Textdaten
<<< >>>
Autor: Dr. H. Schaefer
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Kopfschmerzen
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 1, S. 16, 18–19
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1895
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[16]

Kopfschmerzen.

Von Dr. H. Schaefer.

Der alte Streit über die Zunahme der Krankheiten mit der fortschreitenden Entwicklung der Civilisation ist auch heute noch nicht als beendet anzusehen. Eins ist ja sicher, daß das scheinbare Wachstum von Krankheitsfällen zum Teil in der gewissenhafteren Registrierung derselben seine Erklärung findet. Anderseits aber kann es dem aufmerksamen Beobachter nicht entgehen, daß allerdings gewisse krankhafte Zustände, von denen früher nur vereinzelte Fälle in die Oeffentlichkeit drangen, sich heute in auffallender Weise zu mehren beginnen, eine Erscheinung, die man bei aller Sympathie für die Fortschritte der Neuzeit doch nicht umhin kann, gerade als ein Produkt dieser hohen Kulturstufe anzusehen. Ich spreche nicht von den verderblichen Einflüssen der zunehmenden Genußsucht, nicht von den aufreibenden Folgen der modernen Jagd nach dem Glück – Erscheinungen, wie sie im Alkoholismus, Morphinismus bezw. in dem Allerweltsleiden „Nervosität“ zu Tage treten. Es ist gewissermaßen nur ein Symptom, das mich hier näher beschäftigen soll, aber ein Symptom, dessen Machtsphäre sich von Tag zu Tag weiter ausdehnt und das eine wahrhafte Geißel der Menschheit zu werden droht – der Kopfschmerz.

Wer leidet heutzutage nicht an Kopfschmerzen? Der mit den verwickeltsten Problemen der Wissenschaft sich abmühende Gelehrte, der nach Reichtum und Ansehen lüsterne Finanzmann, der nach Ruhm und Ehre strebende Künstler, die ihre Tage mit Nichtigkeiten vertrödelnde Modedame nicht minder als der um das tägliche Brot sich abmühende Mann aus dem Volke und die geistig überbürdete und körperlich vernachlässigte Jugend – sie alle sind mehr oder weniger von jenem qualvollen, die Daseinsfreude erheblich verkümmernden Uebel heimgesucht. Dasselbe ist indessen, wie schon angedeutet, in keinem Falle eine Krankheit für sich, obgleich die daran leidenden Personen nur zu leicht geneigt sind, eine solche Vollgültigkeit für ihren Plagegeist in Anspruch zu nehmen, sondern bildet eben nur das hervorstechendste Symptom einer ganzen Anzahl sehr verschiedenartig gestalteter Grundleiden.

Diese Thatsache scheint aber, und nicht nur in Laienkreisen allein, mehr und mehr in Vergessenheit zu geraten. Die moderne schnelllebige Welt hat nicht mehr Zeit und noch weniger Lust, den Gesamtstoffwechsel einer gründlichen Regeneration zu unterwerfen, sondern will nur von dem augenblicklichen Störenfried befreit sein. Und so wird nunmehr gegen denselben mit einer Anzahl giftiger Medikamente zu Felde gezogen – sehr zum Nachteil des Körpers, der zwar den verhältnismäßig harmlosen Peiniger zeitweise los wird, dafür aber eine Menge wirklicher Feinde sich zuzieht, die den Organismus früher oder später gänzlich untergraben.

Der Kopfschmerz ist nicht immer nur ein Zeichen einer einfachen allgemeinen oder örtlichen körperlichen Störung, sondern er stellt zuweilen ein Symptom eines ernsten organischen Leidens dar. So findet er sich bei Gehirnerkrankungen aller Art, bei Geschwülsten innerhalb des Schädels und ähnlichen lebensgefährlichen Zuständen. Doch bilden diese eine Gruppe für sich, die aus unserer Betrachtung ausscheidet. Was man im gewöhnlichen Leben mit Kopfweh bezeichnet, ist dagegen in den allermeisten Fällen bedingt durch die dauernde Einwirkung ungünstiger hygieinischer Verhältnisse auf den menschlichen Körper, zum kleineren Teil auch durch gewisse verhältnismäßig gefahrlose örtliche Erkrankungen einzelner Organe und Organteile. Es giebt in der gesamten medizinischen Wissenschaft kein Symptom, das in gleichem Grade das Merkmal einer so großen Anzahl der verschiedenartigsten Krankheiten ist wie eben der Kopfschmerz. Diese verwirrende Vielgestaltigkeit, dieser kaleidoskopische Wechsel in der Gruppierung der zu Tage tretenden Begleiterscheinungen dieses Symptoms machen zuweilen die Erkennung der Grundursache sehr schwierig – aber nicht unmöglich. Um nun auch dem Laien einen orientierenden Ueberblick über dies buntschillernde Bild zu verschaffen und ihm so einen Einblick in die etwaigen fehlerhaften persönlichen Beziehungen zu den Grundregeln einer hygieinischen Lebensweise zu ermöglichen, dürfte es am zweckmäßigsten sein, das fragliche Gebiet nach den erregenden Ursachen einzuteilen und der Betrachtung zu unterziehen.

