Textdaten
<<< >>>
Autor: Fritz Stier-Somlo
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Justiz und Verwaltung
Untertitel:
aus: Handbuch der Politik Erster Band: Die Grundlagen der Politik, Fünftes Hauptstück: Die Rechtsprechung, Abschnitt 23, S. 313−318
Herausgeber: Paul Laban, Adolf Wach, Adolf Wagner, Georg Jellinek, Karl Lamprecht, Franz von Liszt, Georg von Schanz, Fritz Berolzheimer
Auflage:
Entstehungsdatum: {{{ENTSTEHUNGSJAHR}}}
Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Dr. Walther Rothschild
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Berlin und Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
korrigiert
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite


[313]
Fünftes Hauptstück.


Die Rechtsprechung.




23. Abschnitt.


a) Justiz und Verwaltung.
Von
Von Hochschulprofessor Dr. Fritz Stier-Somlo, Cöln.


Literatur:

Bearbeiten
O. v. Sarwey, Allgemeines Verwaltungsrecht 1887 S. 14 ff.
Anschütz, Justiz und Verwaltung. Systematische Rechtswissenschaft von Stammler, Sohm u. a. (Kultur der Gegenwart Teil II Abt. VITI) 1906 S. 336–386.
Stier-Somlo, Das freie Ermessen in Rechtsprechung und Verwaltung 1908; v. Laun, Das freie Ermessen und seine Grenzen 1910, dazu W. Jellinek, Arch. f. off. R., Bd. 27 S. 462.
Stier-Somlo, Rechtsstaat, Verwaltung und Eigentum 1911.
Oertmann, Die staatsbürgerliche Freiheit und das freie Ermessen der Behörden 1912.
Friedrich Stein, Grenzen und Beziehungen zwischen Justiz und Verwaltung 1912.
Heck, Das Problem der Rechtsgewinnung 1912.

I. Begriff der Gesetzgebung, Justiz. Verwaltung. – Teilung der Gewalten. – Gegenseitige Bedingtheit. Die Grundfragen des gegenseitigen Verhältnisses und der notwendigen Abgrenzung von Justiz und Verwaltung gehen auf den Lebenskern moderner konstitutioneller Staatsgestaltung zurück. Zwar hat schon Locke für die von uns als einheitlich und einzigartig anzuerkennende Staatsgewalt Einteilungsmassstäbe gewinnen wollen, indem er die gesetzgebende, rechtsprechende und föderative Funktion unterschied. Aber erst durch Montesquieu ist die Unverlierbarkeit der Idee von der Trennung der Gewalten gesichert und auch die Erkenntnis ihrer besonderen organisatorischen und funktionellen Bedeutung in das Bewusstsein der politisch Denkenden eingedrungen. Gesetzgebung oder Legislative besteht in dem Erlasse von Rechtsnormen durch die verfassungsmässigen Organe der Staatsgewalt. Sie sind allgemein und abstrakt, d. h. für alle, die es angeht, gleichmässig anzuwenden. Die Justiz im Sinne von Rechtsprechung besteht in der Handhabung der von der Gesetzgebung dargebotenen Rechtssätze und anderen Vorschriften. Justiz im Sinne der Aufrechterhaltung unserer Rechtsordnung, d. h. der Ahndung der Rechtsverletzung und Gewährung des Rechtsschutzes durch Zivil-, Straf- und Verwaltungsgerichte ist darüber hinaus ein weiterer, mit dem ersten nicht zu verwechselnder Begriff. Verwaltung ist die Tätigkeit des Staates, die sich in der zweckmässigen Anordnung der für das Gemeinwohl erforderlichen Massnahmen, in der Sorge für die Volks- und Staatsinteressen ausserhalb der Gesetzgebung und Justiz erschöpft. Sie regelt im wesentlichen konkrete und individuelle Angelegenheiten im Gegensatz zur Gesetzgebung, die das Recht allgemein und ohne Ansehen des besonderen Falles setzt. Die Abscheidung der Verwaltung [314] von Gesetzgebung und Justiz erfolgt aber auch, wie klar ersichtlich, nach einem rein äusserlicher Momente, nämlich der Nichtzugehörigkeit zu diesen beiden letzteren Staatsfunktionen. Damit ist ein Element der Unsicherheit gegeben, das erst die Beziehung zwischen Verwaltung und Justiz zu einem geistigen Problem gestaltet. Denn würde eine reinliche Grenzscheidung zwischen ihnen und allen rechtlichen und staatspolitischen Verhältnissen vorhanden und durchführbar sein, so wäre eine Einteilungsart der Staatstätigkeiten gewonnen, die systematische und technische Bedeutung besässe, nicht aber bis zu den letzten Tiefen staatsrechtlicher Lebensgestaltung hinabreichte.

