Kämpfe in der höheren Tierwelt

Textdaten
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Autor: Adolf und Karl Müller
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Titel: Kämpfe in der höheren Tierwelt
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 35, S. 588–590
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1877
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[588]
Thier Charaktere.
Von Adolf und Karl Müller.
Kämpfe in der höheren Thierwelt.


Es liegt in den Lebensäußerungen der höherorganisirten Thiere eine solche Fülle von thatsächlichen Beweisen für ein selbstbewußtes, überlegtes Handeln, daß wir bei klarem Blick und ehrlichem Eingeständniß hier die Abspiegelung der menschlichen Geistesthätigkeit im Kleinen anerkennen müssen. Hier ist kein Räderwerk, welches sich um die Triebfeder eines für die Maschine denkenden Lenkers dreht; hier ist kein Puppenspiel, wo im Hintergrunde der Kastenmann die Figuren an unsichtbaren Fäden hält und bewegt. Die Freiheit des Willens und das Vermögen der Selbstbestimmung ist im Thiere dasselbe, wie im Menschen, nur sind diese Gaben enger begrenzt und eingeschränkt durch die Unvollkommenheit des Organismus, durch den Mangel des Haupt-Offenbarungs- und Bildungsfactors, der Sprache. Deshalb gehört allerdings Uebung und scharfe Beobachtung dazu, und das Seelenleben der Thiere in seinem tieferen Wesen zu verstehen und die Zeichen seines Daseins und Waltens in den feinsten Darstellungen wahrzunehmen.

Sprechende Beweise für das ausgebildete Seelenleben der Thiere stellen sich vorzüglich in den Kämpfen derselben dar. Wir beginnen mit dem Kampf um den Besitz des Lebensgefährten zum Zweck der Fortpflanzung und des Familienlebens. Welch eine Verschiedenheit des Werbens und Zusammenlebens giebt sich in diesem Kampfe kund! Wie läßt hier die Natur Mannigfaltigkeit zu, wie giebt sie Spielraum zur Entfaltung der charakteristischen Eigenartigkeit!

Unter der Gewalt des Fortpflanzungstriebes treten plötzlich die Züge des wilden Wesens der Raubthiere und Raubvögel zurück, und es beginnt das Geberdenspiel der Minne. Wesen, Haltung, Bewegung, Gang, Lauf und Sprung oder Flug sind gleichsam geadelt. Stolz und Anmuth zugleich, Feuer und sanfte Milde, Ungestüm im Begehren neben Unterwürfigkeit vor dem Urheber der fesselnden Zauberwirkungen, Verschmelzung und Steigerung der Gaben und Kräfte, mit denen die Natur das Thier ausgestattet hat, Affect im verklärenden und verschönernden Lichte, welches der beherrschende Verjüngungstrieb ausströmt – ein solches Bild wunderbarer Umwandlung stellt sich dem Auge dar. Und diese Bändigung unter eine Macht, dieser Sieg einer gleichsam zweiten Natur im Thiere, diese Bemühungen, zu gefallen und diese Huldigungen – sind sie nicht Zeugen eines unleugbaren Kampflebens im Innern? Selbst die Stimme wird dem mächtigsten aller Triebe unterthan. Vom Schrei des Brunfthirsches hallen Waldesschlucht und Felsthal wieder, und gilt derselbe auch unzähligemal in bebender Eifersucht dem tödtlich gehaßten Nebenbuhler, wir erkennen darin nicht minder den Ausbruch einer treibenden Empfindung überhaupt, die sich in Jauchzen, klinge es auch noch so rauh und das musikalische Ohr beleidigend, Luft [589] macht und der Welt verkündigt, daß sie das Individuum beherrscht. Der Gesang des Vogels ist die schönste Blüthe dieses Triebes. Er bildet das Stimmorgan aus, giebt ihm die Geschmeidigkeit, die Fülle, die Kraft, den Zauber, die Seele. Kreisend unter der Sonne, im blauen Aether, vermag selbst der Raubvogel schönere Töne hervorzubringen, wenn er um des Weibchens Gunst wirbt. Raben und Sperlinge werden zur Minnezeit Sänger, wenn auch nur mit dem allerbeschränktesten Repertoire. Das Meckern der Becassine, das Balzen der Schnepfe, des Auer- und Birkhahns hat keinen anderen bewegenden Grund.

