Textdaten
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Autor: Emil Roland
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Titel: Jugendzeit
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aus: Die Gartenlaube, Heft 49, S. 832, 834
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1893
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[832]

Jugendzeit.

Plauderei von Emil Roland.

Wir sprachen wie so oft, wenn alte Leute beisammen sind, von der Jugendzeit.

Mein Nachbar hatte seinen Enkel mitgebracht, ein blondes Bürschchen, dem die unbeirrteste Siegesgewißheit aus den Augen sah und zugleich jene anmuthende Unbefangenheit der noch nicht ausgelernten Lebenskünstler. Wir neckten ihn, wenn er mit seinen jungen unvorsichtigen Lippen etwas recht Altkluges gesagt hatte. Es zuckte auch jemand ungeduldig die Achseln, als er einmal eine so unfehlbare Weisheit aussprach, wie man sie einem Greise gerade noch verzeiht. Eines aber stand fest – beneiden thaten wir ihn alle.

Die Stimmung wurde bald ein wenig sentimental: es ist ein verfängliches Gebiet, die Jugendzeit!

„Merkwürdig!“ sagte ein alter Herr mir gegenüber, „Erinnerungen werden ein eigen Ding, sobald die Jugend hinter uns liegt. Ob es nicht besser wäre, wenn man sie vergessen könnte, jene schönste Vergangenheit, die nie wieder eine Gegenwart hat? Mir scheint es meist mehr schmerzlich als beseligend, sich jener Zeit der süßen Thorheit zu erinnern. Ich wollte, ich wüßte gar nicht mehr, daß auch ich einmal jung und thöricht war.“

[834] Wir anderen lächelten – es lebten in unserem Kreise noch ein paar unverschollene Geschichten aus der Zeit seiner Thorheiten.

Nur einer, Hans Hartenstein, blieb ernst – er, den wir insgeheim des Dichtens bezichtigten, der ein ziemlich mittelmäßiger Beamter, aber menschlich gerechnet von bester Sorte war, Hans Hartenstein, den man neulich vergebens auf dem Schöffengericht erwartete, nach dem man Boten über Boten schicken mußte wie der Herr nach dem Jockel und der indes, zeitvergessen in das selige Frühlingsblau hineinträumend, an einem Waldrain im Grase lag und der ersten Lerche ihre ägyptischen Reiseerlebnisse abfragt. Der Mai kam ja ins Land; da konnte Hans Hartenstein doch nicht aufs Schöffengericht kommen!

„Würden wir unsere Erinnerungen hingeben,“ sagte er feierlich, „so rissen wir ja unserem Leben die beste Blume aus – dann bliebe ja nichts übrig als traurige dunkle blüthenlose Erde.“

Wir stimmten ihm bei. Der junge Enkel lächelte ein wenig mitleidig; man sah ihm an, daß er uns alle seltsam kindisch fand im Vergleich zu ihm, dem Achtzehnjährigen. O, du glücklicher Enkel!

„Das hat mich oft seltsam berührt,“ fuhr Hans Hartenstein fort, „wie selbst in den härtesten verknöchertsten Menschen unerwartet, unaufhaltsam Augenblicke aufleuchten in denen plötzlich das Spiegelbild der Jugend flammt. Meist ist es ein Zufall, der sich auf solches Feuerwerken versteht – aber wunderbare Reflexe sind es, und ob sie noch so schnell vergehen, für den Augenblick haben sie etwas Rührendes, Verschönendes, gleichsam ein geistiges Centrallicht, das minutenlang alles Gewöhnliche von einer Persönlichkeit herabtäuschen, sie förmlich verklären kann.

Ich fuhr einmal im Nachtschnellzug quer durch die Heimath; da hab’ ich solch ein plötzliches Wachwerden einer halbvergessenen Jugend mit angesehen.

Die blaue Schirmkappe verschleierte das Licht im Wagen. Ich sah für Stunden nicht, wer mir gegenübersaß. Was ging es mich auch an? Reisegefährten sind heutzutage füreinander nichts als bewegliche Nullen, denen man höchstens die Anmaßung übelnimmt, daß sie überhaupt eine Ausdehnung besitzen.