Dass dem so ist, zeigt die Bedeutung der Zuweisung der staatlichen Funktionen an verschiedene Organe. Nach der französischen Theorie des 18. Jahrhunderts (Montesquieu, Rousseau) dürfen jene drei Funktionen nicht in der Hand eines einzelnen Menschen, insbesondere des Monarchen sein, da hierdurch naturnotwendig die Tyrannei begründet würde. Wer neben der Verwaltung die Rechtspflege und die Gesetzgebung in seiner Person vereinigt, vermag das Recht in dem einzelnen Anwendungsfalle nach seinem Willen zu beugen, dies sogar noch mit einem Schein der Gerechtigkeit, da eine Berufung auf das Gesetz erfolgt, freilich auf ein solches, dass er stets umändern und aufheben kann. So sollen denn die Funktionen der Staatsgewalt nach der konstitutionellen Theorie geteilt sein: die Gesetzgebung soll dem Volke zustehen, die Gerichtsbarkeit unabhängigen Gerichten, lediglich die Verwaltung bleibt in der Hand des Monarchen oder obersten Staatschefs. Durchgeführt ist aber in den modernen Kulturstaaten nur das Zweite, die Unabhängigkeit der Gerichte. Dagegen steht die Gesetzgebung nicht allein dem Volke zu, wird vielmehr am häufigsten ausgeübt durch das Parlament im Zusammenwirken mit einem anderen Staatsorgan, insbesondere dem Monarchen. Die Verwaltung ist zwar nominell bei dem Staatshaupt verblieben, doch hat seine Machtbefugnis eine erhebliche Einschränkung dadurch erfahren, dass die Verwaltungsakte unter der Verantwortlichkeit der Minister vorgenommen werden und dass die Freiheit der monarchischen Verwaltungstätigkeit erheblich begrenzt erscheint durch die Organisationsgesetze und spezielle Verwaltungsnormen. Denn jene lassen ein Abweichen von ihren Vorschriften nicht zu, diese legen der monarchischen Gewalt positive Schranken auf. Auch zeigt sich, dass die Idee der Trennung der Gewalten zwar verbunden erschien mit der ihrer Unabhängigkeit und Gleichwertigkeit, dass aber hier grundlegende Irrtümer vorliegen.