Ja, diese Umwandlung ist schon ein Kampf, unter welchem das Thier mit sich selbst ringt und dem Gegenstand seiner Hingabe Sinnen und Streben weiht; das Menschlich-verwandte tritt hier oft drastisch zu Tage. Zeigt sich der liebeberauschte Jüngling der Erwählten gegenüber in der vortheilhaftesten Stellung und Bewegung, so kann er in der Luft sein Ebenbild schauen an den schönsten Schwenkungen des Falken, am wohligen Schweben der Waldtaube oder der Staarmännchen oder auf den Zweigen an den schäkernden Hähnen der prangenden Distelfinken. Welcher leidenschaftliche Tänzer könnte nicht im Birkhahn, wenn er sich im Balztanz schwingt, einen Rivalen erblicken, der sich nur durch den Grad der Berauschtheit und dadurch von ihm unterscheidet, daß er die Musik zu seinem Tanze selbst vorträgt?

Gegenüber dem Nebenbuhler aber wird der Kampf um den Gegenstand des Begehrens ein erbitterter und folgenschwerer. Die Händel der Füchse, Marder, Iltise und Katzen, so hartnäckig sie erscheinen, verlaufen doch noch unter geringern Verletzungen. Balgfetzen fliegen davon, wie die Federn bei den Kämpfen der Wald- und Feldhühner; Schmarren trägt der Besiegte davon, und ein Niederrollen der in einander festgebissenen Marder vom Dache bis in die Tiefe schadet den muskelstarken Zählebigen auch nicht. Ernster und gefährlicher sind dagegen die Kämpfe der Brunfthirsche. Bei Ungleichheit der Stärke und Wehrhaftigkeit genügt oft schon die drohende Haltung des mächtigen Führers des Rudels. Ebenbürtige Kämpfer aber verletzen einander schwer; nicht selten wird der Besiegte durchbohrt oder von dem Rande einer Felswand hinabgestürzt; bisweilen verenden Beide in Folge der Verschlingung ihrer Geweih-Enden. Aber mögen wir Kampfscenen unter reißenden Thieren oder unter den jagdbaren unserer Umgebung beobachten, im Urwalde wie im Walde der Cultur, in der Wüste und Steppe wie auf der angebauten Flur, überall erliegt der Schwächere dem Stärkern, vorausgesetzt, daß der Unterschied der Kraft nicht ein verschwindender ist; sonst kann von einem andern Umstande erfahrungsmäßig die Entscheidung abhängen, nämlich von einem gewissen Bewußtsein – ich darf nicht sagen: des Rechts, ich will sagen: des Besitzstandes und Daheimseins, einem Gefühle, welches unstreitig auch das Thier ermuthigt und z. B. bei Hunden den ergötzlichen Anblick gewährt, daß ein winziger Dächsel, Pinscher oder Pommer den stärksten und händelsüchtigsten Metzger- oder Schäferhund zur Flucht aus dem Besitzthum nöthigt. Sonst geht allerdings auf diesem Kampfgebiete Gewalt und Stärke vor Recht. Im Harem der Hennen herrscht in Wald und Hof der gewaltigste der Hähne. Die tapfersten Ritter unter den Finken sind die glücklichsten Werber um die Edelfrauen; der in die Flucht geschlagene Kämpe muß sehen, ob er anderswo sein Ziel erreicht. Unter den Vögeln irren allsommerlich viele Junggesellen umher; sie finden keine überzähligen Weibchen; die glücklichen Nebenbuhler haben sie zurückgewiesen, und wenn einmal die Einehen geschlossen sind, dann löst auch der fremde Stärkere nicht mehr das Band.