Eine der häufigsten Ursachen der Kopfschmerzen ist die Blutarmut, beziehungsweise die Bleichsucht. Da diese Zustände sich vorzugsweise bei Frauen und Mädchen entwickeln, so leiden auch diese in erster Reihe an dieser Art Kopfweh. Aber auch das männliche Geschlecht liefert ein ansehnliches Kontingent zu obigen krankhaften Blutveränderungen, und so mancher Kopfschmerz bei schwächlichen Jünglingen und früh alternden Männern, der auf alle möglichen Schädlichkeiten bezogen wird, ist weiter nichts als der Ausdruck einer solchen anormalen Blutbeschaffenheit. Häufiger indessen ist diese Art Kopfschmerz bei allen jenen blassen weiblichen Personen, die auch sonst noch von einem Heer von Unpäßlichkeiten mannigfacher Art heimgesucht sind und deren fast ständigen Begleiter derselbe bildet. Er charakterisiert sich durch ein lästiges Klopfen und Hämmern innerhalb des Schädels, oft verbunden mit Ohrensausen und Schwindelanfällen. Die letzte Ursache dafür kann nur die Blutleere des Gehirns sein, denn die Schmerzen verschwinden bald oder werden wenigstens erheblich gelindert, wenn der Kopf niedrig gelagert wird, so daß mehr Blut nach demselben hinströmen kann (was zugleich als Unterscheidungsmerkmal gegenüber andersartigen Kopfschmerzen dienen kann).

Mit diesem Leiden ursächlich verwandt, auch in Bezug auf seine Vorliebe für das weibliche Geschlecht, ist die vielgenannte und vielgefürchtete Migräne, die meist nur eine Kopfhälfte einnimmt, wodurch sie sich von allen ähnlichen Zuständen unterscheidet. Das Leiden gilt, etwa wie die Gicht, für eine „vornehme“ Krankheit, kommt aber thatsächlich bei Leuten jeden Standes vor. Es tritt anfallsweise auf, oft ohne jede Gelegenheitsursache, ist aber auch oft die Folge von bestimmten, dem Befallenen meist wohlbekannten Vorkommnissen. So stellt sich das Uebel bei vielen nach einem Diätfehler, einer körperlichen Anstrengung, einer heftigen Gemütsbewegung (besonders Aerger), nach lebhaften Sinneseindrücken (grelles Licht, schrilles Geräusch) und dergleichen ein. Bei anderen hat der Besuch des Theaters, eines Konzertes, einer Abendgesellschaft dieselbe Folge. Der Anfall selbst kündet sich oft durch gewisse Vorboten an. Unlust- und Mattigkeitsgefühl, Verstimmung, Gereiztheit, Appetitmangel, oder er setzt gleich, meist morgens beim Erwachen, mit voller Heftigkeit ein. Dieser Kopfschmerz kann gleichmäßig andauernd, oft bis zur Unerträglichkeit sich steigern, er ist dem Orte nach am häufigsten linksseitig, nimmt zuweilen aber auch beide Kopfhälften zugleich ein. Auf der Höhe des Anfalls, nach Stunden bis Tagen, tritt Erbrechen ein, wonach der Schmerz allmählich verschwindet und einem ruhigen Schlaf Platz macht – um nach längerer oder kürzerer Zeit von neuem sich einzustellen. Die Migräne ist eines der hartnäckigsten [18] Leiden, das nicht selten sogar durch das ganze Leben fortbesteht. Die gebräuchlichsten Mittel haben sich ihm gegenüber alle als für die Dauer wirkungslos erwiesen und nur von einer Umgestaltung der Lebensweise nach hygieinischen Principien ist noch Erfolg zu erhoffen.