Denn Verwaltung und Justiz sind der Gesetzgebung nicht gleichgestellt, ihr vielmehr untergeordnet. Zwar kann und muss die Justiz die Einwirkung einer anderen Gewalt von sich abwehren, und es sind für sie grundsätzlich nur Rechtsnormen massgebend, aber diese stammen in der Hauptsache aus der Gesetzgebung – ein Teil kann allerdings auch aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen entnommen werden. Für die Verwaltung sind sowohl Rechtsgrundsätze wie Zweckmässigkeitsrücksichten massgebend. Hier klingt die Lehre vom Rechtsstaat an (siehe unten II). Es hält aber auch die Auffassung von der Selbständigkeit und Unbeeinflussbarkeit der Gewalten kritischer Prüfung nicht stand. Die schroff durchgeführte Teilung der Gewalten müsste die Einheit des Staates vernichten, da sie einzelne Ausflüsse der einheitlichen Staatsgewalt zu selbständigen und unabhängigen Mächten erhöbe. Unausbleiblich wäre, dass die Gewalten gegeneinander arbeiteten, sich rieben und zerrieben und somit anarchische Zustände herbeiführen würden. So müssen denn die Funktionen vielfach ineinandergreifen und sich gegenseitig ergänzen. Vom politischen Standpunkte gesehen ist sogar die Gesetzgebung von der Rechtsprechung nicht unabhängig. Denn sie muss in den Ergebnissen der Rechtsprechung vielfach einen Prüfstein für die Richtigkeit und Zweckmässigkeit der Normen sehen. In Wirklichkeit haben die Veränderungen der Gesetze häufig ihren Ursprung in der Lage, die durch die Judikatur geschaffen worden ist, wenn diese, die letzte Folgerung aus den gegebenen Rechtsnormen ziehend, die Fehler des Gesetzes aufdeckt oder seine Unzulänglichkeit, Überlebtheit, Einseitigkeit usw. dartut. Dass Rechtsprechung und Verwaltung sich von der Gesetzgebung nicht unabhängig fühlen können, liegt in dem Wesen dieser, die für die Wirksamkeit der beiden anderen Staatsfunktionen im Rechtsstaat die massgebende Grundlage, freilich in einem besonderen Sinne (vergl. unten II), abzugeben hat. Aber noch in dem besonderen Verstande ist die Verwaltung von der Gesetzgebung untrennbar, der hinweist auf die Formel der „gesetzmässigen Verwaltung“, von der alsbald die Rede sein wird. Die Notwendigkeit einer Beachtung der Judikatur für die praktische Verwaltung leuchtet ebenfalls ohne weiteres [315] ein. Wenn und insoweit diese einer gerichtlichen Nachprüfung unterworfen ist, dann muss sie die ergehenden richterlichen Sprüche für sich gelten lassen. Dies zwar zunächst nur in dem konkreten Streitfalle; aber die Wirkung der, insbesondere oberstrichterlichen, Rechtssprüche geht darüber hinaus. Eine Verwaltung, die mit den ständig festgehaltenen Rechtsgrundsätzen der höchsten Verwaltungsgerichtshöfe in Widerspruch steht, ist auf die Dauer unmöglich.

II. Die Aufgaben der Justiz und Verwaltung. Die Aufgabe der Justiz in materiellem Sinne (die im formellen Sinne ist die der ordentlichen Gerichte schlechthin, umfasst also u. a. auch die freiwillige Gerichtsbarkeit) besteht nach der herrschenden Auffassung darin, mittels des Rechtsspruches die Rechtsordnung aufrecht zu erhalten, Recht und Gerechtigkeit durch strenge Bindung an Rechtssätze zu verwirklichen. Ihr Mittel ist, aus festgestellten tatsächlichen Verhältnissen auf der Grundlage des Rechts eine logische Folgerung zu ziehen. Dagegen hat, immer nach der überwiegenden Meinung, die Verwaltung Staatsaufgaben nach Massgabe der gegebenen Verhältnisse durchzuführen, eine praktische Tätigkeit in Verfolgung der Kulturzwecke auszuüben, nach Zweckmässigkeit, Staatsnotwendigkeit, Angemessenheit, wohl nicht ausserhalb der Rechtsordnung, aber doch nur derart, dass diese lediglich „Mittel zum Zweck“ wird. Wo objektives Recht fehlt, tritt ein mehr oder minder freies Ermessen in die Lücke ein.

