Textdaten
<<< >>>
Autor: Dr. Ludwig Büchner
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Kleinköpfige Kinder
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 17, S. 280–282
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1877
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
korrigiert
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite


[280]
Kleinköpfige Kinder.
Von Dr. L. Büchner.

Im Jahrgange 1869 der „Gartenlaube“ (Nr. 44) habe ich in einem Aufsatze „Zwei Affenmenschen“ zwei mikrocephale oder kleinköpfige Kinder beschrieben, von denen das eine, Helene Becker von Offenbach, inzwischen gestorben ist, während in derselben Familie nicht weniger als drei weitere Kinder von ganz derselben Art zur Welt gekommen sind. Eins derselben starb schon vier Tage nach der Geburt; die zwei übrigen, Gretchen und Franz, leben in einem Alter von sieben und vier Jahren. Von diesen ist der vierjährige Franz wahrscheinlich der hochgradigste Mikrocephale, welcher bis jetzt überhaupt lebend und in einem gewissen Lebensalter beobachtet worden ist, da er seine verstorbene Schwester Helene durch den Grad seiner Verunstaltung noch übertrifft und da diese Letztere, mit Ausnahme eines von Dr. Sander beschriebenen fünf Monate alten Knäbchens, das kleinste Gehirn besessen hat, das bei Menschen bis jetzt gefunden worden ist. Dasselbe wog zweihundertneunzehn französische Gramm, während das gewöhnliche Gewicht eines erwachsenen menschlichen Gehirns dreizehn- bis fünfzehnhundert Gramm beträgt und zwei gleichaltrige Kindergehirne Gewichte von tausend und tausenddreihundert Gramm besaßen.

Wir verdanken diese Zahlen den Wägungen des Herrn Professor Theodor Bischoff in München, welcher die Leiche der Helene Becker sogleich nach deren im achten Lebensjahre erfolgtem Tode einer genauen anatomischen Untersuchung unterwarf und mit dieser Untersuchung einen höchst werthvollen Beitrag zur genauen und gründlichen Beurtheilung der menschlichen Mikrocephalen oder „Affenkinder“ lieferte. Die Bezeichnung Affenkinder oder Affenmenschen verdienen diese unglücklichen Wesen nämlich deshalb, weil sie nicht blos in dem anatomischen Baue ihres Körpers und ihrer Organe, insbesondere des Gehirns, sondern [281] auch in ihrem ganzen Wesen während des Lebens eine auffallende Aehnlichkeit mit jenen uns so nahe stehenden Thieren an den Tag legen. Das Gehirn der Helene Becker hatte nach Professor Bischoff das Ansehen eines normalen Thiergehirns und machte ungefähr den Eindruck des Gehirns eines Affen von der Größe eines Pavians.[1] Besonders schlecht entwickelt und nach vorn zugespitzt waren die Stirntheile, während dagegen das kleine Gehirn sowie die mittleren und unteren Theile des großen Gehirns eine normale Entwickelung zeigten, sodaß also der enorme Defect oder Mangel des Gesammtgehirns fast nur durch die schlechte Entwickelung der beiden großen Hirnhalbkugeln oder derjenigen Theile des Gehirns bedingt war, welche der Intelligenz oder dem geistigen Wesen vorstehen. Nur der sogenannte Balken, welcher die beiden großen Hirnhalbkugeln untereinander verbindet und ebenfalls zu den mittleren Theilen des Gehirns gerechnet wird, befand sich in sehr verkümmertem Zustande.

Die Windungen der Gehirnoberfläche waren noch weniger zahlreich, als diejenigen an dem Gehirne der menschenähnlichen Affen, und zeigten auch in ihrer sonstigen Beschaffenheit und Anordnung „zahlreiche Affenähnlichkeiten“. So fehlte die dritte Stirnwindung, welche durch ihre starke Entwickelung die Breite der menschlichen Stirn und der menschlichen Stirnlappen bedingt, ebenso wie am Affengehirne, fast gänzlich (sogar das Gehirn des Gibbon, des niedrigsten der menschenähnlichen Affen, zeigt diese Windung besser entwickelt), und der vordere Schenkel der sogenannten Sylvischen Grube oder jenes tiefen Einschnittes, welcher den vorderen Hirnlappen von dem mittleren trennt, zeigte sich ebenso verkümmert und kaum vorhanden, wie am Affengehirne. Auch die Bildung des Schädels der Helene Becker, eines der kleinsten bekannten Menschenschädel, zeigte mehrere Affenähnlichkeiten. Fast alle sogenannten Schädelnähte waren offen bis auf die beiden Schuppennähte und die sogenannte Pfeilnaht, welche letztere fast geschlossen war und welche sich auch an dem Schädel der menschenähnlichen Affen zuerst schließt. Der Unterkiefer war nicht spitz wie sonst, sondern bildete einen rundlichen Bogen wie bei einem neugebornen Kinde.

