Jugendleben und Wanderbilder:Band 1:Kapitel 15

Johanna Schopenhauer: Jugendleben und Wanderbilder
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Funfzehntes Kapitel.

[132] Feingerade!
Hübsch Füßchen aus- und einwärts, hübsch die Wade!
Den Rücken schlank! fein Hals und Kopf empor!
Zurück die Schultern! Bauch ein! Brust hervor!

Bürger.

Eine Reise von funfzig bis hundert Meilen, die man jetzt kaum des Erwähnens werth achtet, galt vor sechzig bis siebenzig Jahren, bei dem damaligen Zustande der Wege und überhaupt aller Reiseanstalten, schon für ein bedenkliches Unternehmen. Sollte es vollends noch weiter gehen, in entfernte fremde Länder, dann überschritt die Trostlosigkeit der Zurückbleibenden alle Grenzen; ich erinnere mich noch aus meiner frühesten Kinderzeit ganz deutlich, wie Großmutter, Mutter und Tanten in Thränen zerflossen, als mein Onkel eine Reise nach Kaluga antrat, vor welcher er auf Leben und Sterben sein Haus förmlich bestellen mußte; denn Alle waren fest überzeugt, daß er aus jener weitentlegenen Wildniß nie wieder heimkehren werde.

[133] Längst schon trug mein Vater sich mit dem Gedanken an eine nicht minder weite, wenn gleich weniger gefährlich aussehende Reise. Seine Russischen Handelsfreunde konnten bei der gegenwärtigen Lage der Dinge Danzig nicht mehr besuchen; der zwischen ihm und ihnen so lange bestandene Verkehr war durch die von preußischer Seite getroffenen Zolleinrichtungen völlig gestört, eine andre Bahn mußte ihm eröffnet werden, und diese bot am bequemsten die Leipziger Messe. Nach Leipzig wollte fortan mein Vater seine Waaren direkt von Frankreich aus versenden und mit den russischen Kaufleuten dort zusammentreffen. Doch eine Reise nach Lyon war zu dieser neuen Einrichtung durchaus erforderlich, und wie lange eine solche ihn von den Seinen entfernt halten könne, ließ sich vorher nicht bestimmen.

Haus und Kinder waren gut versorgt, die Furcht vor den Blattern beseitigt. Unsre Mutter, so lieb sie ihn hatte, war doch viel zu verständig, um sich nicht ohne Widerwillen in Alles zu fügen, was er zum Besten der Seinen für gut und nützlich hielt. Fröhlichen Muthes, ohne ferneren Verzug, würde er die Reise gleich angetreten haben, nur die Sorge um mich und meine Erziehung hielt ihn noch zurück. Ich hatte das neunte Jahr erreicht, ich bedurfte anhaltender [134] Beschäftigung und ich hatte noch vieles zu lernen, so trefflichen Händen ich auch anvertraut war, was weder meine Mutter, noch Jameson noch Kuschel mich lehren konnten.

»Ich liebte nur Ismenen, oder: ich schlief, da träumte mir charmantes Kind, von Dir,« zum Klavier singen, ein paar Polonaisen oder einen Masureck recht taktfest aborgeln, ein Menuet regelmäßig tanzen und höchstens ein Paar französische Redensarten ängstlich herausstottern können, war alles, was damals zur Vollendung der Erziehung einer Tochter erforderlich schien. Dem Tanzmeister war ich schon längst überantwortet, und wunderlicher Weise schon um neun Uhr des Morgens; die Musikstunden waren auf mein Bitten nach wenigen Monaten aufgegeben worden, weil mein alter verdrießlicher Lehrer mich immer versicherte, ich habe einen hölzernen Kopf, während alle andern mich lobten. Mein Vater sann lange darüber nach, was nun ferner mit mir anzufangen sei, und fand keinen ihm genügenden Ausweg.