Diese Grundvorstellungen lassen sich in ihrer einseitigen Formulierung nicht mehr halten. Denn auf der einen Seite strebt die Justiz zu immer grösseren Freiheiten, die sich in der Richtung des freien Ermessens bewegen, auf der anderen Seite tritt eine immer stärkere Bindung der Verwaltung durch das Gesetz im Sinne jeder Rechtsnorm ein, wiewohl allerdings auch hier für das Walten ohne engste Rechtsbindung reichlich Gelegenheit bleibt. In jener ersteren Beziehung mag hier nur generell auf die sogenannte freie Rechtsschule verwiesen werden. Mag man ihre Tendenzen und Ziele, die sich übrigens weidlich abschatten, als zu weitgehend, als bedenklich oder gefährlich ansehen: jedenfalls bringt sie den alten und immer wieder neuen Gesichtspunkt zum scharfen Ausdruck, dass die Justiz sich in der schablonenhaften Anwendung des gegebenen Rechts schon deshalb nicht voll auswirken kann, weil dieses auf die vielen neu auftauchenden Lebensverhältnisse nicht anwendbar ist oder stark lückenhaft erscheint. Somit tritt der Gedanke der rechtsschöpferischen Tätigkeit des Richters in den Vordergrund. Die Zulässigkeit des richterlichen freien Ermessens zeigen sogar Bestimmungen des positiven Rechts. Ein Hinweis auf das BGB. wird genügen, wo z. B. die Entscheidung abgestellt wird auf die „Umstände des Falles“ (§§ 151, 328, 612, 638), die „Würdigung des Falles“ (§ 119), auf „Treu und Glauben“ (§§ 157, 242). Hingewiesen sei noch auf die Verkehrssitte (§ 151 Abs. 2, 157, 242), auf die vorsätzliche gegen die guten Sitten verstossende Schadenszufügung und das Schikaneverbot (§§ 826, 226). Von der „Angemessenheit“ ist 45 mal in dem Gesetzbuch die Rede. Das freie Ermessen kann aber dem Richter ferner nicht versagt werden, wenn er im Gesetz eine Reihe von Bestimmungen vorfindet, denen er den konkreten Inhalt nach Lage der Umstände bei der Rechtsanwendung geben will, sodann wenn Zweifel darüber entsteht, welche Normen der Rechtsordnung anzuwenden sind. Nicht minder hat sein Ermessen platzzugreifen hinsichtlich der Konkretisierung der Rechtsfolge. Somit ist also das nach der herrschenden Lehre der Justiz eigentümliche Moment der strengen Bindung an die Rechtssätze durchbrochen, wenn hier der Gegensatz zur Verwaltung herausgestellt werden soll. Diese Bindung liegt allerdings vor, aber sie ist eingeschlossen in dem von mir als Rechtgemässheit bezeichneten Erfordernis (vergl. meine Abhandlung: „Das freie Ermessen in Rechtsprechung und Verwaltung“. Festschrift für Laband Bd. II S. 445–514). Eine diesem gemässe Entscheidung erfüllt die Aufgabe der Justiz. Der Gedanke einer „gerechten“ Entscheidung schliesst dagegen eine Fülle subjektiver Momente ein, die zur objektiven Erfüllung dieser Staatsfunktion nicht ausreichen können. Die Bindung des Richters an das Gesetz ist eine unantastbare Regel; jede aus „sozialem Gefühl“, „Rechtsgefühl“ usw. entnommene Entscheidung ist eine aus dem Gemüt und nicht aus dem Recht geschöpfte. Aber wo das Gesetz versagt, tritt das freie Ermessen bei der rechtsprechenden Tätigkeit in Zivil-, Straf- und Verwaltungsgerichtssachen in sein Recht. Es ist aber jedesmal nur ein Mittel zur Herstellung einer rechtgemässen Entscheidung, niemals eine Handhabe, den Richter über den Gesetzgeber zu stellen, neue Rechtsnormen zu schaffen, die nicht in der Richtung der bisherigen, bereits festgelegten liegen. Der Richter darf nicht Gesetzgebungspolitik treiben, er darf nicht über dem Gesetzgeber stehen. Sind die Gesetze unzweckmässig oder schädlich, so müssen [316] sie abgeändert oder beseitigt werden. So lange sie aber bestehen, muss sie der Richter anwenden, er darf nicht neues Recht gegenüber dem bestehenden setzen. Darüber, welche Mittel geeignet sind, zur Erfüllung des Erfordernisses der Rechtsgemässheit beizutragen, kann hier nicht gehandelt werden. Eines der wichtigsten ist aber die Erkenntnis der Grundlinien und Grundgedanken, die das gesamte Rechtssystem beherrschen, und die auch richtunggebend sind für die Entscheidung in den Fällen, in denen das Gesetz dem Wortlaute nach scheinbar versagt. Ein bemerkenswerter gesetzgeberischer Versuch, das Problem zu lösen, ist der des Schweizer Zivilgesetzbuchs, das mit dem Jahre 1912 in Kraft trat und in Art. 1 bestimmt: „Das Gesetz findet auf alle Rechtsfragen Anwendung, für die es nach Wortlaut oder Auslegung eine Bestimmung enthält. Kann dem Gesetze keine Vorschrift entnommen werden, so soll der Richter nach Gewohnheitsrecht und, wo ein solches fehlt, nach der Regel entscheiden, die er als Gesetzgeber aufstellen würde. Er folgt dabei bewährter Lehre und Überlieferung.“