Ein harter Kampf entwickelt sich zugleich um das Wohnungsgebiet, um die Stätte, wo die Nachkommenschaft gepflegt und erzogen werden soll, um geeignetes Versteck oder um Höhle, Bau und Nest. Das ist vorzugsweise der Fall unter den Vögeln, zunächst unter gleichartigen, dann aber auch unter verschiedenartigen Paaren. Da hat wiederum die Gewalt ihr Feld des Angriffs und der Abwehr, aber auch die List ihre erfinderischen Mittel und Wege. Da zerfetzt und zerfleischt das alte Storchpaar im Kampfe um den Besitz des Nestes den einen und andern seiner eigenen Söhne und Töchter, für die auch nicht der leiseste Zug verwandtschaftlicher Gefühle sich mehr regt und in deren beiderseitigem Verhältnisse von keiner Anerkennung und keinem Bewußtsein der Eltern- oder Kindschaft noch die Rede sein kann.

Da zankt sich Bruder mit Bruder, Vater mit Sohn und Enkel, Vetter mit Vetter; ganze Generationen verfolgen, verdrängen und befehden einander, ledig aller Rücksicht, geleitet von selbstischer Eifersucht und neidischer Bosheit. Da wartet der hinterlistige Sperling, bis die Schwalbe ihr Nest an die Wand gemauert hat; dann schlüpft er hinter ihr durch das Flugloch ein und ängstet und beißt sie und läßt die Schreiende schließlich, um ihr das Wiederkommen zu verleiden, an einem festgehaltenen Fuße eine Zeitlang zappeln. Da kommt der Mauersegler zum Staarenkasten, in welchem ein Sperlingspaar nackte Pfleglinge birgt, und wirft diese hinaus, um sich selbst dort wohnlich einzurichten. Da gönnt der Staar dem frühnistenden Edelfinkenweibchen nicht den sorgfältig gefilzten Kunstbau und zerzaust die Stoffe, um sie in seine Höhle zu tragen. Der rothrückige Würger will die harmlosen Sänger um sich her nicht dulden; Rothschwanz und Fliegenfänger, Meise und Kleiber, Ammer und Hänfling, Weidenlaubvogel und Grasmücke, Sperber und Krähe – sie alle halten wenigstens eine Zeitlang feindliche Nachbarschaft, bis sie, mit ihrem eigenen Hauswesen eingehender beschäftigt, sich vertragen lernen und schließlich, unbekümmert um ihre gegenseitigen Interessen, neben und über einander sich ansiedeln.

Mitten in diese Raufhändel und in das laute Gezänke fährt zuweilen der Schreckton eines Vogels, der den dahersausenden Räuber in der Luft erblickt hat, und wie mit einem Schlage wird es still, und rasende Flucht, starres Niederducken, scheinbare Lähmung der Glieder sind die charakteristischen Aeußerungen. Und merkwürdig! Hier geht ein Warnungstrieb durch die hülflose Vogelwelt, dessen Signalton allen Familien, Arten und Sippen verständlich und für den jegliches Ohr auf das Feinste geschärft ist.

Hat die Pflege der Familie unter heimlicher Sorgfalt und Mühewaltung begonnen, säugt die Mutter ihre Kleinen oder trägt sie ihnen unter hundert Wagnissen Nahrung zu, sitzt der Vogel über Eiern oder Jungen, so entspinnt sich ein neuer Kampf, der Kampf um Erhaltung der Nachkommenschaft.

