Karl Reinecke (Die Gartenlaube 1885)

Textdaten
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Autor: Paul Umlauft
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Titel: Karl Reinecke
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aus: Die Gartenlaube, Heft 38, S. 613, 626
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1885
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Karl Reinecke.

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Karl Reinecke.
(Mit Portrait S. 613.)

In der vordersten Reihe der Musiker unserer Zeit, die sich einer vielseitigen Bildung rühmen können und durch ein vielseitiges Talent auszeichnen, steht ohne Zweifel Dr. Karl Reinecke, der in seiner Eigenschaft als Dirigent der Leipziger Gewandhauskoncerte in den letzten Tagen des September sein fünfundzwanzigjähriges Jubiläum feiern wird. Mit Stolz darf er auf dies Vierteljahrhundert regster und erfolgreichster Thätigkeit zurückblicken; mit Stolz darf er sich sagen, daß er das, was er erreicht hat, nur sich selbst, seinem rastlosen Eifer und unermüdlichen Streben verdankt. Mit kurzen Worten sei hier darum geschildert, wie ihn dies Streben von Stufe zu Stufe bis zu der hervorragenden Stellung, die er in dem Musikleben der Gegenwart einnimmt, empor geführt hat.

Geboren am 23. Juni 1824 zu Altona, zeigte Karl Reinecke schon in seiner frühesten Jugend bedeutendes musikalisches Talent, das von seinem Vater, dem er überhaupt fast seine ganze Ausbildung nach dieser Seite hin zu danken hat, auf das Sorgsamste entwickelt und gepflegt wurde. Wie groß dasselbe war, geht aus einer kleinen Begebenheit aus dem Leben des damals sechsjährigen Knaben hervor. In dem väterlichen Hause wurden öfters Streichquartette gespielt, denen zuhören zu dürfen einer der größten Hochgenüsse des Kindes war. Eines Tages konnten die Mitwirkenden trotz wiederholten Probirens an einer Stelle nicht zusammenkommen; der Knabe, der aufmerksam zugehört hatte, trat vor und sagte, das Cello müsse um einige Takte später einsetzen; man versuchte – und siehe da, die Harmonie war hergestellt. Aber auch der Unterricht, der diesem Talente zu Theil wurde und der bereits im sechsten Jahre sowohl im Klavier- und Violinspiel als auch in der musikalischen Theorie begann, muß ganz vorzüglich gewesen sein; dafür spricht schon der Erfolg der Studien, die den jungen Musiker in den Stand setzten, bereits im zwölften Jahre Beethoven’s C-dur-Klavierkoncert öffentlich vorzutragen. Gleiche Fortschritte machte der Knabe im Violinspiel, das ebenfalls später zum öffentlichen Auftreten führte, das aber im zweiuudzwanzigsten Lebensjahre Reinecke’s dadurch ein jähes Ende erreichen sollte, daß er den linken Arm brach und damit für immer der Ausübung dieser Fertigkeit entsagen mußte. Die geistige Nahrung, die ihm beim Unterricht geboten wurde, bestand in den Werken aller hervorragenden Komponisten von Bach bis Mendelssohn und Chopin.

Ein wunderliches Geschick wollte es aber, daß gerade der Komponist, zu dem sich Reinecke später besonders hingezogen fühlte, Robert Schumann, im väterlichen Hause nicht beliebt war und somit vollständig vom Unterricht ausgeschlossen blieb, so daß der Schüler sich nur ohne das Wissen des Vaters mit ihm beschäftigen durfte. Mit der praktischen Erlernung der erwähnten Instrumente ging das fleißige Studium der musikalischen Theorie Hand in Hand. Schon damals legten die strengsten kontrapunktischen Uebungen den Grund zu der Meisterschaft, die Reinecke als Komponist auch in dieser Hinsicht besitzt.

So förderte der sorgsame Vater die Ausbildung seines Sohnes nach jeder Seite hin auf das Gründlichste, bis das Jahr 1840 herankam, in welchem das für den Komponisten so große Ereigniß der ersten öffentlichen Aufführung eines Werkes, in diesem Falle eines Koncertstückes für Pianoforte und Orchester, eintrat. Wie mächtig nun auch nach dieser Aufführung den jungen Mann der Wunsch erfaßte, hinaus in die Welt zu treten, so mußte er doch vorläufig in den kleinen musikalischen Verhältnissen seiner Vaterstadt ausharren. Der Künstler lernte den bitteren Ernst des Lebens kennen; zu weiterer Ausbildung fehlten ihm die Mittel, und selbst den Lebensunterhalt mußte er sich durch Unterrichten verdienen.

