Kreuzeswissenschaft/Kreuzeslehre
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Will man die Lehre des hl. Johannes vom Kreuz von ihren seelischen Wurzeln her zu verstehen suchen, so muß man sich über die Eigenart, ja Einzigartigkeit seiner Schriften, ihre Entstehung und ihre Schicksale Rechenschaft geben.
Da die hl. Kirche den Heiligen zum Kirchenlehrer erhoben hat, ist heute jeder an ihn gewiesen, der sich im Rahmen der katholischen Glaubenslehre über die Fragen der Mystik Aufschluß verschaffen will. Und weit über die katholische Kirche hinaus ist er als einer der führenden Geister, der zuverlässigsten Wegweiser anerkannt, an denen niemand vorbeigehen kann, der ernstlich in das geheimnisvolle Reich des inneren Lebens vordringen möchte. Und doch hat Johannes vom Kreuz keine systematische Darstellung der Mystik gegeben. Seine Absicht beim Schreiben war keine theoretische, obwohl er genügend Theoretiker war, um sich manchmal durch die rein sachlichen Zusammenhänge weiter fortreißen zu lassen, als es seiner ursprünglichen Zielstellung entsprach. Was er eigentlich wollte, war: „bei der Hand führen“ (wie es der Areopagit von sich sagt)[1], durch die Schriften seine Arbeit als Seelenführer ergänzen. Es ist uns keineswegs alles erhalten, was er geschrieben hat. Alles, was vor seiner Verhaftung entstanden war, ist durch ihn selbst oder durch andere vernichtet worden. Auch die zweite Verfolgung (innerhalb der Reform) hat uns noch vieles geraubt, z.B. wertvolle Aufzeichnungen, die von den Karmelitinnen nach seinen mündlichen Belehrungen gemacht wurden. Von seinen Briefen ist gleichfalls nur ein kleiner Bruchteil erhalten. Und von den vier großen Abhandlungen, die uns geblieben sind – Aufstieg zum Berge Karmel, Dunkle Nacht, Geistlicher Gesang, Lebendige Liebesflamme –, sind Aufstieg und Nacht in unvollendeter Form auf [30] uns gekommen[2]. Trotz dieser Lücken und mancher durch sie bedingten unlösbaren Fragen sind in dem, was uns als unschätzbares Vermächtnis unseres heiligen Vaters erhalten ist, die leitenden Gedanken so klar, daß auf unsere Frage wohl eine Antwort zu erhoffen ist.
Für die erhaltenen Schriften ist der eigentliche Ursprung in der Zeit der Gefangenschaft in Toledo zu suchen. Innerste Erfahrung ist der Quell, dem sie entspringen. Seligkeit und Qual eines von Gott heimgesuchten und verwundeten Herzens finden ihren ersten Ausdruck im lyrischen Bekenntnis: die ersten 30 Strophen des Geistlichen Gesanges sind im Kerker entstanden, vielleicht auch das Gedicht von der Dunklen Nacht, das sowohl der danach benannten Schrift als dem Aufstieg zu Grunde liegt[3]. Johannes brachte sie aus dem Kerker mit (ob nur im Gedächtnis bewahrt oder in einem Heft aufgezeichnet – darüber liegen verschiedene Zeugnisse vor) und machte vertraute Seelen damit bekannt. Der Bitte geistlicher Söhne und Töchter haben wir die erklärenden Abhandlungen zu danken. In ihnen wird die Erfahrung aus der Sprache des Dichters in die des philosophisch und theologisch geschulten Denkers übersetzt, aber doch mit sehr sparsamem Gebrauch scholastischer Fachausdrücke und reichlicher Verwendung lebensnaher Bilder. Es wird ferner die Erfahrungsgrundlage verbreitert: das Selbsterlebte wird ergänzt durch das, was dem Meister in der Seelenführung aus tiefem Einblick in das Innenleben anderer Menschen bekannt ist. Das schützt ihn vor Einseitigkeit und falschen Verallgemeinerungen. Er rechnet immer mit der großen Mannigfaltigkeit möglicher Wege und der zarten und leicht beweglichen Anpassung der Gnadenführung an die besonderen Bedingungen der einzelnen Seele. Eine immer fließende Quelle der Belehrung über die Gesetze des inneren Lebens ist ihm schließlich die Heilige Schrift. Er findet in ihr die sichere Bestätigung dessen, was ihm aus innerster Erfahrung bekannt ist. Andererseits öffnet ihm die eigene Erfahrung die Augen für die mystische Bedeutung der heiligen Bücher. Die kühnen Bildersprache der Psalmen, die Parabeln des Herrn, selbst die geschichtlichen Erzählungen des Alten Testaments – alles wird ihm durchsichtig und gibt ihm immer reichlicheren und tieferen Einblick in das Eine, worauf es ihm ankommt: den Weg der Seele zu Gott und Gottes Wirken in der Seele.