Nicht blos wir Menschen, auch die Thiere haben ihre Nahrungssorgen, ja, und gerade die Vögel, von denen es heißt: „sie sammeln nicht in die Scheunen, und euer himmlischer Vater ernähret sie doch“, müssen den bittern Kampf um Dasein und Selbsterhaltung kämpfen. Oder sehet euch doch einmal die kleinen Zaunkönige an, denen das Kukuksweibchen ein Ei mit dem Schnabel durch das enge Flugloch des kugeligen Moosnestes eingeschmuggelt hat! Der freßgierige Adoptivsohn, den das Zaunkönigweibchen treulich ausgebrütet und dem es mit dem Gatten Tag ein Tag aus Kerbthiernahrung zuträgt, müht sich über die Kräfte ab, und solche Arbeit und Sorge bereitet eine sichtliche Verkümmerung der sonst so rüstigen Vögelchen und reichlichen Ausfall der Federn sowie Erbleichen des noch übrigen Gefieders. Das ist der Kampf der Ernährungs- und Verpflegungssorge. Schauet hin nach dem alten Vöglein, das unter Gewitterregen und Hagelschlag unwandelbar seine Flügel über die gefährdete Brut deckt und lieber selbst von der Schloße sich tödten läßt, als daß es weichen möchte von den zarten Nestlingen – das ist der Kampf der Aufopferung gegen die Elemente. Dort naht das schleichende Raubthier dem Volke der flaumbedeckten Rebhühner. Mit täuschender Verstellungskunst spielt die angstvoll besorgte Henne die Rolle der Flügellahmen und lenkt flatternd den getäuschten Feind von den sich versteckenden Kleinen ab. Hier setzt sich der zarte Singvogel zum Schutze der Brut dem sonst mit überwältigender Angst geflohenen Raubvogel zur Wehr, nicht selten selbst dadurch dem Schlage der scharfen Fänge verfallend. Und hier zerschlägt der Habicht dem bösen Buben, welcher mit den geraubten Jungen am Baume niedersteigt, das Gesicht, daß er zeitlebens daran denkt; dort wieder sieht das erfahrene Krähenmännchen den Jäger dem Horste des brütenden Weibchens sich nahen; eilend stößt es nieder und zwingt die Gattin gewaltsam mit Schnabelhieben, der Gefahr zu entrinnen.

Aehnliche Gefahren veranlassen den Kampf im Familienleben der Säugethiere. Wie die Waldvögel ihre Eier und nackten Jungen vor den mordlustigen Nagezähnen und dem lüsternen Gaumen des Eichhorns zu hüten haben, so muß dieses die eigenen Kinder bewahren und verbergen vor den auswitternden Sinnen des Edelmarders, seines Todfeindes. Das fiepende Rehkälbchen verräth sich dem Fuchse, den der Kampf um

[590] die Erhaltung des Gehecks zum Angriffe auf diesen theuren Sprößling des Mutterrehs anspornt und seine Erfindungsgabe in den Künsten der Ueberlistung auf die Höhe der möglichsten Befähigung stellt. Der Kampf der Abwehr aber zeigt sich bei dem Reh nicht minder bewunderungswürdig. Der mütterliche Trieb giebt ungewöhnlichen Muth, spannt die Kräfte und Bewegungsmuskeln, setzt die prügelnden Vorderläufe in wirbelnde Bewegung. Aehnlich wehrt die von Natur feige Hasenmutter dem eindringenden Kolkraben zum Schutze des entdeckte „Satzes“. Denselben Kampf kämpfen Maulwurf und Spitzmaus, Ratte und Hamster in der unterirdischen Wohnung und um dieselbe sowie um die Nachkommenschaft – denselben Kampf, den die Bewohner der Bäume und der Erdoberfläche kämpfen. Das nächtliche Schleichen der Löwin in Wüste und Urwald, ihre Sorge um Schutz und Schirm der Jungen vor dem schonungslosen eigenen Vater derselben, ihre nächtlichen Raubzüge und ihre tägliche Treue, mit der sie das Versteck und Lager mit den Schützlingen theilt – ja, das ist derselbe Kampf wie das unablässige Ab- und Zufliegen des Finkenpaares beim Neste und das verzweiflungsvolle Schreien und Umflattern, womit es den Räuber seiner heißgeliebten Brut verfolgt.

Es offenbart sich in den mannigfaltigen Kämpfen innerhalb des Familienlebens der Thiere gar viel Beherzigenswerthes, Geist und Gemüth des Naturfreundes Fesselndes. Bald leuchten uns die Blitze der unverkennbarsten Intelligenz von den Bahnen der Klugheit und listigen Unternehmungen der Thiere; bald werden Saiten des Gemüthslebens, rührender Empfindungen angeschlagen; bald besiegelt eine That todesverachtender Hingebung eine Treue und Anhänglichkeit, die nur darum kein Vorbild für den Menschen sein kann, weil in kurzer Zeit der Trauer die Wunde verharscht, da das Thier wie der Mensch im frühen Kindheitsalter ein Tageskind ist, das heißt der Gegenwart lebt und der Reflexion entbehrt.