Erst nach drei Jahren sollte seine Sehnsucht, die ihn namentlich nach dem schon damals als Musikstadt berühmten Leipzig zog, durch König Christian VIII. von Dänemark befriedigt werden, an den er sich mit der Bitte um ein Stipendium wandte. Die deßhalb unternommene Reise nach Kopenhagen bot mancherlei Anregung, wie z. B. das Bekanntwerden mit dem Komponisten Niels W. Gade und mit dem berühmten Violinvirtuosen W. Ernst, mit dem Reinecke in Kiel koncertirte.

Endlich, im November des Jahres 1843, fand die ersehnte Uebersiedelung nach Leipzig statt; und nun begauu der Stern seines Ruhmes bald zu steigen. Die Bekanntschaft mit Gade trug gute Früchte; sie eröffnete Reinecke das Haus des Gewandhausdirigenten Ferdinand Hiller und ebenso das Mendelssohns. Von großem Einfluß ward auch die kurz darauf gemachte Bekanntschaft Schumann’s; welche Svmpathie dieser für den jüngeren Kollegen empfand, beweist nicht nur die spätere Widmung seines op. 72, sondern auch der Umstand, daß er ihm viele Klavierarrangements seiner Werke übertrug und ihn sogar zur Instrumentirung seiner Komposition „Der Rose Pilgerfahrt“ aufforderte. Neben diesen für den inneren Menschen wichtigen Begebenheiten fehlten aber auch die äußerlich bedeutenden Ereignisse nicht. Schon kurz nach seiner Ankunft stellte er sich dem Leipziger Publikum sowohl im Gewandhause wie in der „Euterpe“ als Pianist vor, und bald wurde er so bekannt, daß er sich im Anfang des Jahres 1848 in den Stand gesetzt sah, seine erste große, überall von glänzenden Erfolgen begleitete Koncertreise, deren Ziel das nördliche Deutschland und die russischen Ostseeprovinzen waren, zu unternehmen.

Als fertiger Künstler konnte er noch in demselben Jahre nach Kopenhagen, das einst dem bescheidenen Anfänger den Weg in die Welt gebahnt, zurückkehren. Dort wurde er vom Könige sogleich zum Hofpianisten ernannt und von einem gewählten Künstlerkreise, dem die dänischen Schriftsteller Andersen und Oehlenschläger, der Geiger Ernst, die berühmte Sängerin Wilhelmine Schröder-Devrient und andere interessante Persönlichkeiten angehörten, mit offenen Armen empfangen. Dieser Aufenthalt, in welchen auch der schon erwähnte Bruch des linken Armes fiel, wurde erst durch die 1848 beginnende Erhebung Schleswig-Holsteins gegen Dänemark beendet, die Reinecke veranlaßte, nach seiner Heimath zurückzukehren.

Nachdem er daselbst bis zum Herbst geblieben, verbrachte er den folgenden Winter in Bremen, im Verein mit Jenny Lind, wie auch mit Franz Liszt mehrere Koncerte veranstaltend; und hierauf, von dem Wunsche beseelt, auch im Auslande noch bekannter zu werden, besuchte er Paris, wo er ebenfalls in mehreren Koncerten höchst erfolgreich auftrat. Der Zufall wollte es, daß Hiller sich gerade in Paris aufhielt; dieser bestimmte Reinecke, als Lehrer des Klavierspiels und der Theorie an das Kölner Konservatorium zu gehen. Nach mehrjähriger Lehrthätigkeit sollte Reinecke 1854 endlich mit der Beschäftigung beginnen, die seitdem einen Hauptbestandtheil seines Berufes bildete und ihn bald zu einer der ersten musikalischen Stellungen Deutschlands führte: mit der Direktionsthätigkeit. Die erste Veranlassung dazu war ein Ruf nach Barmen, wo er fünf Jahre lang als Musikdirektor lebte, um dann einem neuen Ruf als Universitäts-Musikdirektor und Dirigent der Singakademie nach Breslau zu folgen. Doch sollte Breslau ihn nicht lange fesseln; sein Ruhm war schon so gestiegen, daß ihm nach einem Jahre der ehrenvolle Antrag wurde, als Leiter der Gewandhauskoncerte und Lehrer des Konservatoriums nach Leipzig zu kommen, eine Aufforderung, der er natürlich mit Freuden Folge leistete; kehrte er doch als ruhmbedeckter Künstler an die Stätte zurück, die ihm schon in den frühen Tagen der Jugend als verlockendes Ziel vorgeschwebt hatte!