Einige weitere Affenähnlichkeiten fanden sich auch im übrigen Körper, so in der Anordnung mehrerer Muskelgruppen, in der Bildung der sogenannten Darmfalten, in der anatomischen Anordnung der großen, aus dem Herzen entspringenden Gefäße etc. Uebrigens ließ sich im Gehirne der Helene Becker keine Spur eines krankhaften Processes nachweisen, welcher als Ursache oder Veranlassung der merkwürdigen Verkümmerung desselben hätte angesehen werden können. Auch eine erbliche Ursache ist nicht aufzufinden, da beide Eltern gesund und wohlgebildet sind und aus Familien stammen, in denen ein ähnliches Leiden seit Menschengedenken nicht vorgekommen ist.

Diesem merkwürdigen Sachverhalt entsprechend, stand die Helene Becker während ihres Lebens auf einer Stufe körperlicher und geistiger Befähigung, welche sie dem Thiere nicht blos sehr nahe, sondern in vielfacher Beziehung unter dasselbe bringt. Sie konnte nicht sprechen sondern brachte nur thierische, unarticulirte Töne oder Schreie hervor, welche indeß, gerade so wie bei den Thieren auch, verschieden waren, je nachdem sie Freude oder Unlust ausdrücken wollte. Sie hatte kein Gedächtniß, keine Anhänglichkeit an bestimmte Personen und machte auch keinerlei geistige Fortschritte. Sie äußerte kein bestimmtes Verlangen nach Essen und Trinken, sondern mußte künstlich gefüttert werden; sie konnte auch nichts ergreifen oder festhalten. Ihre Sinne waren zwar alle gut und thätig, bis auf ein krankes Auge, aber die durch dieselben hervorgebrachten Eindrücke waren außer Stande, Vorstellungen oder ein geistiges Leben zu wecken. Das Auge war stier und ausdruckslos, nur glänzende, grellrothe Gegenstände oder Musik vermochten ihre Aufmerksamkeit zu erwecken. Sie lachte nicht und weinte nicht, spielte auch nicht mit Puppen. Der Schlaf der Helene Becker war, wie bei allen mikrocephalen Kindern äußerst leicht, oft unterbrochen und mußte in der Regel durch Opium erzwungen werden; das geringste Geräusch weckte sie auf. Im Wachen war ihr Körper in einer steten rastlosen Unruhe und Beweglichkeit was auf den Beschauer äußerst unangenehm und ermüdend wirkte; ihre Bewegungen hatten oft etwas Affenartiges.

Bedeutend bessere Fähigkeiten zeigt Helenens noch lebende Schwester, Gretchen Becker, welche der Verfasser dieses Aufsatzes am 8. Januar dieses Jahres dem Vereine hessischer Aerzte in Darmstadt vorstellte. Sie ist sieben Jahre alt und hat, obgleich in derselben Weise mikrocephal, wie ihre Schwester, doch in allen ihren Kopfmaßen gegen diese einen ungefähren Vorsprung von einem halben Zoll. Ihre Stirn ist mehr sichtbar; der Schädel fällt nicht so dachförmig nach beiden Seiten ab, die Augenhöhlenränder sind nicht so vortretend, wie bei der Helene Becker. Das Auge hat einen gewissen Ausdruck und ist äußerst beweglich. Es drückt sich darin große Neugierde aus, welche dem Kinde auch sonst in hohem Grade eigen ist, indem es nach allen Gegenständen im Zimmer greift und sie untersucht. Es hat, wie seine Schwester, keinen Augenblick Ruhe und zeigt deren affenartige Beweglichkeit in noch höherem Grade, indem es fortwährend auf Tische und Stühle klettert. Offenbar ist die Kleine im Stande, über ihre Muskeln eine größere Herrschaft auszuüben, als ihre Schwester. Sie erschrickt sehr leicht bei plötzlichen Tönen, z. B. wenn ein Wagen fährt, oder bei Hundegebell, hat aber, wie ihre Schwester, Freude an Musik und glänzenden, grellrothen Gegenständen. Sie spielt mit Puppen, wirft sie aber sogleich wieder fort, sodaß man sich veranlaßt gesehen hat, ihr keine solchen mehr zu reichen. Sie spielt mit andern Kindern, wobei sie großen Eigensinn an den Tag legt, am liebsten aber mit Thieren, wie Pferden, Hunden, Katzen. Sie zerreißt ihre Kleider und andere zerreißbare Gegenstände gern und ist sehr zornig und beißsüchtig. Sie lacht und weint, kann aber nur das einzige Wort „Mama“ hervorbringen. Statt der übrigen Aeußerungen durch die Sprache stößt sie unarticulirte Töne und Schreie aus, aber nicht so laut und ungeberdig, wie Helene und wie ihr noch zu beschreibender Bruder Franz. Ihr Schlaf ist besser, als der Helenens es war, aber doch auch sehr leicht und oft unterbrochen. Alle Sinne sind gut; Empfindlichkeit der Haut ist da, aber nicht nachhaltig, sodaß sie Schmerzen durch Schneiden, Stechen oder dergleichen schnell vergißt. Gegenstände kann sie ergreifen und festhalten; sie kann ihre Bedürfnisse äußern und selbst essen, sogar Suppe mit dem Löffel. Essen und Trinken verlangt sie durch Geberden. Sie hat auch Anhänglichkeit an bestimmte Personen. Ihr übriges geistiges Leben ist fast gleich Null.