Erweist sich solcher Art das übliche materielle Entscheidungsmerkmal der Verwaltung nicht mehr für diese allein kennzeichnend, da das freie Ermessen, die „Zweckmässigkeit“, „Angemessenheit“ auch den richterlichen Handlungen nicht zu fehlen braucht, so ist umgekehrt die rechtliche Bindung der Verwaltung in zahlreichen Beziehungen – nicht, wie man meint, in allen – wohl durchgeführt. Es handelt sich hier um das berühmte Erfordernis der „gesetzmässigen Verwaltung“. Hierbei ist ein Verweilen erforderlich.

Einen in der Wissenschaft allgemein anerkannten Begriff des Rechtsstaats haben wir nicht. Man hält sich mit Recht an die historische Entwicklung einer Anzahl grundlegender Errungenschaften des modernen Staatswesens, denkt an die Unabhängigkeit der Gerichte, an die Selbstverwaltung, an die Verwaltungsgerichtsbarkeit, unterscheidet im übrigen drei Stufen der rechtsstaatlichen Entwicklung. Die erste ist als Gegenpol der absolutistischen Staatsauffassung zu begreifen. Es handelt sich um die Reaktion gegen die bevormundende Staatsallmacht und die Rechtsauffassung vom Staate. Das ist die, wenigstens in Deutschland, ursprünglichste und allgemeinste Formel, die für den „Rechtsstaat“ ersonnen wurde (Pufendorf, Kant, Wilh. von Humboldt). Die Beschränkung des Staates lediglich auf die Rechtspflege, die Bestimmung seines Charakters als eines Rechtsschutzvereins und seine Kennzeichnung, dass das Verhältnis der öffentlichen Gewalt zum einzelnen durch das Recht geordnet sein müsse, darf als das Stich-Merkmal angesehen werden. Als die zweite Stufe des Rechtsstaats stellt sich der „konstitutionelle“ Staat dar, d. h. derjenige, in dem die Bildung des Staatswillens in Übereinstimmung des Monarchen mit den gesetzgebenden Körperschaften vor sich geht. So findet sich der Ausdruck „Rechts- und Verwaltungsstaat“ (Stahl, Rob. von Mohl). Auf der dritten Entwicklungsstufe spricht man von dem „modernen Rechtsstaate“, in dem die ganze Verwaltung unter dem Gesetze steht, an dieses gebunden ist. Dieser Grundsatz bedeutet eine erhebliche Einschränkung des freien Ermessens. Niemals darf, das ist der Sinn der „gesetzmässigen Verwaltung“, das freie Ermessen in Willkür ausarten, es muss stets rechtmässig sein, d. h. entweder durch Gesetz im Sinne einer jeden Rechtsnorm ausdrücklich zugelassen oder aber durch eine Rechtsnorm nicht gehindert sein, im übrigen aber dem Wesen der Verwaltung gemäss erlaubt erscheinen. Freilich wird man allgemein einsehen müssen – wovon wir noch weit entfernt sind – , dass dieser formale Begriff der „gesetzmässigen Verwaltung“ nicht ausreicht. Erstens schaltet man, indem man auf die Garantie der Gesetzmässigkeit das alleinige Gewicht legt, diejenigen Errungenschaften des modernen Staates aus der Begriffsbestimmung aus, ohne die doch der moderne Rechtsstaat nicht denkbar ist, wie die Unabhängigkeit der