies altehrwürdige Wort für Dienstboten – gewechselt werden. [231] Mit diesem Feste beginnt meist der Fasching in weiteren Kreisen. Hei wie Lustig ging es einst, wenn man allen Leuten Glauben schenkt, in der Fastnacht in unsern Bergen zu! Tanz und Sang, Huttlerlaufen und Gaistädinge waren allüberall! – Allein von der neueren Zeit, wo von den Kanzeln aus die Zithern als Teufelsinstrumente verdammt wurden und mürrische Landrichter in jeder Volksbelustigung ein halbes Staatsverbrechen sahen, gelten meist des Dichters Worte:
„Zum Teufel ist der Spiritus,
Das Phlegma nur geblieben.“
Doch läßt sich die Jugend nicht überall die Faschingslust rauben und das Huttler- oder Schemenlaufen (Maskengehen), das Blockziehen und Aehnliches hat sich trotz aller Polizeiverbote und polternder Capucinaden in manchen Dörfern erhalten. Eine beliebte Unterhaltung besteht darin, daß vermummte Bursche alte Madlen darstellen, die auf einen Wagen gesetzt werden, damit sie auf das Sterzinger Moos, den Büßeort verstorbener Jungfern, geführt werden. An derben Reimsprüchen und persönlichen Anspielungen darf es bei einem solchen Mummenschanze nicht fehlen, und man muß oft bei solcher Gelegenheit über den prompten Mutterwitz und die Reimfertigkeit unserer Jugend staunen. Mit dem Fasching gilt der Winter als abgeschlossen, denn am Fastnachtsdienstage leuchten an der untern Etsch schon die Faschingsfeuer, am ersten Fastensonntage in der Meraner Gegend die „Holepfannen“ von den Hügeln. So werden die Frühlingsfeuer genannt, die besonders im Burggrafenamte zahlreich angezündet werden, um den Beginn der schönen Jahreszeit zu feiern, obwohl dem Volke längst deren Bedeutung abhanden gekommen ist. In Ulten nennt man aber noch das Anzünden der Reis- und Strohbündel auf den Saatfeldern das „Kornaufwecken“, welcher Name noch die Beziehung dieser Feuer auf den Frühling und die Saat ausdrückt. Im Oberinnthal wird um diese Zeit das „Scheibenschlagen“ begangen, wobei brennende Räder über Aecker geschleudert oder über Abhänge gerollt werden. Da seit uralten Zeiten das Rad als Sinnbild der Sonne gilt, läßt sich schließen, daß diesem Brauche ein Fest zu Ehren der erstarkenden Sonne zu Grunde liege. Im Vinschgau, dem Thale der alten Unnosten, ziehen am 22. Februar, dem Feste Petri Stuhlfeier, die Buben, mit großen Schellen und Kuhglocken klingend, durch die Dörfer und rufen: „Peter Langas, Peter Langas!“ Sie kündigen auf diese Weise die Ankunft des ersehnten Frühlings an, der in der Volkssprache „Langas“ (Lenz) heißt, und die schöne Sitte nennt man „Langaswecken“. Weil in Südtirol mit diesem Tage wieder die Feldarbeiten beginnen und die Dienstboten von nun an mehr Wein von ihrem Bauer beziehen, wird dieser Tag „Peter Pütterle“ genannt, da Pütter das kleine hölzerne Weingefäß bedenket, welches man auf die Felder hinaus mit sich trägt.
Der Winter mit seiner Ruhe, seinem gemüthlichen Stillleben, mit seinen Freuden und Festen ist jetzt für Südtirol vorüber und das Wirken und Schaffen unter Gottes freiem Himmel nimmt wieder seinen Anfang. In Nordtirol aber und in höher gelegenen Thälern, wo der Winter länger sein krystallenes Scepter schwingt, dauert, nicht eben zum Schmerze der Landleute, die Siesta in der warmen Stube meist bis Ende März, ja das „Grasausläufen“, welches dem „Langaswecken“ entspricht, findet im Unterhaltene erst am Georgitage (24. April) statt.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: 25