Im Gegensatz zu den bisher betrachteten beiden Arten von Kopfschmerzen, die mehr auf allgemeinen Ursachen beruhen, schließen sich andere an bestimmte krankhafte Störungen in einzelnen Organen an. Bekannt ist der Kopfschmerz bei verdorbenem Magen oder überhaupt bei Magen- und Darmleiden. Wie man neuerdings annehmen zu müssen glaubt, ist die Ursache in diesen Fällen die Aufnahme gewisser giftiger Zersetzungsprodukte, die sich bei gestörter Verdauung bilden, sogenannter Ptomaïne, in das Blut, wodurch dieses eine krankhafte Veränderung erfährt, die sich neben anderen Erscheinungen auch im Kopfschmerz äußert. Aehnlich liegen die ursächlichen Beziehungen bei einer Reihe anderer Vergiftungen. Wir verweisen auf den Kopfschmerz nach reichlichem Alkohol- und Tabaksgenuß („Katzenjammer“) und nach Einatmung von Chloroform, Kohlendunst (Bügler- und Plätterinnenkopfschmerz) und von Leuchtgas. Die Anwesenheit der beiden letzten in den Wohnräumen ist in vielen Fällen die Ursache anhaltender Kopfschmerzen der Bewohner, ohne daß diese die Quelle ihres Leidens ahnen. Nach Gebrauch von Opium, Morphium u. a. stellen sich gleichfalls leicht Schmerzen im Kopfe ein. Auch der Stubenhockerkopfschmerz, an dem alle Menschen leiden, die sich dauernd in geschlossenen Räumen aufhalten, gehört unter diese Rubrik. Es ist nämlich nicht, wie man bisher angenommen hat, die schlechte Luft an sich, die das Uebel erzeugt und unterhält, sondern das Einatmen einer giftigen Substanz (Anthropotoxin, „Menschengift“), die sich überall dort bildet, wo Menschen während längerer Zeit in geschlossenen Räumen verweilen.

Eine mehr äußerliche Ursache bilden örtliche Erkältungen des Kopfes. Dieser sogenannte rheumatische Kopfschmerz, der seinen Sitz in der Kopfhaut hat und sich bei Verschiebungen derselben verschlimmert, was ein Kennzeichen für ihn bildet, kommt indessen seltener vor, als man gewöhnlich annimmt. Wie man überhaupt nur zu geneigt ist, der „Erkältung“ alle möglichen Gesundheitsstörungen in die Schuhe zu schieben, an denen dieselbe ganz unschuldig ist.