Mögen wir immerhin in dem Idealismus der Liebe unseres Strebens Ziel erblicken, nie dürfen wir vergessen, daß auch die menschliche Liebe aus dem Boden des realen Lebens, aus der ununterbrochenen Folge der Kämpfe um Erhaltung dessen, was uns das Theuerste ist, ihre Nahrung und Thatkraft zieht. Auch wir sind dem allmächtigen Naturtrieb unterthan, nur daß wir uns dessen klarer bewußt sind, als das Thier, und das Geistesvermögen unter den erziehenden Einflüssen der Cultur zum vernünftigen Regulator berufen ist. Auch wir formen uns nach Sitte und Gewohnheit, wie nach den Banden des Blutes. Wenn die sittliche Entrüstung und das tiefgekränkte Ehrgefühl den Einzelnen oder ein Volk zur Tilgung oder Abwehr der Schmach antreiben, so ist dies eine That, die den Menschen hoch über das Thier stellt, wiewohl ich manchem im Umgang mit Menschen erzogenen Thiere ein gewisses Ehrgefühl nicht absprechen kann.

Wenn aber der Vater oder gar die ohnmächtige Mutter dem Kinde rasch in die schäumende Wassertiefe oder in die Flammen nachspringt, so folgen Beide dem überwältigenden Naturtriebe, und ich möchte mir keine Entscheidung darüber erlauben, ob jene oder diese That erhabener und bewunderungswürdiger sei. Der Kampf dehnt sich aber über das engere Familienleben der Thiere hinaus und ist jedem einzelnen Individuum wie ganzen Gesellschaften verordnet, und auch hier ist er ein innerer und äußerer. Der vom Aste herab dem Wilde auf dem Wechsel auflauernde Luchs findet wohl vermöge seiner ihn dazu anleitenden Naturanlage befriedigendes Behagen im Geheimniß des Hinterhaltes, und die Geduld ist ihm unstreitig angeboren, aber wenn er seine kochende Mordlust, seine blutlechzende Zunge bändigt und in regungsloser Entsagung das ausersehene Opfer unangefochten ziehen läßt, weil ihm der Sprung aus der Höhe in den Nacken desselben zu weit und unsicher dünkt, so ist dies ein glänzender Sieg der Ueberlegung über den heißen Naturtrieb, ein Resultat der Erfahrung. Junge unerfahrene Kätzchen sehen wir hundertmal zur unrechten Zeit den Sprung nach Vogel und Maus unternehmen, aber die alte Katze liegt ausdauernd auf der Lauer und beherrscht sich bis zum Eintritt des günstigen Augenblicks, während die Glieder vor Aufregung zittern und die Windungen des vom Körper gedeckten Schwanzes die gefesselte Leidenschaft verrathen.

Das Zusammenschaaren der Kraniche, Wildgänse, Wildenten, Trappen, Schwäne, Störche, Krähen und Staare, Finken, Zeisige, Ammer und Hänflinge zur Herbstzeit geschieht unter Anweisung des Naturtriebs, der unverkennbar dem Kampfe gegen die auf dem Zug und der Wanderschaft oder beim Ueberwintern in der Heimath entgegenstehenden Hindernisse zu Hülfe kommt, aber die Erfahrung bildet, und die Weisheit ist auch hier bei den Alten zu suchen, welche die Führerschaft übernehmen und eine große Vielseitigkeit in allen Unternehmungen bekunden.