Da dämmerte grau und verschlafen der fahle Morgen herauf. Unser Licht verlor auch den letzten Schein, und durch die Fenster starrte der werdende Tag, blaß und verträumt wie jemand, der erwachen will und doch die Augen nicht öffnen kann.

Der Zug hielt. Irgend ein Name wurde gerufen. Da schnellte plötzlich ein dickverpackter Herr aus dem Schlummer auf. Ein rothes Gesicht fuhr an das Fenster, dieses flog herab, daß ein kalter schneidender Wind hereindrang, und der rücksichtslose Reisende rief auf den leeren Bahnsteig hinaus: ,Was? Liebenau? Liebenau in Baden?‘

In derselben Sekunde schon schnob der Eilzug davon. Eine ebenfalls aufgeschreckte Dame zog den Störer der nächtlichen Ruhe drohend auf seinen Platz zurück.

‚Aber Mannerl!‘ rief sie auf gut Schlesisch, ‚denkst Du denn gar nicht an die Herrschaften hier?‘

Nein, an die hatte das ‚Mannerl‘ nicht gedacht, Sein Blick hing immer noch wie gebannt an der dem Nebelgrau entsteigenden Stadt, die nun wie ein bleiches Bild an dem nächtigen Zuge vorüberschwand, und noch ehe er es mir sagte, wußte ich bereits, daß er dort einmal jung gewesen war, jung und glücklich.

‚Mein Gott; da wächst ja lioch immer die Tanne aus dem Schloßthurm heraus!‘ murmelte er halb für sich. ,Und die Stadtmauer – der Epheu liegt noch so dicht wie damals über ihr! Und dort das Haus mit dem Zackendach, da wohnte die kleine Anni – und da kommt ja auch die Wiese mit dem Schützenhaus!‘ Weiter sagte er nichts; irgendetwas schnürte ihm die Kehle zu, aber sein Athem klang fast wie Stöhnen, und die Hand, die den Wust der Reisedecken achtlos beiseite schob, griff in verdächtiger Hast nach dem Auge.

‚Aber Mannerl, Du könntest doch wenigstens um Entschuldigung bitten! Das ganze Coupé ist ja aufgewacht!‘ drängte die Frau vorwurfsvoll, und nun that er’s denn auch mit verwundertem Gesicht. Natürlich begriff er gar nicht, wie jemand ungehörig finden konnte, was er gethan! Und doch sahen ihn die Augen eines jungen Reisenden in Seife sehr vernichtend an und bewiesen ihm mit deutlichen Blicken seine Ungehörigkeit.

‚Ich – ich bin nämlich dort auf die Schule gegangen, drei Jahre lang, die besten Jahre!‘ schloß er, zu mir gewendet. ,Ich wußte gar nicht, daß die Fahrt an Liebenau vorbeiging und da – da kam es über mich – die Jugendzeit!‘

Er fühlte, daß ich ihn verstand.

Bald dämmerten der Reisende und die Schlesierin wieder ein – er aber fand keinen Schlaf mehr. Seltsam genug sah er zwar aus mit seiner orientalischen Reisemütze, dem Luftkissen im Rücken und den zahllosen gehäkelten Decken und Tüchern; aber sein Blick behielt noch stundenlang eine geheime Weihe bei. Es zog in diesem Blicke herauf, was vielleicht vor Jahren darauf geleuchtet hatte, ehe die Jugend vorbei, ehe er an seine Schlesierin und in die zimperliche Verhätschelung jener Deckenmenge gekommen war. Das Bild der Heimath, der graue fahle Nebelschleier, aus dem die vergessenen Dächer eines seligen Thals den Vorübersausenden gegrüßt hatten, stand ihm vor den Augen und strahlte aus ihnen zurück.

Das ,Mannerl‘ war plötzlich für mich aus einer reisenden Null zu einem Menschen geworden.“

Der Erzähler schwieg. Wir fühlten alle den Sinn der kleinen Geschichte nach, nur der Enkel spielte unaufmerksam mit Brotkrumen.