In neuester Zeit ist man auf gewisse Erkrankungen der Nasenhöhle, des Rachens, der Ohren und Augen aufmerksam geworden, die mit anhaltendem Kopfschmerz einhergehen, der dann aber mit der Besserung des ursprünglichen Leidens verschwindet. Bekannt ist ja, daß schon ein gewöhnlicher, etwas heftiger Schnupfen von starkem Stirnkopfschmerz begleitet sein kann. Daher darf es nicht wunder nehmen, daß auch andere Erkrankungen der Nase, Polypen und chronische Katarrhe aller Art, derartige schmerzhafte Empfindungen veranlassen. Die Ursache derselben ist eine Reizung der in der Nasenhöhle sich ausbreitenden feinen und äußerst empfindlichen Nervenendigungen, was schon in gelinden Fällen als unangenehmer Kitzel, bei stärkeren Angriffen aber als direkter Schmerz sich dem Bewußtsein mitteilt. Diese Reizung wird nur veranlaßt durch Schwellung der Nasenschleimhaut, wobei die Nervenfädchen gedrückt und gezerrt werden. Dasselbe verursachen auch Polypen. Manche Personen, die seit Jahren an „Stockschnupfen“ leiden, bekommen bei jedem Umschlag der Witterung ihren ihnen nur zu bekannten Kopfschmerz, indem eben bei größerer Feuchtigkeit der Luft die Nasenschleimhaut mehr Wasser aus der Atmosphäre aufnimmt und damit stärker anschwillt. Und wie der Gichtiker, der Rheumatiker oder der mit Hühneraugen Behaftete aus den sich ankündenden, ziehenden Schmerzen einen Temperaturwechsel prophezeit, so bildet für manche Nasenleidende der sich bemerkbar machende Kopfschmerz ein Barometer von vielleicht untrüglicherer Zuverlässigkeit als ihr am Fenster hängendes Instrument. Nun steht bekanntlich das Ohr (Mittelohr) durch eine Röhre (die Eustachische Ohrtrompete) mit der Rachenhöhle und diese wieder mit der Nasenhöhle in Verbindung, daher kann es nicht auffallend sein, daß auch Erkrankungen dieser Organe schmerzhafte Empfindungen im Kopfe verursachen. Ja häufig bilden letztere überhaupt die einzigen subjektiven Zeichen derartiger Erkrankungen, weshalb man sich jetzt veranlaßt sieht, in allen Fällen von anhaltendem Kopfschmerz zunächst einmal die erwähnten Organe einer näheren Besichtigung zu unterwerfen. Ist doch auch gerade hier die Behandlung die dankbarste, indem meist schon bei geringer Besserung des Grundleidens die Kopfschmerzen schwinden. Von Erkrankungen der Augen sind es vorzugsweise die Sehstörungen infolge fehlerhafter Brechung der Lichtstrahlen – Kurz- und Weitsichtigkeit – die namentlich bei Kindern häufig Kopfschmerzen verursachen. Eine ganze Anzahl von Fällen ist bekannt, wo Personen von ihrem jahrelangen derartigen Leiden dadurch befreit wurden, daß man ihnen eine passende Brille verordnete. Allerdings muß das Glas auch wirklich passend sein, andernfalls werden nicht nur die Augen geschädigt, sondern wird gerade das erzeugt, was man vermeiden soll, bezw. beseitigen will, nämlich eben wieder Kopfschmerzen.

Außer den bisher erwähnten giebt es nun noch eine Reihe von Fällen, in denen sich für den Kopfschmerz eine bestimmte Ursache nicht nachweisen läßt. Altem Herkommen gemäß nennt man diese Art „nervöse“ Kopfschmerzen, welcher Ausdruck aber nur als Lückenbüßer für unsere Unwissenheit aufgefaßt werden darf, insofern wir das Leiden nicht anders zu rubrizieren vermögen. Der Laie allerdings ist nur zu sehr geneigt, jeden Kopfschmerz, den er nicht auf „Erkältung“ zurückführt, als „nervös“ auszugeben. Der sogenannte nervöse Kopfschmerz entwickelt sich vorzugsweise bei aufreibender geistiger Thätigkeit, so namentlich bei Künstlern, Büchergelehrten, Schriftstellern, Großkaufleuten, Finanzmännern und ähnlichen Berufen. Er ist dann das Symptom einer Ueberreizung der Gehirnnerven.

Auch schon unter der Schuljugend grassiert dies Leiden in schreckenerregender Weise. Vor einiger Zeit hat Professor Bystrow in Petersburg eine bezügliche Statistik veröffentlicht. Danach litten von 7478 in einem Zeitraum von 5 Jahren untersuchten Schulkindern 868, d. h. 11,6 % an Kopfschmerzen. Diese fanden sich um so häufiger, je älter die Kinder waren, so z. B. im Alter von 14 bis 18 Jahren bei 28 bis 40 %. Die Ursache für diese auffallende Erscheinung sieht der Petersburger Gelehrte in der geistigen Ueberbürdung (was er an der Hand von Schulprogrammen nachweist), nicht aber in den ungünstigen hygieinischen Verhältnissen der Schullokale, indem Kinder, die Hausunterricht genießen, in gleicher Weise[WS 1] von dem Leiden ergriffen seien. Natürlich muß man zur richtigen Beurteilung solcher Fälle alle obenerwähnten Organerkrankungen ausschließen können, um zur Annahme eines rein durch geistige Ueberanstrengung bedingten Leidens zu gelangen. Auch wird man die kürzlich von Dr. Salemi in Nizza gemachte Beobachtung berücksichtigen müssen, wonach bei Kindern sogenannte Wachstumskopfschmerzen, welche also ausschließlich durch die körperliche Entwicklung bedingt sind, keine allzu seltenen Vorkommnisse bilden. Alles in allem wird dann immer noch eine bedeutende Anzahl von wirklich rein durch zu große Inanspruchnahme der kindlichen Geisteskräfte verursachten Kopfleiden übrig bleiben, die man in Ermangelung einer greifbaren krankhaften Organveränderung, nach Analogie der bei Erwachsenen vorkommenden, eben als „nervös“ bezeichnen muß.