Rechtsprechung, den Konstitutionalismus, die Selbstverwaltung. Zweitens ist die Idee der „Gesetzmässigkeit der Verwaltung“ viel zu unbestimmt, weil sie die Frage offen lässt, was „Gesetzmässigkeit“ ist: die Verwaltung auf Grund eines formellen Gesetzes, einer allgemeinen Ermächtigung, eines aus dem Wesen der Verwaltung überhaupt folgenden Grundsatzes? Ist es nur das Erstere, dann würde man der Verwaltung schlechterdings unerfüllbare Aufgaben stellen, die mit einer solchen engen Bindung nicht auszukommen vermöchte. Ist es aber auch gesetzmässig, auf Grund einer Ermächtigung oder eines allgemeinen Grundsatzes zu handeln, dann ist der Rahmen der „Gesetzmässigkeit“ soweit gezogen, dass die strenge Formel sich verflüchtigt. Gleichwohl habe ich keinen Zweifel, dass unsere moderne Verwaltung nur auf dieser letzteren breiten Grundlage beruhen kann, dass sie also auch gesetzmässig bleibt, wenn sie sich auf eine allgemeine [317] Ermächtigung oder auf einen Grundsatz stützt, der aus dem Wesen der Verwaltung überhaupt folgt. Denn tatsächlich ist die politische Rechtsstaatsidee heutzutage nur insoweit verwirklicht, als dies durch positives Recht geschehen und zu belegen ist. Die Verwaltung ist im übrigen so frei wie aus ihrem Begriffe und dem Polizeibegriffe folgt, wenn auch natürlich mit den Einschränkungen, dass anstelle der Willkür ein mindestens pflichtmässiges Ermessen treten muss und dass eine Einschränkung der freien Initative in dem Masse besteht, als sie in Konsequenz des politischen Gedankens der Rechtsstaatsidee auch rechtlich ausdrücklich vorgesehen worden ist. (Vergl. meine Abhandlung: „Rechtsstaat, Verwaltung und Eigentum“. Eine kritische Auseinandersetzung und eine neue Lehre. 1911 S. 37–47). Nicht zuletzt spricht gegen die Gleichsetzung von Rechtsstaat mit einem Staate der gesetzmässigen Verwaltung, dass der Begriff nur als ein formeller, nicht als ein materieller aufgerichtet ist. Wenn der Zweck der ganzen Rechtsstaatsidee die grösstmögliche Sicherung der individuellen Sphäre gegenüber dem Staate, besonders gegenüber seinen Beamten, ist, so bietet ein nur formeller Begriff diese Garantie nicht in ausreichendem Masse. Denn diese rechtliche Grundlage eines „Gesetzes“ kann so ausserordentlich lax sein, dass alles weniger als ein Rechtsstaat dabei in die Erscheinung tritt. Das zeigt uns z. B. der § 6i des preussischen Gesetzes über die Polizeiverwaltung vom 11. März 1850, wonach zu den Gegenständen der polizeilichen Befugnis nicht nur gehört die grosse Summe derjenigen Angelegenheiten, die daselbst unter a bis h aufgezählt sind, sondern „alles andere, was im besonderen Interesse der Gemeinden und ihrer Angehörigen polizeilich geordnet werden muss“. Dieses „Gesetz“ würde schliesslich jede willkürliche Verwaltung zulassen, wenn nicht durch das preussische OVG. eine einengende Auslegung sich durchgesetzt hätte.

