Jugendleben und Wanderbilder:Band 1:Kapitel 16

Johanna Schopenhauer: Jugendleben und Wanderbilder
<<<Vorherige Seite
Kapitel 15
Nächste Seite>>>
Kapitel 17
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.


Sechszehntes Kapitel.

[150] Mit Adlersflügeln angethan,
Fliegt Phantasie den Strom voran.
Zurück in kühle Dämmerung
Schifft einsam die Erinnerung!

Sophie Mereau.

Wo lebt der im Wechsel der Zeiten, im Gedränge der Welt, in Freude und Leid, in Arbeit und Ehrenstellen ergrauete Geschäftsmann oder Gelehrte, der die Erinnerung seiner Universitätsjahre aufgeben möchte? Der nicht, wenn ein Ungefähr es ihm vor Augen führt, das im Laufe der Jahre sehr unscheinbar gewordene kleine Büchelchen wehmüthig anblickte, das die Geister meist längst vergessener, verschollener, verstorbener Jugendfreunde, für den Moment ihm wieder erweckt, deren Namen seinem Gedächtnisse längst entfielen?

Nur ein Solcher könnte vielleicht den ersten Stein auf mich werfen wollen, weil ich mich hinreißen ließ, über Zustände zu weitläufig mich zu verbreiten, die ernsthaften vernünftigen Leuten von einem gewissen [151] Alter gar zu alltäglich und unbedeutend erscheinen müssen, um sie mehr als höchstens ganz beiläufig mit einigen wenigen Worten zu erwähnen. Aber es giebt keinen Solchen; im höheren Alter, in welchem die Freuden der Gegenwart ohnehin immer dünner uns aufkeimen, richtet Jeder an der Erinnerung seiner rosigen Frühlingszeit gern sich auf, vergißt den Schnee, der seine Scheitel deckt, und möchte um keinen Preis sie entbehren.

Mögen daher meine edlen Zeitgenossen gegen zu bittern Tadel mich in Schutz nehmen; denn was ihnen ihre akademische Zeit war, ist mir, obgleich es fast lächerlich klingt, jene Societé des jeunes dames gewesen. Freilich fehlten mir damals wenigstens noch zehn Jahre an dem Alter, in welchem Eltern ihre Söhne die Universität beziehen lassen, aber mein Geschlecht läuft immer dem männlichen um zehn Jahre voraus. Ob das als ein Vorzug desselben uns angerechnet werden darf, mag ich nicht entscheiden; mit funfzehn Jahren scheint es so, mit vierzig wird man gewöhnlich anderer Meinung.

Jene Societé wird und muß in der Erinnerung mir immer werth bleiben, weil sie einen neuen, reichhaltigen Freudequell mir eröffnete; durch sie gerieth ich sowohl aus dem eng beschränkten Kreis des Familienlebens, [152] als aus meiner zu weit ausgedehnten Ideenwelt, in den fröhlichsten geselligen Verkehr mit Mädchen meines Alters, und kam doch immer wieder aus unserm frischen jugendlichen Treiben zu allem, was von frühester Kindheit an mir lieb gewesen, mit unverkümmertem Genuß zurück.

Noch war seit der Ankunft unserer Lehrerin, denn das war sie doch eigentlich, kein volles Jahr verflossen, als ich an einem Nervenfieber erkrankte, schwer und gefährlich, wie man später mir sagte; ich aber erinnere mich nicht dabei viel gelitten zu haben. In dumpfem, halbbewußtem Hinbrüten lag ich viele Tage lang; mein Vater war noch nicht aus Frankreich zurückgekehrt, meine Mutter hatte nicht gewagt, den Doctor Wolf rufen zu lassen, und so war ich unserer alten scharlachrothen Haus-Excellenz, dem Doctor de la Motte, übergeben, der meine Krankheit, die er dem von der Inokulation zurückgebliebenem Gifte zuschrieb, für so gefährlich hielt, daß er den Beistand seines noch ältern Herrn Kollegen, des Doctor Reinecke, verlangte.

»Lassen Sie das Töchterchen ruhig im Herrn entschlafen, Hochgeehrte Frau;« erinnere ich mich deutlich gehört, und halb wie im Traume gesehen zu haben, daß die beiden scharlachrothen Männer meine [153] arme, ganz zusammengesunkene Mutter zur Thüre hinaus führten, dann ward es plötzlich Nacht und ich schlief ein, unter wirren ängstlichen Träumen.

Als ich erwachte, schimmerte die hochstehende Sonne durch die grünen Fenstergardinen; beide scharlachrothe Excellenzen saßen zu beiden Seiten meines Bettes, die Nasen bedenklich auf ihre spanischen Röhre gestützt, und sahen sehr verdrießlich aus. Meine Mutter aber knieete mir zur Seite, Kasche weinte schluchzend helle Freudenthränen. Vier und zwanzig Stunden waren verflossen, seit ich meine Mutter hinausführen gesehen, und ich hatte die Zeit benutzt, mich zu Aller Erstaunen gesund zu schlafen; ich war wie durch ein Wunder gerettet.