Pensionsanstalten gab es damals bei uns nicht, und konnte keine geben; ja ich glaube sogar, daß man kaum einen eigentlichen Begriff von dem Wesen einer solchen Treibhausanstalt hatte. Von seinem [135] Kinde sich trennen, um es in einem fremden Hause von Fremden erziehen zu lassen, war damals den Müttern noch ein Undenkbares; verwaisete Kinder wurden bei ihren Vormündern oder in befreundeten Familien untergebracht, und wuchsen dort ebenfalls in ruhig stiller Häuslichkeit auf. An Zeit, sich mit ihren Kindern zu beschäftigen, konnte es überdem den Müttern nicht fehlen, denn der ganze Tag gehörte dem Familienleben an, Morgenbesuche und Morgenspaziergänge kannte man gar nicht, und die geselligen Pflichten und Freuden nahmen nur die spätern Abendstunden in Anspruch.

Gegen den Vorschlag, eine Gouvernante anzunehmen, hatte meine sonst immer zum Nachgeben geneigte Mutter sich gleich auf eine Weise erklärt, die deutlich bezeigte, wie wenig sie Willens sei, sowohl in der Liebe als in der Leitung ihrer Kinder mit einer Fremden zu theilen: Lernen mögen sie von Andern, denn ich weiß zu wenig ihnen zu lehren, doch erziehen soll Niemand sie als ich, hatte sie meinem Vater erwiedert, was er später, wenn wir irgend eine Unart uns zu Schulden kommen ließen, ihr zuweilen vorhielt.

Und wäre sie auch andrer Meinung gewesen, eine Gouvernante finden, wie mein Vater sie wollte, [136] wäre immer ein schwer zu erfüllender Wunsch geblieben. Die Fabriken in Genf, in Lausanne, in Vevey, welche halb Europa mit ganzen Kutschenladungen dieses Artikels jetzt versorgen, die ein Vetturino regelmäßig zweimal im Jahre nach Deutschland führt und von dort wieder abholt, waren damals noch nicht organisirt.

Die französischen Mamsells jener Zeit, so nämlich wurden ein für allemal die Gouvernanten genannt, die französischen Mamsells waren sämmtlich geborene Berlinerinnen, aus der französischen Kolonie, was man aus ihrem Dialekt sowohl in deutscher als in französischer Sprache sogleich errathen konnte, und hatten Frankreichs Boden nie betreten.

Das allgemeine Vorurtheil war schon des Ortes ihrer Geburt wegen gegen sie gestimmt, und auch ihnen konnte der Aufenthalt in der alten formellen Kaufmannsstadt so wenig zusagen, daß nur völlige Hoffnungslosigkeit, ein angenehmeres Unterkommen zu finden, sie zu bewegen fähig war, sich zu demselben zu bequemen. Auch war ihre Anzahl in Danzig sehr beschränkt; in Familien, mit welchen meine Eltern Umgang hatten, erinnere ich mich deren nur zwei gesehen zu haben, und der Widerwille meiner Mutter gegen diese Art von Erzieherinnen wurde gerade [137] durch diese Beiden auf das Vollkommenste gerechtfertigt.

Doch der Zufall, welcher vor einigen Monaten zur gelegensten Zeit den Doctor Wolf aus England herüberführte, begünstigte auch diesesmal die Wünsche meines Vaters für das Wohl seiner Kinder; plötzlich und unverhofft führte er die Erfüllung derselben ihm zu, und zwar aus einer Stadt, aus welcher man es nimmer erwartet hätte, aus Stockholm.

Eine schöne schwedische Prinzessin, die jetzt wahrscheinlich schon längst in der Königsgruft ihrer Ahnherren den langen Schlaf schläft, hatte gerade in jener Zeit ihre letzten Kinderschuhe ausgetreten. Ihre Erziehung wurde für vollendet erklärt, und das mit derselben beauftragt gewesene Personal zerstreute sich in alle vier Winde. Alle wünschten den schwer erworbenen Lohn vieljähriger Dienste im Vaterlande zu genießen; nur eine französische Untergouvernante, welche viele Jahre lang in der nächsten Umgebung der Prinzessin gelebt hatte, ließ von dem sehr bescheidnen Zuge ihres Herzens nach der ihr ganz unbekannten Stadt Danzig sich führen, um in einer Entfernung von einigen zwanzig Meilen der Nähe ihres seit vielen Jahren ihr verlobt gewesenen Freundes, [138] eines Herrn Hofraths, sich zu erfreuen, den jetzt noch Geschäfte in Königsberg festhielten und noch lange festzuhalten droheten.