„Mich wundert, daß das ‚Mannerl‘ nicht geweint hat!“ meinte jemand. „Ich denke mir, die Thränen müßten einem aus den Augen stürzen, und in solchem Falle wäre es ja wohl fast erlaubt. Die Erinnerung entschuldigt vieles.“

„Ja,“ sagte Hans Hartenstein, „es werden auch oft genug Thränen um solche Dinge geweint. Da war auf einem Lloyddampfer, der nach der Neuen Welt fuhr, ein junger zerlumpter Mensch im Zwischendeck, einer jener sonderbaren Vagabunden, bei denen man zuweilen zweifelt, ob es wirklich herabgekommene Thunichtgute sind oder verkappte Prinzen, denen die Lumpenrolle Spaß macht. Er hatte immer ein Lachen auf dem Gesicht und war, glaub’ ich, der einzige, der im Zwischendeck zu lachen verstand.

An dem Nachmittag nun, als der Länderstreif, dem die Fahrt zuging, über den Wellen aufschimmerte, grüßte jeder die neue Scholle der neuen Illusionen mit einem leisen Ausruf, einem Seufzer oder einem lauten Jauchzen. Die Kapelle spielte auf dem Verdeck der ersten Kajüte lustige Weisen, oben war alles Freude und Bewegung.

Da sah ich vom Geländer herab den jungen Vagabunden vor einem alten grauen Menschen stehen, der mühsam eine Drehorgel aus ihrer Umhüllung löste, seinen Talisman, an den er seine Hoffnungen in der Neuen Welt knüpfen wollte. Der rüstige Kerl half ihm lachend und machte allerhand Späße dabei. Schließlich bat er den Alten, daß er ihm eins aufspielen solle, ihm allein, nur ein paar Takte!

Und der Alte begann zu drehen. Da, während von oben eine tolle Tanzweise herabrauschte, von unten das Meer heraufgrollte und hinter dem Bug des Dampfers blendend die ersehnte Welt emporstieg, das glänzende New York und die breiteinströmende Fluth seines Stromes – da ertönte mit einem Male leise anschwellend, an ein fernes verklungenes Einst gemahnend, die Melodie ‚Lang, lang ist’s her!‘

Und plötzlich lachte der Vagabund nicht mehr. Er sah ins Weite, nicht auf das schillernde Meer, nicht auf den Himmel, sondern nach etwas, das sein leibliches Auge nicht zu schauen vermochte, und dann sank er auf einen Koffer, der in seiner Nähe stand, legte die Arme auf den Schiffsrand und schluchzte leise zu dem Brausen des Oceans hinab. – Wer weiß, wo er das Lied zuletzt gehört hatte, wo es ihm einst zuerst gesungen worden war! Ob ihn der Sinn des Liedes ergriff oder die sanfte schwermuthtrunkene Melodie?

Ich erfuhr vom Steuermaun den Namen jenes Menschen. Mehrere Wochen später kam mir dieser Name wieder vor das Auge. Durch die New Yorker Blätter ging in jenen Tagen die Nachricht von einem großen Diebstahl. Eine der bedeutendsten Banken war im Spiel. Zweier Verbrecher war man bereits habhaft, der eine hieß – da las ich jenen Namen wieder.

Natürlich, er war ein Verbrecher, ich zweifelte nicht daran, und doch – ein kleiner unberührter Theil mußte in seiner Seele gewesen sein, eine reine Saite, auf der das alte Volkslied seinen melancholischen Widerhall gefunden.

Selbst verhärtete Herzen entziehen sich nicht ganz dem nachklingenden Zauber der Jugendzeit.“

Hans Hartenstein schwieg. Auch wir andern sprachen kein Wort. Ich schaute verstohlen nach dem Enkel hin, dem einzigen, dem die beneidete Jugendzeit, die für uns alle nun ein verschlossenes Paradies war, noch mit offenen Thüren winkte. Er gähnte verstohlen in die Fläche seiner linken Hand und sah heimlich auf seine neue, mit den modernsten Verbesserungen ausgestattete Uhr. „Ich begreife aber doch nicht,“ sagte er plötzlich tadelnd, „wie der Mann über das Lied weinen konnte! Weinende Männer sind immer unschneidig.“

Wir lächelten alle. Ich aber dachte noch einmal: „Du glücklicher Enkel!“