Jugendleben und Wanderbilder:Band 1:Kapitel 38
Johanna Schopenhauer: Jugendleben und Wanderbilder | |
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[358] I looked at Monsieur dessein trough and
trough – ey’d him as he walked along, in
profile – then en face – thought he look’d
like a Jew – then a Turk.
Yorik’s sentimental Journey.
Da waren wir nun in Calais, in dem aus Yorik’s empfindsamen Reisen aller Welt bekannten Hotel Dessein, das ich bis dahin nur für eine von Sterne’s poetischen Fictionen gehalten hatte und nun auf vielleicht vierundzwanzig Stunden und länger mich selbst darin einheimisch fand; denn vierzig Jahre vor Erfindung der Dampfschiffe mußte noch günstiger Wind und ein Paketboot abgewartet werden, um von Frankreich nach Albion sich zu versetzen.
Es war noch ziemlich frühe am Tage, für heute keine Aussicht sich einschiffen zu können vorhanden, und wir hatten Zeit vollauf, uns in Calais umzusehen. Mit unserm Gasthofe, als der uns zunächst liegenden Merkwürdigkeit, fingen wir an, und gaben die Hoffnung auf, hier eine größere zu finden, denn dieses wirklich kollossale Etablissement konnte an Umfang [359] beinahe einer kleinen Stadt sich vergleichen lassen. Ich habe seines Gleichen nie wieder gesehen, und glaube auch nicht, daß es noch irgendwo in der Welt anzutreffen sei. Es war ganz auf das damals durch Wind und Wetter bedingte unwillkürliche Verweilen der Reisenden, besonders der brittischen, berechnet und paßt nicht mehr für unsere rastlose, niemals Zeit habende Zeit.
Der europäische Ruf, den Yorik noch neben der Anwartschaft auf literarische Ewigkeit dem Stifter dieses Hotels verliehen, hatte diesem goldene Früchte gebracht, deren Ertrag er und seine Nachkommen darauf verwandten, im Bezirk desselben alle Comforts zu vereinen, die Reisende wünschen und bedürfen können. Auf die Milords anglois, die ihm in Fülle zuströmten, um in die Fußtapfen ihres berühmten Landsmanns zu treten, war es hauptsächlich dabei abgesehen, das versteht sich von selbst. Bekanntlich aber ist in Frankreich jeder Engländer, der gut bezahlt, ein Mylord; auch gefiel es manchem derselben dort so gut, daß er einige Wochen in Calais verweilte, dann direkt in seinen Laden oder sein Brauhaus in der City zurückkehrte, und Zeitlebens mit der Ehre stolzirte, auf dem Continent und in Frankreich gewesen zu sein.
[360] Die große Anzahl der Zimmer und Säle, die für jeden Stand und jeden Geldbeutel berechnete Einrichtung derselben, will ich übergehen; dergleichen trifft man auch jetzt, und mit noch weit größerem Luxus ausgestattet, in viel besuchten großen Städten hin und wieder an, aber nicht so wie hier, die Möglichkeit, sich mit Allem zu versehen, was man auf Reisen bedarf, ohne deshalb gezwungen zu sein, sich nur einen Schritt weit von seinem Gasthofe zu entfernen.
Sattler, Schreiner, Stellmacher, Schmiede, Schlosser, Riemer, alle Gewerke, deren ein Reisender für sein weiteres Fortkommen nöthig haben kann, hatten hier in für sie eingerichtete Werkstätten, ihren eigenen Repräsentanten und dabei in wohlgefüllten Magazinen das rohe Material zur Hand, dessen sie zu ihrer Arbeit bedurften. Die Remise, deren Yorik erwähnt, stand noch voll Fuhrwerke jeder Art zum Verkauf, daneben ein Magazin mit Koffern und Mantelsäcken von allen Größen und Formen. Schneider und Schuhmacher, Barbiere und Friseurs, waren in Masse zur Auswahl vorhanden, Modisten, Seiden- und Tuchhändler, Bijouteriehändler hielten ihre Waaren, auf das zierlichste zur Schau gestellt, jeder in seinem eignen Laden feil.