Sie brachte bedeutende Empfehlungen an einen in Danzig etablirten schwedischen Kaufmann, einen alten Bekannten meines Vaters, mit, welche in Hinsicht auf ihr Betragen, wie auf ihre Kenntnisse auch nicht dem kleinsten Zweifel Raum geben ließen.

Schön war sie nicht, jung auch nicht, vielmehr ein wenig das Gegentheil von beiden, ziemlich lang, hager, etwas spitzig an allen Gliedmaßen, etwas unklar in der Gesichtsfarbe, und obendrein mit einem ziemlichen Ansatz zu dem, was man höflich einen kleinen Verdruß zu nennen pflegt, den sie aber in vollem Anzuge recht geschickt zu maskiren verstand. Uebrigens durchaus nicht zurückstoßend, sondern höflich zuvorkommend und auf ihre Art sogar liebenswürdig, wenn man an ihre steife Haltung und nach damaliger Weise abgezirkelten Hofmanieren sich einigermaßen gewöhnt hatte.

Leider war auch sie eine in Berlin geborene französische Mamsell, doch lange Entfernung vom Vaterlande, und die während dem Lauf einer bedeutenden Reihe von Jahren in Stockholm sie umwehende französirende Hofluft hatten jede Spur dieses Makels [139] vertilgt. Sie sprach deutsch ohne allen Berliner Accent, ihre französische Aussprache aber galt für unübertrefflich; der wahre accent d’Orléans, in höchster Vollkommenheit, versicherte mein Vater. Auch fehlte es ihr nicht an für jene Zeit nicht ganz gewöhnlicher Geistesbildung, sie war mit der damaligen französischen schönen Literatur wohlbekannt und wußte mit Auswahl sie zu würdigen. Der Feder vollkommen mächtig, schrieb sie nicht nur recht gut französisch, sondern noch überdem eine sehr schöne französische Damenhand, worauf mein Vater großen Werth legte.

In einer Hofrobe von schwerem zitrongelben Seidenstoff mit großen rothen Blumen prachtvoll angethan, machte sie meiner Mutter »ihre Aufwartung,« wie sie es nannte, und wurde von der guten einfachen Frau, der bei ihrem Anblick ein schwerer Stein vom Herzen fiel, auf das freundlichste aufgenommen, denn daß die viel gepriesene Französin ihr nicht zur Hausgenossin aufgedrungen werden könne, wie sie noch immer heimlich gefürchtet hatte, davon überzeugte sie der erste Blick auf die vornehme, kostbar geputzte Dame vom feinsten Ton, die höchst graziös sich vor ihr tief verneigte.

Eine meinen Eltern genau befreundete Familie [140] hatte sich entschlossen, auch ihre älteste Tochter, die mit mir im nämlichen Alter stand, mit mir zugleich der Mamsell Ackermann anzuvertrauen. Das Uebereinkommen über die Bedingungen, unter welchen dies geschehen sollte, war zur völligen Zufriedenheit aller dabei Betheiligten leicht getroffen, und mein Vater trat völlig über mich beruhigt seine so lang verschobene Reise an, in der festen Ueberzeugung, für meine Beschäftigung hinlänglich gesorgt zu haben.

Auch war dieses fast bis zum Uebermaße geschehen; Jameson, Kuschel, der Tanzmeister und eine gute alte Frau, die im feine Wäschenähen und Stopfen mich zu unterrichten kam, nahmen bis Mittag meine Morgenstunden in Anspruch, um zwei Uhr Nachmittags wurde ich zur Mamsell Ackermann gebracht, bei der wir bis sieben Uhr verweilten, und bei meiner Zuhausekunft fand ich oft noch meinen freundlichen Jameson auf mich wartend, bei dem ich denn noch das letzte Abendstündchen vor dem Nachtessen recht vergnügt zubrachte.