Nun aber fing meine eigentliche Qual erst an, die bei meinem sehr langsam fortschreitenden Genesen immer peinlicher mich drückte. Völlig entkräftet lag ich da, nur einzelne Stunden konnte ich, von vielen Kissen unterstützt, in meinem Bette aufrecht sitzen; später habe ich Wochen damit verbracht, wieder gehen zu lernen; die Gegenwart mehrerer, besonders fremder Personen, war mir unerträglich, im Ganzen war jeder Besuch mir verhaßt, ich verstand kein Wort von dem, was gesprochen wurde, denn ich war aus Nervenschwäche fast völlig taub. Bei alledem litt ich [154] unbeschreiblich an der quälendsten Langenweile; doch nichts von allem, was Mutter, Freunde, Verwandte zu meiner Unterhaltung ersannen und herbei brachten, konnte auch nur Minuten lang mir gefallen. Ich fühlte mit Schmerz, wie lästig ich Andern sein müßte, und war mir selbst die ungeheuerste Last.

Vielleicht war es jene Nervenschwäche, unter welcher meine körperlichen Kräfte erlagen, die meine Seelenkraft unbegreiflicher Weise erhöhte: ich weiß nur, daß ich mich innerlich nie lebhafter aufgeregt gefühlt, nie nach geistiger Unterhaltung und Beschäftigung mich inniger gesehnt habe als damals; aber ich schwieg, ob aus Eigensinn, oder weil ich mich dessen schämte? Ich weiß es nicht, ich war eben ein krankes, todtmüdes Kind.

Meinem guten treuen Magister Philoteknos war es endlich beschieden, den Talisman zu entdecken, der aus diesem widerwärtigen, einer bösartigen Verzauberung ähnlichen Zustande mich zu befreien, Kraft besaß. Schwer beladen mit vier dicken, glänzend eingebundenen Quartanten erschien Kandidat Kuschel vor meinem Schmerzensbette, und sobald ich das erste beste Blatt in einem derselben hastig aufgeschlagen, fühlte ich von meiner Qual mich erlöst.

Die große Prachtausgabe der damals eben erschienenen [155] physiognomischen Fragmente[1] war seltsamer Weise in die Bibliothek der Sanct Johanniskirche gerathen, wo sie ziemlich unbeachtet ihren Platz füllte. Der Bibliothekar derselben war ein Freund des Kandidaten Kuschel und hatte von diesem sich bewegen lassen, das sehr kostbare Werk meinen kindischen Händen anzuvertrauen; Kuschel kannte mich wohl, und meine Ehrfurcht vor fremdem Eigenthum, besonders dieser Art.

Mit rastlosem Eifer warf ich mich sogleich in das Studium von Lavaters wie seltsamen Prophezeiungen klingenden Orakelsprüchen; sie beschäftigten mich unaufhörlich, ich las, verstand Einiges, mißverstand Vieles, blieb über dem Meisten ganz in Dunkel, glaubte Manches zu errathen; die Stunden flogen an mir vorüber, ich war ruhig, heiter, sehr zufrieden sogar, wenn man mich nur gewähren ließ, ohne sich viel um mich zu bekümmern. Die Furie Langeweile, die so lange mich gepeinigt hatte, war endlich gebannt.

Doch der bei weitem interessanteste Theil dieses wunderbaren Werkes, dessen wie aus lauter Räthseln zusammengesetzter Inhalt mir verwirrend durch den Kopf schwirrte, waren und blieben mir die Kupfer, um derentwillen es mir auch eigentlich anvertrauet worden war, denn daß ein kaum zehnjähriges Kind [156] an den Text zu denselben sich wagen würde, schien kaum denkbar. Höchst mühselig hatte ich einst versucht, die Kupfer aus Raffs[2] Naturgeschichte nachzuzeichnen; diese, einige in einzelnen Büchern zerstreuten Bildchen, und Chodowiecki’s allerliebste kleine Meisterstücke im Gothaer Kalender[3], den mir Jameson jedesmal zum neuen Jahre schenkte, waren fast Alles, was ich jemals an Kunstwerken gesehen. Die Wände mit Kupferstichen zu beleben, war ein damals unter uns sehr seltener Luxus, der sogar für altmodisch galt. Papier-Tapeten, die man durch das Einschlagen der Bildernägel nicht verderben mochte, begannen eben an die Stelle der weißen, oft mit vergoldeter Stuckaturarbeit geschmückten Wände zu treten; so stand es damals bei uns um den Kunstgeschmack.

Jetzt aber stürmte aus Lavaters Fragmenten eine Welt, zwar immer geahnter, aber nie gesehener Erscheinungen auf mich ein; diese Köpfe! diese Gestalten! schöne und häßliche, besonders aber die Portraite! Mit den mir wohl bekannten Namen von Königen, Helden und Gelehrten bezeichnet, die ich wenigstens oft gehört hatte, und daneben die breite mir meistens ganz unverständliche Auseinandersetzung des Verfehlten und Lobenswürdigen in der Ausführung dieser Kunstwerke, die ich nicht genug bewundern zu können [157] meinte. Wochen vergingen, ehe ich dazu gelangte, mit dem Allen mich zu befreunden; dann aber entzündete der Funke, den Chodowiecki’s Besuch in der Schule vor einigen Jahren in meine kindische Seele geworfen, sich zu brennender Sehnsucht, und ließ mir Tag und Nacht keine Ruhe.

Zeichnen lernen, malen lernen, war mein höchster, einziger Wunsch, der aber leider unerfüllt bleiben mußte, so gern meine Eltern ihn mir gewährt hätten; denn in der ganzen großen Stadt war kein Lehrer, wie ich ihn bedurft hätte, aufzufinden.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Johann Caspar Lavater (* 15. November 1741; † 2. Januar 1801): Physiognomischen Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe (4 Bde., 1775-78).
  2. Georg Christian Raff (* 30. September 1748; † 5. Juni 1788): Naturgeschichte für Kinder (1778).
  3. siehe Genealogisches Handbuch des Adels