In dieser Stellung lebt er nun seit 25 Jahren in Leipzig, glücklich im Kreise seiner zahlreichen Familie, seit jener Zeit von vielfachen Erfolgen, ebenso als Komponist, wie als Pianist und Dirigent, begleitet. Wie seine Kompositionen ihm in Deutschland und im Auslande großen Ruf erwarben, so wurde er auch überall durch häufige Koncertreisen als bedeutender Pianist bekannt; wie sehr man seine Dirigententhätigkeit zu schätzen weiß, das beweisen die zahlreichen Aufforderungen, auswärtige Musikfeste zu dirigiren. Nach jeder Seite hin, in den erwähnten Eigenschaften und als Lehrer nimmt Karl Reinecke eine Stellung in Leipzig ein, welche von großem und segensreichem Einfluß auf das ganze dortige Musikleben ist. In gerechter Anerkennung seiner Verdienste verlieh ihm deßhalb die Leipziger Universität vorigen Winter bei Gelegenheit der Einweihung des neuen Gewandhauses den Doktortitel honoris causa, nachdem ihm schon früher mannigfache andere Auszeichnungen zu Theil geworden waren.

Die Kompositionen Reinecke’s zeichnen sich durch einen seltenen Adel der Empfindung aus. Dies gilt nicht nur von den größeren Werken wie z. B. von seiner tragischen Oper „König Manfred“ und der soeben vollendeten komischen „Auf hohen Befehl“, sondern auch von seinen Chorwerken, Symphonien, Ouvertüren, Koncerten etc.

Ein ganz neues ihm ureigens angehörendes Genre hat er mit seinen Märchendichtnngen für Frauenchor und Soli mit Klavierbegleitung und verbindender Deklamation, „Schneewittchen“, „Aschenbrödel“, „Dornröschen“ und „Die wilden Schwäne“ geschaffen. Dieselben bieten als musikalische Stimmungsbilder soviel des Schönen, daß sie zu den reizvollsten Tondichtungen der Neuzeit auf diesem Gebiete gehören und allein schon hingereicht hätten, den Namen Reinecke’s populär zu machen, wenn dies überhaupt noch nöthig gewesen wäre. Dasselbe läßt sich von seinen Liedern behaupten, von denen eine große Anzahl weite Verbreitung gefunden hat; es sei hier nur das entzückende „Guten Abend, lieber Mondenschein“ und der reizende „Schelm“, der in Wahrheit „durch alle Lande geht“, wie es dariu heißt, erwähnt. Eine besondere Ader hat er auch für musikalischen Humor; seine Ouvertüre zu Goethe’s „Jahrmarktsfest von Plundersweilen“ ist in dieser Hinsicht ein Meisterstück. Hierher gehört auch seine vierhändige Musik zu dem Märchen „Nußknacker und Mausekönig“, welcher der berühmte Aesthetiker W. Ambros einen besonderen Aufsatz widmete und in welcher der Ton des Humoristisch-Märchenhaften so ausgezeichnet getroffen ist, daß sich in der ganzen Klavierlitteratur kaum etwas Aehnliches findet, das diesem Werke an die Seite zu setzen wäre. Wie sehr der Komponist der Kinderseele nachzufühlen versteht, das beweisen seine zahlreichen Kinderlieder und die allerliebste Kinderoper „Glückskind und Pechvogel“.

Nicht minder groß ist der Ruf Reinecke’s, den er sich als Pianist erworben; auch auf diesem Gebiete hat er eine Specialität, in der ihn Niemand übertrifft, dies ist sein Vortrag der Mozart’schen Klavierwerke, die er mit einer geradezu bezaubernden Grazie wiederzugeben vermag. Vermöge seines musikalischen Feingefühls steht er auch in der Begleitung des Gesangs am Klavier unübertroffen da. Außerdem widmet sich Reinecke auf das Eifrigste der Lehrthätigkeit und hat hierin schon zahlreiche glänzende Erfolge erzielt. Gar mancher Komponist und Pianist von Ruf war sein Schüler, und aus den fernsten Ländern kommen junge Musiker, um seinen Unterricht zu genießen.

Auch im Privatleben zeichnet sich Reinecke durch besondere Vorzüge aus. Die Vornehmheit, die seiner Musik zu eigen ist, bildet auch einen Grundzug seines Charakters. In der uneigennützigsten Weise ist er stets bereit, junge Künstler zu unterstützen und zu fördern. Im persönlichen Verkehr höchst liebenswürdig, weiß er in der Unterhaltung durch feinen Humor zu fesseln; kein Wunder, daß er diejenigen, die mit ihm nur gesellschaftlich verkehren, ebenso für sich einzunehmen versteht, wie Alle, die ihn näher kennen, namentlich seine Schüler, die ihm stets treue Anhänglichkeit bewahren. Mag ihm der Tag des frohen Festes die schöne Ueberzeugung bringen, daß sie Alle von dem einen Wunsche beseelt sind: er möge als Leiter der Gewandhauskoncerte zum Heile des Instituts noch lange Jahre in seiner segensreichen Thätigkeit fortwirken! Paul Umlauft.