Auf einer noch viel tieferen Stufe und selbst tiefer als die Helene steht der gegenwärtig vier Jahre alte Bruder Franz, dessen Kopfbildung die ungünstigste unter den drei Geschwistern ist. Er ist so ungeberdig, daß er nicht einmal transportirt und daher auch von den Eltern nicht in Vereinen vorgestellt werden kann. Er lacht und weint nicht, zerreißt Alles, was er in die Hände bekommt, muß vollständig gefüttert werden, schläft gar nicht, es sei denn mit Hülfe von Mohnthee, und ist in allen Stücken das in die höhere Potenz erhobene Gegenstück seiner Schwestern.

Daß diese unglücklichen Geschöpfe im inneren Bau ihres Körpers und ihrer Organe viele Aehnlichkeiten mit den entsprechenden Bildungen bei Thieren, insbesondere bei den uns am nächsten stehenden Affen, zeigen, das wurde, wie oben gesagt, an der Hand eines so ausgezeichneten und zuverlässigen Beobachters, wie Professor Bischoff, nachgewiesen. Aber auch ihr Benehmen im Leben läßt diese Aehnlichkeiten deutlich erkennen. Die Rastlosigkeit, die Neigung zum Klettern, die Neugier, die sexuelle Erregbarkeit, die Unfähigkeit zu lachen oder zu weinen und einiges Weitere können zum wenigsten als Annäherungen an die uns zunächst stehende Thierheit betrachtet werden. Auch die merkwürdige Neigung des Gretchen Becker zum Umgang mit Thieren darf um so eher hierher gerechnet werden, als auch von andern Mikrocephalen Aehnliches berichtet wird. Die Marie Sophie Wyß in Hindelbank bei Bern lief den Hunden auf der Straße nach, balgte sich mit ihnen herum und jagte ihnen ihr Fressen ab. Von dem Michel Sohn und dessen Bruder, welche im Jahre 1833 als Kinder einer armen, bei Bromberg wohnenden Wittwe bekannt und in dem amtlich über sie erstatteten Berichte als „menschliche Affen-Organismen“ bezeichnet wurden, wird mitgetheilt, daß sie gern Bäume erkletterten und dabei ein thierisches Geheul ausstießen, daß sie Alles zerrissen oder zerpflückten und ihre Gefühle oder [282] Begierden nur mittelst unarticulirter Laute zu erkennen gaben. Auch Conrad Schüttelndreyer aus Nienstädt bei Bückeburg, welcher bereits im Jahre 1813 von dem berühmten Physiologen Blumenbach abgebildet und als „Thiermensch“ bezeichnet wurde, kletterte gern auf Bäume und zerriß am liebsten Papier oder alte Lappen, welche man ihm reichte, in kleine Stücke.