In einem großen Schoppen sah ich mehrere hundert [361] rother Rebhühner und eine große Anzahl Hasen und Rehe sorgfältig einpacken, die mit uns nach England überschiffen sollten, und so stieß ich, fast bei jedem Schritt, auf neue Beweise der auf die englischen Guineen sehr weislich speculirenden französischen Industrie.
Das Alles indessen erscheint noch ausführbar, aber was außer in diesem einzigen Fall gewiß noch in keines Gastwirths Herz gekommen, ist der Gedanke, in seinem Garten ein kleines elegantes, mit dem Gasthofe in Verbindung gebrachtes Theater zu erbauen, und darin für die Zeit, während welcher die eigentliche Reisesaison vorhält, auf eigne Kosten eine Schauspielergesellschaft zu etabliren. Desseins Truppe beschränkte sich auf kleine Operetten, Vaudevilles und dergleichen, die sie bei der Darstellung, der ich am nämlichen Abend beiwohnte, mit ziemlichem Geschick und durchaus gutem Humor durchführte. Sehr zufrieden mit meinem in Calais zugebrachten Tage ging ich Abends zu Bette, und ahnete nicht, daß mir am folgenden Morgen noch die größte Merkwürdigkeit dieses Hauses kennen zu lernen bevorstände, den Erfinder und Stifter aller übrigen, den alten Herrn Dessein selbst, in eigner, lebender Person, den ich nach den vielen Jahren, die seit der Erscheinung [362] von Yorik’s empfindsamen Reisen verstrichen waren, längst zu seinen Vätern versammelt glauben mußte. Auch hatte ich im Hause, dessen Leitung er seinen Kindern übergeben hatte, nie ihn erwähnen gehört. Eine seltsam gebrochne, mit großer Geläufigkeit, jedoch sehr undeutlich perorirende Stimme, machte auf dem Wege zum Garten, wo wir zu frühstücken gedachten, auf eine Gruppe von mehreren Aufwärtern uns aufmerksam, die vor der offenen Thüre eines Bedientenzimmers einen uralten, wenigstens achtzigjährigen Greis umstanden, dessen lange und heftige Rede sie ganz ehrerbietig und andächtig anhörten. Der Alte war ein von der Last der Jahre zusammengedrücktes, in sich versinkendes, von einem dünnen Morgenrock umflattertes Skelett, mit einem Paar dunkelglühenden Augen, in welche der ganze Rest des ihm noch inwohnenden Lebens sich augenscheinlich zurückgezogen hatte. In der Hand hielt er einen in traurigen Umständen befindlichen Strohsessel, das Thema seiner Rede, in welcher er sehr eindringlich seinen Zuhörern das Unrecht vorhielt, ein Möbel durch Vernachlässigung so weit herunter kommen zu lassen, während mit einem einzigen Hammerschlag und einem Nagel der Schaden gleich anfangs geheilt und es noch auf lange Jahre dem Hause erhalten werden könne.
[363] Ein alter Franzose damaliger Zeit blieb höflich bis zum letzten Hauch seines Lebens. Sobald Herr Dessein uns gewahr wurde, verabschiedete er sein Auditorium auf der Stelle und eilte, mit für seine Jahre bewundernswerther Leichtigkeit, auf uns zu, um sich wegen der unanständigen Scene, wie er sie nannte, zu entschuldigen, von der wir wider seinen Willen Zeugen geworden waren. Er gab sich daneben als der, der er war, zu erkennen und war entzückt, als wir unsere Freude ihm ausdrückten, einen in der Welt so berühmt gewordenen Mann persönlich kennen zu lernen.
Wundern Sie sich nicht, daß ich von einer solchen Misere, als ein alter zerbrochener Strohstuhl ist, so viel Aufhebens mache, sprach er beim Scheiden; auch das Geringste zu beachten, ist der nächste Weg zum Großen zu gelangen, und ich lasse noch bis auf den heutigen Tag keine Woche vergehen, ohne jedes einzelne Zimmer in diesem weitläufigen Hause recht gründlich zu revidiren.