Jugend und Mangel an Erfahrung lassen das junge Huhn auf dem Hofe in jedem verdächtig scheinenden Punkt in der Luft den Habicht erkennen; das Auge der alten Henne prüft mit weit größerer Sicherheit, und ihr beruhigendes Benehmen corrigirt den Fehler. Naturtrieb und Ueberlegung sind im Kampf des Thieres oft innig verbunden, so daß die Grenze zwischen beiden nicht mit Sicherheit festzustellen ist. Die Natur weist die Stockente an, vor dem Habicht oder Wanderfalken im Wasser Zuflucht zu suchen, aber ihr Entschluß, nahe dem Fluß, der ein besserer Schutz für sie wäre, den sie aber nicht mehr erreichen zu können glaubt, vor dem dicht hinter ihr hereilenden Räuber sich schnurstracks in eine Pfütze zu stürzen, giebt Zeugniß von der zu Hülfe kommenden Ueberlegung. Die Wagnisse einer großen Krähenschaar sogar dem Wolfe gegenüber, der den schweren Raub mit Anstrengung nach dem Walde schleppt, und ihr Sieg über ihn, den ihren Schnabelhieben Weichenden, ist neben dem bewegenden Naturtrieb dem wohlbewußten Gefühle zuzuschreiben: „vereinte Kraft macht stark.“ Der Kolkrabe und unser Fuchs sind gewiß keine gesellig lebenden Thiere; trotzdem verbinden sich im Winter mehrere Kolkraben und nicht selten zwei Füchse, um gemeinschaftlich ein Wild zu jagen. Die Hindernisse und Schwierigkeiten, die sich ihrem Begehren entgegenstellen, veranlassen sie gegen den Trieb der Isolirung zum gemeinschaftlichen Kampf um einen Preis, mit dessen Eroberung sogleich Mißgunst und selbstische Gier die Verbündeten trennt und einen neuen Kampf, den gehässigen Zweikampf, in Scene setzt.

Die Elster flieht den Jäger, wenn dieser in großer Entfernung auf sie zu kommt, während sie sorglos dem Bauer hinter dem Pfluge folgt. Dort überwindet die Erfahrung den Ernährungstrieb; hier gestattet sie ihm freien Lauf. Einer unserer Hunde, bei dem sich im Umgange mit dem Menschen nicht bloß die Ueberlegung, sondern auch das Gewissen zu hohem Grade herausgebildet hatte, rührte den Braten vor seiner Nase nicht an, wie verführerisch und lustweckend ihm auch der Duft in die Nüstern zog. Beschämt ein solcher zum Siege geführter Kampf der Selbstbeherrschung nicht in unzähligen Fällen den Menschen? Und doch wollen so Viele die Gabe des Seelenlebens als ausschließliches menschliches Eigenthum für sich in Anspruch nehmen? Es giebt Kämpfe edelraciger Hunde, innerliche und äußerliche, die wahre Charakterkämpfe zu nennen sind und die ein rührend schönes Verhältniß zwischen dem Menschen und dem Hunde begründen. Und wenn die unmenschliche Parforcedressur der Hunde mehr und mehr verschwindet und die Erziehung bei fester Hand doch in Milde und vertrauenweckender Freundlichkeit mit ihren Eindrücken zur Zeit der bildungsfähigen Jugend beginnt und stufenweise vom Leichten zum Schwierigen vorschreitet, so hat man erkannt, daß dieser Bildungsgang in gleicher Weise Individualisirung und wahre Humanität erfordert, wie derjenige in unseren Familien und Schulen.

Lange genug hat man das Thier mißhandelt und nur als Geschöpf im Dienste der Menschen betrachtet, dem keine Ansprüche auf gefühlvolle Rücksicht und freudvolles Dasein zuzugestehen seien, und sogar das Wort aus der naiven Ueberlieferung, welche uns die Darstellung paradiesischer Anfangszustände schildert: „herrschet über die Thiere!“ mag, von der Seite der Gewaltsamkeit erfaßt, nicht wenig dazu beigetragen haben, schon dem ungezogensten Schulbuben Stock und Peitsche in die Hand zu geben. Daß man jetzt einer menschenwürdigen Auffassung des Verhältnisses zwischen Mensch und Thier sich immer mehr zugänglich zeigt, gereicht uns selbst zur größte Ehre und ist ein Zeugniß, daß wir weniger thierisch sind, als ehedem. Wir wollen den harten Kampf des Thieres nicht noch härter machen, sondern ihn möglichst erleichtern; wir wollen das erniedrigende Thierische in der Menschheit niederkämpfen und das erhebende Menschliche in der Thierwelt zur Anerkennung erheben.

Karl Müller.