Zum Schluß noch einige Andeutungen hinsichtlich der Behandlung der Kopfschmerzen. Es ist selbstverständlich, daß man in allen Fällen zunächst nach einer Grundursache forschen und diese zu bekämpfen bemüht sein muß. Das ist indessen Sache des Arztes. Dem Kranken aber liegt es ob, zunächst einmal sich einer bezüglichen ärztlichen Untersuchung zu unterwerfen, indem nach den oben entwickelten ursächlichen Beziehungen es in vielen Fällen vielleicht nur eines geringen ärztlichen Eingreifens bedarf, um den jahrelangen Quälgeist zu bannen. Leider aber beliebt es der großen Mehrheit der Kopfkranken, sich einem unheilvollen Zuwarten hinzugeben, doppelt unheilvoll, einmal durch das Verharren in gesundheitswidrigen Lebensgewohnheiten und zweitens durch die Vorliebe für gewisse Mittel, die zwar den augenblicklichen Schmerz lindern bezw. beseitigen, aber infolge ihrer giftigen Eigenschaften nachteilig auf den Körper einwirken. Und damit kommen wir zu der zweiten und dritten Aufgabe, die zu erfüllen dem Kranken obliegen: gesundheitsgemäße Lebensweise und strenge Vermeidung aller „Nervenmittel“. Das A und O der ersteren ist für Kopfleidende, die sitzende Lebensweise führen, reichliche Körperbewegung, etwa nach dem Vorbilde jenes Erzbischofs, von dem Dr. Smiles in seinem Werke „Leben und Arbeit“ erzählte, daß derselbe, sobald sich infolge vielen Studierens Kopfschmerzen einstellten, sich, wie ein gewöhnlicher Arbeiter gekleidet, an das Fällen von Bäumen machte und, unbekümmert um Wind und Wetter, sich dieser Arbeit solange hingab, bis ein reichlicher Schweißausbruch erfolgte. Ein böses Kapitel ist das von den verschiedenen, gegen den Kopfschmerz üblichen Medikamenten, vorzugsweise deshalb, weil dieselben meist ohne ärztliche Verordnung und ganz nach Belieben gebraucht werden.

[19] Die Haupterrungenschaft auf diesem Gebiet ist das Antipyrin, dessen überraschende Wirkung es zuwege gebracht hat, daß dasselbe seit geraumer Zeit allenthalben kritik- und verständnislos gebraucht und mißbraucht wird.

Eine Hauptschuld an dieser bedenklichen Popularisierung des Antipyrin trug bisher auch die leichte Zugänglichkeit desselben, der Handverkauf in Apotheken – und wohl auch an illegitimen Stellen – sowie das öffentliche Anpreisen, wodurch der Schein erweckt wurde, als hätte man es mit einem gänzlich unschuldigen Mittel zu thun. Wiederholt aber wurde in medizinischen Zeitschriften von gefährlichen Vergiftungserscheinungen berichtet, die sich zuweilen selbst nach geringen Mengen dieses Mittels eingestellt haben. In Anbetracht dessen kann vor dem eigenmächtigen Gebrauch dieses trügerischen Mittels nicht dringend genug gewarnt werden. Behördlicherseits ist deshalb auch der Handverkauf des Antipyrin untersagt worden. Es wäre sehr wünschenswert, wenn das gleiche Verbot des Handverkaufs auch auf die Mehrzahl der anderen Kopfschmerzenmittel, wie Chinin, Bromkali, Phenacetin, Antifebrin etc., ausgedehnt würde, damit der willkürliche Gebrauch derselben erschwert würde. Der an Kopfschmerzen leidende Teil der Menschheit muß zu der Erkenntnis gelangen, daß sein Heil nicht in der Apotheke, sondern in einer nach hygieinischen Grundsätzen zu gestaltenden Lebensweise zu suchen ist. Nur auf diesem Wege ist ein Zurückdrängen des Feindes, der bereits übermächtig zu werden droht, noch zu erhoffen.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: …, die Handunterricht genießen, nicht in gleicher Weise … ; vergl.: Zentralblatt für Nervenheilkunde, Psychiatrie und gerichtliche Psychopathologie, Band 9.1886, S. 351, Google.