Betrachtet man, von diesen Ideengängen bestimmt, das materielle Abscheidungsmerkmal der Verwaltung gegenüber der Justiz, so wird man es nicht mehr in der Herrschaft des Gedankens von der Zweckmässigkeit, Staatsnotwendigkeit usw. allein und das justizielle Moment der Rechtsbildung bis zu weitgehendem Masse auch hier finden. Freilich nicht in einem ausschliesslichen Sinne, weil eben die Rechtsstaatsidee als politisches Prinzip noch nicht überall sich in Rechtsformen umgesetzt hat. Hierdurch löst sich auch der Widerspruch, der darin liegt, dass einerseits die Verwaltung im modernen Rechtsstaat unter der Rechtsordnung, also unter dem Gesetze steht, andererseits von dem Grundsatze des freien Ermessens im Gegensatz zur Justiz beherrscht sein soll. Nur wo das Gesetz nicht nur Mittel zum Zweck, sondern Schranke der Verwaltung ist, erscheint der Rechtsstaat in jenem Sinne durchgeführt; wo dies nicht der Fall ist, waltet zwar nicht Gesetzlosigkeit, es sind aber die Schranken des Ermessens weit hinausgezogen. Der Spielraum der Verwaltungstätigkeit ist ein grosser, für die meisten Fälle sind nur allgemeine Rechtsgrundsätze gegeben. Das materielle Unterscheidungsmerkmal zwischen Justiz und Verwaltung besteht lediglich in der Verschiedenheit des freien Ermessens, seines Rechtsgrundes, seiner Funktion, seines Endzieles. Das freie Ermessen ist bei der Rechtsprechung immer nur Ausnahme, dagegen bei der Verwaltung immanentes Prinzip. Die Lösung jenes Widerspruches liegt also darin, dass innerhalb der Rechtsschranken die Betätigungsmöglichkeit für die Verwaltung gross ist, und dass in sehr zahlreichen Fällen für sie nur allgemeine Rechtsgrundsätze bestehen, die die Grundlage der „Gesetzmässigkeit“ abgeben müssen.

III. Positivrechtliche Abscheidung der Lebenskreise von Rechtsprechung und Verwaltung. Besteht das materielle Merkmal für Rechtsprechung und Verwaltung in nicht mehr und nicht weniger als in der Art und der Bedeutung des freien Ermessens, so hat das formelle Merkmal praktisch um so grössere Bedeutung, soweit nämlich durch die jeweilige staatliche Gesetzgebung rein äusserlich gewisse Angelegenheiten der Justiz, andere der Verwaltung anheim gegeben sind. So sehr es sich hier auch um allgemeine Grundsätze handeln mag, die für alle Staaten mit annähernder Richtigkeit Bedeutung beanspruchen können, so ist doch nur die Beschränkung auf einen einzigen Staat geeignet, hier einen klaren Einblick zu gewähren. So ist die Beschränkung auf das preussisch-deutsche Recht zulässig und geboten. Die Trennung von Justiz und Verwaltung bedeutet hier die Beseitigung des Landesfürsten als ausübende Macht auf dem Gebiete der Justiz. Nicht mehr in seinem Kabinett werden die Prozesse erledigt, sondern durch unabhängige Gerichte. Nur in der Trägerschaft der Staatsgewalt durch den Landesherrn dokumentiert sich auch seine Befugnis, der Idee nach Inhaber der richterlichen Gewalt [318] zu sein. In seinem Namen wird daher Recht gesprochen. Schon seit 1749 findet bekanntlich diese Trennung von Justiz und Verwaltung in Preussen statt. Im Reiche haben die Gerichte ein historisch begreifliches Übergewicht über die Verwaltung durch die Bestimmung des Gerichtsverfassungsgesetzes § 17 Abs. 1 erlangt, wonach sie über die Zulässigkeit des Rechtsweges entscheiden. So hat die Verwaltung nicht mehr die Macht, eine Angelegenheit in ihre Kompetenz zu ziehen, wenn die Gerichte sie für sich in Anspruch genommen haben. Umgekehrt aber ist das Gericht nicht gebunden an die Entscheidung einer Verwaltungsbehörde, welche ihre eigene Zuständigkeit ausgesprochen hat. Das EG. zum Gerichtsverfassungsgesetz § 4 sieht aber die Möglichkeit vor, dass der Justiz auch Geschäfte der Justizverwaltung übertragen werden. Somit ist hier Justiz und Verwaltung schon miteinander vermengt worden. Auch haben die Gerichte, besonders auf dem Gebiete der freiwilligen Gerichtsbarkeit, Verwaltungsgeschäfte zu besorgen.