Freilich sind diese von der wahren Menschen-Natur so weit abweichenden Wesen keine wirklichen Thiere oder Affen und könnten dies auch niemals sein, da es allen Gesetzen der Natur zuwiderlaufen würde, wenn der sogenannte Atavismus oder Rückschlag so verstanden werden wollte, als ob er bis zum vollständigen Wiedererscheinen uralter, längst ausgestorbener Stammformen führen könne oder müsse. Ein Mensch kann heutzutage ebensowenig einen Affen hervorbringen, wie ein Pferd seine Stammform aus der Pliocen-Zeit, das Hipparion, oder gar einen noch älteren Vorfahren, z. B. das Anchitherium. Dagegen kommt es häufig genug vor, daß Pferde geboren werden, welche den nicht in einen einzigen Huf, sondern in drei Zehenglieder auslaufenden Fuß des Hipparion durch den Besitz zweier seitlichen, mehr oder weniger verkümmerten Afterzehen wiederholen.

In ähnlicher Weise nun wiederholen die menschlichen Affenkinder einige Bildungen oder Eigenthümlichkeiten aus einer hunderttausende von Jahren hinter uns liegenden thierischen Vergangenheit des Menschen, ohne aber darum selbst Thiere oder Affen zu sein. Es sind regelwidrige Menschen mit einem verkümmerten oder auf einer früheren Stufe der Entwickelung stehengebliebenen Gehirn, welche eben deswegen nur halbe Menschen, aber auch nur halbe Thiere sind. Denn das Gehirn ist ja gerade dasjenige Organ, dessen vollkommenere Ausbildung und Entwickelung dem Menschen sein eigentliches Uebergewicht über das Thier verleiht und das ihn durch diese hohe Ausbildung erst zum wirklichen Menschen gemacht hat. Es ist daher auch in keiner Weise zu verwundern, daß eine den Menschen zum halben Thier herabwürdigende Verkümmerung oder Verunstaltung sich zumeist und vorzugsweise in diesem Organe äußert, während die übrigen Theile oder Organe des Körpers nur in geringerem Grade oder auch gar nicht betroffen werden. Daher können sie auch keine normalen, sondern nur abnorme oder fehlerhafte Wesen sein, da bei einem normalen Wesen, sei es Mensch oder Thier, alle Organe oder Theile in einem regelrechten Verhältniß unter einander stehen müssen.

Die so viel besprochene Lücke zwischen Mensch und Thier ist gewiß eine sehr große, namentlich in geistiger Beziehung, und wird als solche von Niemandem, auch nicht von den entschiedensten Anhängern und Vertretern der Abstammungslehre, geleugnet werden. Wenn man aber in dieser Beziehung einen Blick in die Thierwelt wirft, so überzeugt man sich sehr leicht, daß dort zwischen Thieren, an deren systematische Trennung kein Zoologe auch nur entfernt denkt, Lücken und Abstände bestehen, welche an Tiefe oder Weite jene Lücke zwischen dem Menschen und den ihm am nächsten stehenden Thieren weit hinter sich lassen. Man denke z. B. an Ameisen und Bienen, deren wunderbare, oft an das Fabelhafte streifende geistige Befähigungen und Leistungen der Verfasser dieses Aufsatzes erst vor Kurzem eingehend geschildert hat,[2] und vergleiche dieselben mit den Befähigungen und Leistungen eines der unintelligenten Käfer oder Schmetterlinge oder gar einer Schildlaus – Thieren, welche den sogenannten Immen ganz nahe stehen und mit in dieselbe Classe der Insecten gehören! Welch ein enormer Abstand ist hier zu bemerken! Auch bei den Ameisen und Bienen ist es, gerade so wie bei den Menschen, nur die starke Entwickelung und verhältnißmäßige Ausbildung ihres Gehirns, sowie die Differenzirung oder Ausbildung ihrer Organe, welche ihnen jenes enorme geistige, künstlerische und moralische Uebergewicht über ihre Mitwesen verleiht, das sie in so hohem Grade besitzen.

Kennten wir also auch nicht jene oben beschriebenen traurigen Geschöpfe, welche eine Mittelstellung zwischen Mensch und Thier einnehmen, wüßten wir nichts von niederen, wilden oder barbarischen Menschenracen, welche in ihrem ganzen Sein und Wesen dem Thiere oft näher stehen, als jenem Menschheitsideal, welches wir in der Regel im Kopfe haben, hätten wir keine fossilen Menschenreste gefunden, welche noch eine Stufe tiefer oder näher an die Thierwelt hinabweisen, und hätten wir keine gegründete Hoffnung, daß solche, die Lücke zwischen Mensch und Thier immer mehr verengernde Reste, sowohl nach thierischer, wie nach menschlicher Seite, im Laufe der Zeit aus den Tiefen der Erde werden hervorgeholt werden: – so würde doch jene Lücke, oder jener Abstand, von einem allgemeineren naturhistorischen oder naturphilosophischen Standpunkte aus betrachtet, an und für sich durchaus nicht jene tiefgreifende Bedeutung beanspruchen können, welche man ihr so oft von Gegnern der Descendenz- oder Abstammungslehre beilegen hört. Die genaueren Gesetze, nach denen die große Entwickelung und Fortbildung der organischen Welt vor sich geht und vor sich gegangen ist, sind ja noch zum größten Theile unbekannt, und jene Entwickelung kann in einzelnen Fällen gerade so gut und ohne Unterbrechung der natürlichen Reihenfolge sprungweise erfolgt sein, wie sie in vielen anderen Fällen ohne Zweifel einen ganz allmählichen und überaus langsamen Verlauf genommen hat.