Kaum hatte meine neue Lehrerin sich einige Monate mit mir beschäftigt, als ich schon anfing, zu aller Welt Erstaunen, so fertig französisch zu plaudern, als hätte ich zeitlebens nichts anderes gethan; [141] bei meiner frühen, mit Hülfe meines Vaters fortgesetzten, wenngleich sehr unvollkommenen Bekanntschaft mit dieser Sprache war dieses aber nichts Außerordentliches, doch das bedachte Niemand. Mamsell Ackermann wurde durch mich kleinen Papagaien bald so bekannt und berühmt, daß sie in Kurzem unter den heranwachsenden Töchtern der bedeutendsten Danziger Familien die Wahl hatte. In weit weniger als Jahresfrist war die Zahl ihrer Zöglinge vollständig, deren nie mehr als zwölf anzunehmen sie meinem Vater versprochen, was sie auch immer redlich gehalten. Auch hatte sie, in der That, mit uns vollauf zu thun.

Ich bin überzeugt, daß sie früher nie einer Erziehungsanstalt vorgestanden, wahrscheinlich keine gesehen hatte, die vielleicht ausgenommen, in welcher sie in ihrer Jugend selbst Unterricht erhalten. Die Einrichtung der ihrigen war so abweichend von allen, die ich seitdem gekannt, und dabei so zweckmäßig für die Absicht, der Erziehung heranwachsender Mädchen aus den feiner gebildeten Ständen die letzte Vollendung zu geben, daß es mir unmöglich wird, sie ganz mit Stillschweigen zu übergehen, obgleich ich heimlich befürchten muß, das Andenken der guten Ackermann einigem leisen Spott auszusetzen, haben [142] wir sie doch leider auch nicht immer damit verschont, da sie noch unter den Lebenden wandelte!

Erziehungsinstitute kannte man bei uns damals unter diesem Namen noch nicht; ein Ort, wo Kinder zum Unterricht hingeschickt wurden, hieß schlechtweg eine Schule, aber die Exgouvernante einer schwedischen Prinzessin schauderte vor dem plebejen Worte ängstlich zurück. Eine Schule! Quelle horreur! quelle platitude! Eine Societé des jeunes dames war es, die sie fünfmal in der Woche Nachmittags bei sich empfing. Sie war die gutmüthigste Seele, aber dem Unglücklichen, der sich erkühnt hätte, ihren Namen mit jenem erniedrigenden Ausdruck in Verbindung zu bringen, hätte sie weder im Leben noch im Tode verziehen.

Wahr ist’s, ihr Zimmer sah gar nicht wie eine Schulstube, sondern wie das einer eleganten, vornehmen Dame aus; hübsche, zum Theil Mahagony-Meubles, Pfeiler-Spiegel, mit marmornen Konsolen davor, Wandleuchter von Porzellain, in Gestalt großer Blumensträuße an den Wänden, Blumenvasen, Amorinen von Bisquit, welche die mit kleinen Diamanten besetzte Taschenuhr ihrer Gebieterin hielten: das Alles war ungemein zierlich. Vieles mochte sie als Andenken früherer Zeiten aus Stockholm über die [143] See mitgebracht haben; es hatte ein fremdartiges Ansehen, und gefiel mir deswegen nur um so besser.

Natürlicher Weise mußte auch unser Betragen nach diesen Umgebungen gemodelt werden; auch nicht der kleinste Verstoß gegen konvenzionellen Anstand und gesellige Sitte wurde, ohne auf der Stelle gerügt zu werden, uns durchgelassen. Ungeschicktes Auftreten, ein schwerfälliger Gang, Thürenwerfen, überhaupt unnöthiges Geräusch, zogen lange Strafpredigten nach sich, die eine sehr harte Strafe uns dünkten, weil sie die gräßlichste Langeweile uns erregten. Auch der damals beim Eintritt ins Zimmer noch üblige Knicks an der Thür durfte nicht unterlassen werden; wer ihn vergaß, mußte ihn auf der Stelle nachholen, wer in der Eile ihn nachlässig hinschlenderte, mußte ihn nochmals so lange einüben, bis es gelang, ihn graziöser auszuführen.