[31] Gott hat die Menschenseelen für sich erschaffen. Er will sie mit sich selbst vereinigen und ihnen die unermeßliche Fülle und unfaßbare Seligkeit Seines eigenen, göttlichen Lebens schenken: schon in diesem Leben. Das ist das Ziel, worauf Er sie hinlenkt und dem sie selbst mit all ihren Kräften zustreben sollen. Aber der Weg dahin ist eng und steil und mühsam. Die meisten bleiben auf der Strecke. Wenige gelangen über die ersten Anfänge hinaus, eine verschwindend kleine Anzahl ans Ziel. Daran sind die Gefahren des Weges schuld – Gefahren von seiten der Welt, des bösen Feindes und der eigenen Natur, aber auch Unkenntnis und Mangel an geeigneter Führung. Die Seelen verstehen nicht, was in ihnen vorgeht, und selten findet sich jemand, der ihnen dafür die Augen öffnen könnte. Ihnen bietet sich Johannes als kundiger Führer an. Er hat Erbarmen mit den Irrenden, und es ist ihm leid um Gottes Werk, das an solchen Hindernissen scheitert. Er will und kann helfen, denn er kennt in dem geheimnisvollen Reich des inneren Lebens alle Wege und Stege. Es ist ihm gar nicht möglich, alles zu sagen, was er darüber weiß; er muß sich beständig Zügel anlegen, um nicht über das hinauszugehen, was die Aufgabe erfordert.
Der Heilige hat seine Werke nicht für jedermann geschrieben. Er will gewiß niemanden ausschließen. Aber er weiß, daß er nur bei einem bestimmten Kreis von Menschen auf Verständnis rechnen kann: bei denen, die schon eine gewisse Erfahrung im inneren Leben haben. In erster Linie denkt er an die Karmeliten und Karmelitinnen, deren eigentlichster Beruf das innerliche Gebet ist. Aber er weiß, daß Gottes Gnade nicht an Ordenskleid und Klostermauern gebunden ist. Einer seiner geistlichen Töchter „in der Welt“ verdanken wir ja die Schrift über die Lebendige Liebesflamme. Für beschauliche Seelen also schreibt er, und an einem ganz bestimmten Punkt ihres Weges will er sie an die Hand nehmen: an einem Scheideweg, wo die meisten ratlos stehen bleiben und nicht weiter wissen. Auf dem Weg, den sie bisher gegangen sind, treten ihnen unübersteigbare Hindernisse entgegen. Der neue Weg aber, der sich vor ihnen auftut, führt durch undurchdringliches Dunkel – wer hat den Mut, sich da hinein zu wagen? Der Scheideweg, um den es sich handelt, ist der von Betrachtung und Beschauung (Meditation und Kontemplation). Man hat bisher, vielleicht nach ignatianischer Methode, in den Betrachtungsstunden die seelischen Kräfte geübt – Sinne, Einbildungskraft, Gedächtnis, Verstand, Willen. Aber nun versagen sie den Dienst. Alle Bemühungen sind umsonst. Die geistlichen Übungen, sonst eine Quelle innerer Freude, werden zur Qual, unerträglich öde und fruchtlos. Es besteht aber auch keine Neigung, [32] sich mit weltlichen Dingen abzugeben. Am liebsten möchte die Seele ganz still verweilen, ohne sich zu rühren, alle Kräfte ruhen lassen. Aber das scheint ihr als Müßiggang und Zeitvergeudung. So etwa sieht es in der Seele aus, wenn Gott sie in die Dunkle Nacht einführen will. Nach gewöhnlichem christlichen Sprachgebrauch wird man einen solchen Zustand „ein Kreuz“ nennen. Es war auch früher schon die Rede davon, daß Kreuz und Nacht etwas miteinander zu tun haben. Aber mit der unbestimmten Feststellung einer gewissen Sinnesverwandtschaft ist uns nicht geholfen. Es wird an manchen Stellen in den Schriften des hl. Vaters Johannes mit solcher Entschiedenheit von der Bedeutung des Kreuzes gesprochen, daß dadurch unsere Auffassung seines Lebens und seiner Lehre als einer Kreuzeswissenschaft wohl gerechtfertigt wäre. Aber es sind verhältnismäßig wenige Stellen. Das beherrschende Symbol in seinen Gedichten wie in seinen Abhandlungen ist nicht das Kreuz, sondern die Nacht: in Aufstieg und Nacht steht es durchaus im Mittelpunkt, im Gesang und in der Liebesflamme (die vorwiegend den Zustand jenseits der Nacht behandeln) klingt es noch nach[4]. Darum ist es nötig, sich über das Verhältnis von Kreuz und Nacht genau Rechenschaft zu geben, wenn man sich über die Bedeutung des Kreuzes bei Johannes Aufschluß verschaffen will.
- § 1. Kreuz und Nacht (Nacht der Sinne) 32
- § 2. Geist und Glauben. Tod und Auferstehung (Nacht des Geistes) 49
- § 3. Die Herrlichkeit der Auferstehung 166
- ↑ De divinis nominibus, Kap. II § 2, Migne, P. Gr. III 640.
- ↑ Auf die Streitfrage ob sie niemals vollendet oder nachträglich verstümmelt wurden, gehen wir hier nicht ein.
- ↑ Auch noch andere Gedichte stammen aus der Gefangenschaft, aber es kommt uns vorläufig nur auf die an, die Ausgangspunkt für die Abhandlungen waren.
- ↑ Nicht minder bedeutsam ist das Brautsymbol, aber es kommt an dieser Stelle nicht in Frage. Bei der Behandlung des Geistlichen Gesanges wird es ausführlich zur Sprache kommen.
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