Gegen die aus den mikrocephalen Menschen oder Menschenkindern hergeleitete Beweiskraft wird allerdings Mancher protestiren, indem er diese Geschöpfe einfach als „kranke“ bezeichnet und darauf hinweist, daß aus solchen krankhaften, der Regel sich entziehenden Abweichungen ein Schluß auf normale oder regelrechte Entwickelung nicht gezogen werden könne. Aber als „krank“ in dem gewöhnlichen Sinne des Wortes können die hier bezeichneten Kinder doch nicht bezeichnet werden. Von Gretchen Becker z. B. sagte ihre Mutter ausdrücklich, daß sie noch niemals wesentlich krank gewesen sei, und an dem Gehirne oder Schädel der Helene Becker fand sich nach Professor Bischoff's Versicherung, wie schon angeführt wurde, keine Spur eines pathologischen oder krankhaften Processes vor, welcher als Ursache oder Veranlassung der großen Abnormität hätte angesehen werden können.

Allerdings fehlt es nicht an Mikrocephalen, bei denen solche krankhafte Ursachen mit Leichtigkeit nachgewiesen werden konnten, wie frühzeitige Verknöcherung der sogenannten Schädelnähte, welche die weitere Entwickelung des Gehirns mechanisch behindern, oder beträchtliche Verdickungen der harten Hirnhaut oder Anfüllung und Ausdehnung der sogenannten Hirnhöhlen durch Wasser oder Blutaustritte oder blasige, mit Wasser gefüllte Auftreibungen der sogenannten Spinnwebenhaut oder wässerige Durchfeuchtung der Gehirnsubstanz selbst, etc. etc. Aber von allem diesem war, außer einem starken, den Verhältnissen des neugeborenen Kindergehirns entsprechenden Wassergehalte der Gehirnsubstanz, an dem Gehirn der Helene Becker nichts aufzufinden, und namentlich waren die meisten Schädelnähte nicht verwachsen, sondern im Gegentheil so locker, daß die einzelnen Schädeltheile auseinander zu fallen drohten. Es war auch keine Erblichkeit nachzuweisen; es bestand keine Verwandtschaftsehe, und die englische Krankheit der Helene Becker trat erst in den allerletzten Lebensjahren ein. Also war es offenbar eine aus innerer und unbekannter Ursache hervorgegangene Bildungshemmung oder Hemmungsbildung des Gehirnes selbst, aber deren entferntere Veranlassung die Meinungen allerdings verschieden sein können, ohne daß man im Stande wäre, die atavistische Theorie oder die Erklärung durch theilweisen sogenannten Rückschlag in einen längst hinter uns liegenden, halb menschlichen, halb thierischen Typus mit bestimmten Gründen zurückweisen zu können. Wer aber auch dieser Theorie nicht zustimmt oder zuzustimmen Neigung hat, wird nicht leugnen können, daß jene halb thierischen, halb menschlichen Geschöpfe mit ihrer armseligen Gehirnbildung einen wahrhaft niederschmetternden Beweis gegen alle Diejenigen bilden, welche sich für berechtigt halten, dem menschlichen Geiste oder Seelenwesen eine besondere, für sich bestehende und von seinem materiellen Substrat oder dem Gehirn mehr oder weniger unabhängige Existenz während des Lebens einzuräumen.




  1. Man vergleiche: „Abhandlungen der mathematisch-physikalischen Classe der königlich bairischen Akademie der Wissenschaften“, elfter Band, zweite Abtheilung, Seite 119 und folgende.
  2. „Aus dem Geistesleben der Thiere oder Staaten und Thaten der Kleinen“ von Dr. Ludwig Büchner. Berlin, A. Hoffmann. 1876.