Leicht obenhin betrachtet, sieht das Alles zwar ungemein lächerlich aus, wird aber weniger so erscheinen, wenn man einige sechzig Jahre sich zurück zu versetzen im Stande ist; zwar heißt es: andre Zeiten, andre Sitten, doch nur die Form ändert sich, der Grund aber bleibt. Frühe Gewöhnung an das, was Anstand und gesellschaftliche Konvenienz [144] von uns verlangen, so daß wir uns durch sie weder gefesselt noch verlegen fühlen, weder aus linkischer Blödigkeit verstummen, noch in jene zu warme Zutraulichkeit verfallen, die anfangs als köstliche Naivetät bewundert, dann als zu täppische Dreistigkeit verspottet wird, ist jetzt wie damals beim Eintritt in die frisch erblühende Rosenzeit des Frühlingslebens ein großer Gewinn. Auch in späterer Zeit kommt der ernsteren Hausfrau eine gewandte Sicherheit des Betragens im häuslichen wie im geselligen Verhältniß wohl zu Statten, und hilft ihr über ihrem eignen, wie über dem Leben der Ihrigen einen Hauch von Ruhe und Anmuth zu verbreiten, der sich empfinden, doch nicht analysiren läßt.

Mamsell Ackermann war, wenigstens für die damalige Zeit, auf das rechte Mittel verfallen, ihren Zöglingen jene Lebensleichtigkeit, die später zu erwerben oft unendlich schwer wird, durch Gewöhnung zur zweiten Natur zu machen. Sie legte vielleicht einen zu großen Werth auf diesen Vorzug, sie wandte zu viel daran, ihn uns anzueignen; doch wenn ich die jungen eben flügge gewordenen Vögelchen, so unsicher, so ängstlich, oder auch so blind verwegen, dem Gewahrsam entflattern sehe, in dessen Schutz sie bis dahin sich sicher fühlten, so will es mir zuweilen [145] bedünken, als ob man in unsern Tagen in den entgegengesetzten Fehler verfiele.

Daß diese strenge Beobachtung aller Anstandsregeln uns anfangs sehr langweilig, verdrießlich, mitunter lächerlich erschien, ist nicht zu leugnen; dennoch mochten wir nicht förmlich uns dagegen auflehnen. Von unserm stillen Mißmuth, von unserm störrigen Widerwillen die kleinste Notiz zu nehmen, hielt aber Mamsell Ackermann nicht für nöthig.

Und so blieb es wie es gewesen. Wir gewöhnten uns mit der Zeit daran, wir blickten zuletzt mit kindischer Selbstzufriedenheit auf die neuen Ankömmlinge herab, die noch nicht gelernt hatten, wie man in guter Gesellschaft zu gehen, zu stehen, zu sitzen und zu knixen habe, und waren stolz darauf, ihnen den ersten Unterricht darin zu ertheilen.

An Zank und Streit war unter uns gar nicht zu denken; wir nannten einander ma chère amie, und waren sanft und lieb wie die Englein im Himmel, denn wir mußten immer französisch sprechen. Kein deutsches Wort durfte über unsre Zunge gleiten, außer im Fall der höchsten Noth. Wer in aller Welt aber kann in einer fremden Sprache, deren er nicht ganz mächtig ist, zanken und streiten?

Schriftlich oder mündlich aus dem Französischen [146] ins Deutsche, oder auch umgekehrt, übersetzen, Leseübungen auswendig lernen, Hersagen des Gelernten nahm die ersten Stunden in Anspruch; bis die Reihe an sie kam, ihre Lektion herzusagen, beschäftigte jede von uns sich still vor sich mit der ihr zugetheilten Aufgabe, und dieser Wechsel unsrer Arbeiten erhielt uns in stets reger Aufmerksamkeit. Aufgaben zu Hause abzuarbeiten wurden uns nie zugetheilt. Uebung im Schönschreiben, und wenn noch etwas Zeit dazu übrig war, etwas Geographie, brachten gegen fünf Uhr die Theestunde herbei, und wie durch einen Zauberspruch waren wir nun aus Schülerinnen in eine wirkliche Societé des jeunes dames umgewandelt.

Der Theetisch wurde servirt, wie es eine solche Gesellschaft erfordert. Mamsell Ackermann präsidirte dabei auf dem Sopha und ließ unter ihrer Leitung die Aeltesten von uns wechselsweise die Rolle der Wirthin übernehmen; die Uebrigen ordneten sich um den Tisch, oder standen und gingen im Zimmer umher, lachten und plauderten nach Belieben, Alles was sich ziemte war erlaubt, als wäre es wirklich eine zur geselligen Unterhaltung geladene Damengesellschaft, nur Deutsch reden war und blieb hoch verpönt.