Umgekehrt sind die ordentlichen Gerichte nicht in allen Fällen zur Rechtsprechung berufen; denn nach § 13 des Gerichtsverfassungsgesetzes gehören alle bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten und Strafsachen nur insofern vor die ordentlichen Gerichte, als für sie nicht die Zuständigkeit von Verwaltungsbehörden oder von Verwaltungsgerichten begründet ist. Auch die Verwaltungsnormen des Strafgesetzbuchs in dem Abschnitte über die Übertretungen bilden hier ein wichtiges Beispiel.

Sodann ist aber dadurch, dass über Vorfragen die Zivilgerichte auch dann entscheiden können, wenn es sich um verwaltungsrechtliche Dinge handelt, eine weitere Durchbrechung des Grundsatzes von der Scheidung der Justiz und Verwaltung vorgesehen. Nicht minder ist auch den Verwaltungsbehörden und Verwaltungsgerichten die Möglichkeit gegeben, Vorfragen zivilrechtlicher Art zu entscheiden und somit eine Funktion auszuüben, die der Justiz im engeren Sinne zukommt. Die positiven und die negativen Kompetenzkonflikte und die zu ihrer Entscheidung bestehenden besonderen Gerichtshöfe zeigen an einem der wichtigsten Punkte an, dass hier die materielle Scheidungslinie zwischen Justiz und Verwaltung in keiner Weise geachtet wird. Die Bedürfnisse des staatlichen Lebens haben daher vielfach zu einer positivrechtlichen Regelung geführt, die der konstitutionellen Theorie von der Scheidung der Gewalten zu spotten scheint. Immerhin wird man als das Lebenselement der Verwaltung die Besorgung von Verwaltungsgeschäften und nicht die rechtsprechende Tätigkeit ansehen müssen, dagegen diese als die angeborene Aufgabe der Justiz erkennen. Somit sind die grossen Zusammenhänge und Gegensätze zwischen Justiz und Verwaltung nicht durch scharf abtrennende Linien, sondern im Bilde durch Fäden zu kennzeichnen, die von dem einen Teil zu dem anderen, von einem Gewebe in das andere herüber- und hinüberschiessen. Damit sind sie ein Spiegelbild der grossen innerlichen Schwierigkeiten und Verwicklungen, die das öffentlichrechtliche Leben unserer Zeit darbietet. Die gradlinigen, mit romanischem Formensinn und durchsichtiger Klarheit geschaffenen Grenzregulierungen erweisen sich je länger je mehr nur als Wegweiser und keineswegs immer in der Richtung, in der die grossen Namen des Montesquieu und Rousseau stehen.