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sie abgeändert oder beseitigt werden. So lange sie aber bestehen, muss sie der Richter anwenden, er darf nicht neues Recht gegenüber dem bestehenden setzen. Darüber, welche Mittel geeignet sind, zur Erfüllung des Erfordernisses der Rechtsgemässheit beizutragen, kann hier nicht gehandelt werden. Eines der wichtigsten ist aber die Erkenntnis der Grundlinien und Grundgedanken, die das gesamte Rechtssystem beherrschen, und die auch richtunggebend sind für die Entscheidung in den Fällen, in denen das Gesetz dem Wortlaute nach scheinbar versagt. Ein bemerkenswerter gesetzgeberischer Versuch, das Problem zu lösen, ist der des Schweizer Zivilgesetzbuchs, das mit dem Jahre 1912 in Kraft trat und in Art. 1 bestimmt: „Das Gesetz findet auf alle Rechtsfragen Anwendung, für die es nach Wortlaut oder Auslegung eine Bestimmung enthält. Kann dem Gesetze keine Vorschrift entnommen werden, so soll der Richter nach Gewohnheitsrecht und, wo ein solches fehlt, nach der Regel entscheiden, die er als Gesetzgeber aufstellen würde. Er folgt dabei bewährter Lehre und Überlieferung.“

Erweist sich solcher Art das übliche materielle Entscheidungsmerkmal der Verwaltung nicht mehr für diese allein kennzeichnend, da das freie Ermessen, die „Zweckmässigkeit“, „Angemessenheit“ auch den richterlichen Handlungen nicht zu fehlen braucht, so ist umgekehrt die rechtliche Bindung der Verwaltung in zahlreichen Beziehungen – nicht, wie man meint, in allen – wohl durchgeführt. Es handelt sich hier um das berühmte Erfordernis der „gesetzmässigen Verwaltung“. Hierbei ist ein Verweilen erforderlich.

Einen in der Wissenschaft allgemein anerkannten Begriff des Rechtsstaats haben wir nicht. Man hält sich mit Recht an die historische Entwicklung einer Anzahl grundlegender Errungenschaften des modernen Staatswesens, denkt an die Unabhängigkeit der Gerichte, an die Selbstverwaltung, an die Verwaltungsgerichtsbarkeit, unterscheidet im übrigen drei Stufen der rechtsstaatlichen Entwicklung. Die erste ist als Gegenpol der absolutistischen Staatsauffassung zu begreifen. Es handelt sich um die Reaktion gegen die bevormundende Staatsallmacht und die Rechtsauffassung vom Staate. Das ist die, wenigstens in Deutschland, ursprünglichste und allgemeinste Formel, die für den „Rechtsstaat“ ersonnen wurde (Pufendorf, Kant, Wilh. von Humboldt). Die Beschränkung des Staates lediglich auf die Rechtspflege, die Bestimmung seines Charakters als eines Rechtsschutzvereins und seine Kennzeichnung, dass das Verhältnis der öffentlichen Gewalt zum einzelnen durch das Recht geordnet sein müsse, darf als das Stich-Merkmal angesehen werden. Als die zweite Stufe des Rechtsstaats stellt sich der „konstitutionelle“ Staat dar, d. h. derjenige, in dem die Bildung des Staatswillens in Übereinstimmung des Monarchen mit den gesetzgebenden Körperschaften vor sich geht. So findet sich der Ausdruck „Rechts- und Verwaltungsstaat“ (Stahl, Rob. von Mohl). Auf der dritten Entwicklungsstufe spricht man von dem „modernen Rechtsstaate“, in dem die ganze Verwaltung unter dem Gesetze steht, an dieses gebunden ist. Dieser Grundsatz bedeutet eine erhebliche Einschränkung des freien Ermessens. Niemals darf, das ist der Sinn der „gesetzmässigen Verwaltung“, das freie Ermessen in Willkür ausarten, es muss stets rechtmässig sein, d. h. entweder durch Gesetz im Sinne einer jeden Rechtsnorm ausdrücklich zugelassen oder aber durch eine Rechtsnorm nicht gehindert sein, im übrigen aber dem Wesen der Verwaltung gemäss erlaubt erscheinen. Freilich wird man allgemein einsehen müssen – wovon wir noch weit entfernt sind – , dass dieser formale Begriff der „gesetzmässigen Verwaltung“ nicht ausreicht. Erstens schaltet man, indem man auf die Garantie der Gesetzmässigkeit das alleinige Gewicht legt, diejenigen Errungenschaften des modernen Staates aus der Begriffsbestimmung aus, ohne die doch der moderne Rechtsstaat nicht denkbar ist, wie die Unabhängigkeit der Rechtsprechung, den Konstitutionalismus, die Selbstverwaltung. Zweitens ist die Idee der „Gesetzmässigkeit der Verwaltung“ viel zu unbestimmt, weil sie die Frage offen lässt, was „Gesetzmässigkeit“ ist: die Verwaltung auf Grund eines formellen Gesetzes, einer allgemeinen Ermächtigung, eines aus dem Wesen der Verwaltung überhaupt folgenden Grundsatzes? Ist es nur das Erstere, dann würde man der Verwaltung schlechterdings unerfüllbare Aufgaben stellen, die mit einer solchen engen Bindung nicht auszukommen vermöchte. Ist es aber auch gesetzmässig, auf Grund einer Ermächtigung oder eines allgemeinen Grundsatzes zu handeln, dann ist der Rahmen der „Gesetzmässigkeit“ soweit gezogen, dass die strenge Formel sich verflüchtigt. Gleichwohl habe ich keinen Zweifel, dass unsere moderne Verwaltung nur auf dieser letzteren breiten Grundlage beruhen kann, dass sie also auch gesetzmässig bleibt, wenn sie sich auf eine allgemeine

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 316. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/336&oldid=- (Version vom 4.8.2021)