[147] Doch dieses Intermezzo währte nicht lange. Der Theeapparat wurde beseitigt, die Filetkästchen hervorgesucht. Da saßen wir nun, wie es für junge Damen sich gebührt, und fabricirten für unsre Papa’s gewöhnlich sehr unbrauchbare Geldbeutel und Manschetten, von jenem feinen Netzwerk, das damals, wie jetzt Tapisseriesticken, die Modearbeit war.

Während der Zeit lasen die besten Leserinnen unter uns, unter Aufsicht unsrer Lehrerin, das Magazin des enfants mit lauter, deutlicher Stimme uns vor. Möge der guten seligen Madame le Prince de Beaumont[1] noch heute in der Ewigkeit ein absonderlich guter Tag dafür werden, daß sie auf den vortrefflichen Gedanken verfiel, ihr an sich lobenswerthes, aber doch ein wenig langweilig zu werden drohendes Buch, durch Einflechtung der köstlichen Mährchen zu beleben; durch sie ging eine bis dahin mir unbekannt gebliebene Welt, die weite reiche Feenwelt in blendender Glorie mir auf, so daß ich sogar Gefahr lief, meine Römer und Griechen darüber zu vergessen. Alles, alles schien mir anders und bedeutsamer als sonst, jedes alte Bettelweib erhielt von mir einen Groschen, wenn ich einen besaß, oder was ich sonst Gutes ihr zuwenden konnte; dann dachte ich in meinem phantastischen [148] Wahn, wer kann wissen, ob in den schmutzigen Lumpen nicht vielleicht eine Fee steckt? und wenn die nun abfallen, und sie steht da, strahlend von Schönheit, von Gold und Diamanten. Ah!

Wenn ich dann aber mir selbst wieder vernünftig zureden, mir bedeuten wollte, daß dergleichen Wunder nicht mehr geschehen, daß diese schönen Geschichten, alle mir zum Vergnügen ersonnen, und kein Fünkchen Wahrheit dabei wäre, wie betrübte mich das! weinen hätte ich mögen, daß mir sogar keine Hoffnung bleiben sollte, nur einmal, nur ein Einzigesmal eine Fee, wäre es auch nur von weitem, zu sehen.

Ich war nun aber in dieser Zeit einmal bestimmt, der Mährchenwelt zu verfallen, denn ein Ungefähr, ich weiß selbst nicht mehr welches, spielte die unvergleichlichen Contes de ma mère L’oie mir in die Hände. Das unscheinbarste Büchlein von der Welt, ein Duodez auf grauem Löschpapier, die holprichste deutsche Uebersetzung kolonnenartig neben dem französischen Originale, so schlecht als möglich abgedruckt, und jedem Mährchen ein ganz kleiner Kupferstich, eine Hauptscene aus demselben darstellend, beigegeben.

Welch ein Fund war das! Kein eifriger Philologe [149] kann über die seltenste und prachtvollste Ausgabe eines alten Klassikers größere Freude empfinden, als ich über diesen Schatz. Das waren ganz andere Märchen, als die im Magazin des enfants, und wie erzählt! Von Blaubart, der auf einem der Kupferchen abgebildet ist, wie er seine arme Frau, die er bei ihren Locken gepackt hält, mit einem Säbel, zweimal so lang als er selbst, enthaupten will, wandte ich mit Grausen mich ab, aber die kluge Prinzessin Finette, mit ihrem gläsernen Spinnrad, und die allerliebste Cendrillon, mit dem gläsernen Schuh, und klein Däumchen mit seinen sieben nichtsnutzigen Brüdern, und Prinz Rikett mit dem Zopf, wie entzückten sie mich! Vor Allen aber der gestiefelte Kater, ihm zu Ehren hieß das ganze Buch das Katzenbuch, bis ich sogar den eigentlichen Titel desselben darüber vergaß. Chat botté[2] war mein allen vorgezogener Held, durch den in einem verborgenen Winkelchen meines Herzens sogar Mucius Scävola und Cincinnatus in Schatten gestellt wurden.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Jeanne-Marie Leprince de Beaumont
  2. Chat botté: Der gestiefelte Kater