Jugendleben und Wanderbilder/Band 2 Kapitel 3

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aus: Jugendleben und Wanderbilder
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von: Johanna Schopenhauer
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Drittes Kapitel.


Jene Menschen sind toll, so sagt ihr von heftigen Sprechern,
Die wir in Frankreich hören, auf Straßen und Markt;
Auch mir scheinen sie toll; doch redet ein Toller in Freiheit
Weise Sprüche, wenn, ach! Weisheit im Sclaven verstummt.
  Goethe.


Die Eroberung der Bastille, die Zerstörung derselben, das grausenvolle Geschick jenes unglücklichen Greises, welches durch öffentliche Blätter allgemein verbreitet wurde, wirkte berauschend auf die Gemüther. Ergründen zu wollen, wie viel von jenem schaudervollen Ereignisse der französischen Verschönerungssucht angehöre, fiel keinem ein.

Lag doch in dem ganzen Vorgange an und für sich nichts Unmögliches oder Unwahrscheinliches, waren doch die entsetzlichen lettres de cachet wirklich bis zur Zerstörung der Bastille als eines der bedeutendsten Vorrechte des Königs noch in voller Kraft! Selbst Ludwig XVI, so wenig er zu türkischem [24] Despotismus sich hinneigte, hatte aus alter königlicher Gewohnheit mehrere derselben ohne Bedenken ausgefertigt und zu beliebigem Gebrauch dem ihn darum Ersuchenden in die Hände gegeben.

Jetzt war das Rächerschwert der strafenden Gerechtigkeit in die Hände des wüthenden, im Blutdurst und wilder Zerstörungssucht immer mehr sich entflammenden Volkes. Die Stelle der damals noch nicht erfundenen Guillotine vertrat einstweilen der berüchtigte Laternenpfahl, die Procedur dabei war noch kürzer; schauerliche Mordthaten fielen täglich vor, doch wir in der Ferne gedachten nur der Missethaten der Mächtigen und Großen, die das jetzt nicht mehr zu bändigende Volk bis zur Verzweiflung getrieben, und entschädigten, was wir nicht billigen konnten.

Lustig sangen wir ah ça ira, ça ira, ça ira! les aristocrates à la lanterne! und wären halb des Todes gewesen, hätten wir Einen von ihnen hinführen sehen müssen; absonderlich ich, die ich über meine gefiederten Unterthanen auf dem Hühnerhofe nie ohne bängliches Herzklopfen ein Todesurtheil aussprechen konnte.

Das aber ist die alles Schauerliche, alles Traurige mildernde Gewalt der Entfernung; über einen [25] gebrochenen Arm im Hause des Nachbars, über die blutende Stirn eines auf unserer Schwelle gefallenen fremden Kindes, traten Thränen des Mitleids uns ins Auge, aber gelassenen Sinnes lesen wir den Bericht einer Schlacht, in welcher Tausende fielen, der brennenden Wunden, des unendlichen Jammers der schwerverwundet auf dem Schlachtfelde Vergessenen, des peinlichen Todeskampfes der verlassen Hinterbliebenen gedenken wir dabei nicht.

Wer aber hielte es aus, wer könnte die Stunde überleben, in welcher all das Elend sich recht anschaulich vor ihm ausbreitete, das nur im kurzen Verlaufe von nicht mehr als sechzig Minuten sich fortwährend über unsere Erde ergießt! Wohl uns, daß wir sind, wie wir eben sind, und daß der dichte Schleier, der unsere Zukunft deckt, auch jene durch den Raum weit von uns getrennte Gegenwart uns schonend verhüllt!

Die Macht des Wortes, die Alles mit sich fortreißende Gewalt jener ohne Vorbereitung unmittelbar dem Herzen, der innersten, festesten Ueberzeugung entströmenden Beredsamkeit zeigte sich damals in Paris in ihrer höchsten Kraft. Auf öffentlichen Plätzen, auf den Boulevards, an jeder Straßenecke erhoben sich Stimmen aus der Mitte des Volks, [26] deren Zauber sich unwiderstehlich erwies, indem er die Menge zu Thaten hinriß, über welche, wenn sie vollbracht waren, vielleicht die Thäter selbst mitunter ein Grausen überkam.

La Fayette! Mirabeau! Péthion! Bailly! und so Viele noch, deren damals auf allen Zungen schwebende Namen jetzt verklungen sind! wie erglühte ich in freudiger Begeisterung, wenn ich in stillen Abendstunden meinem Manne und etwa noch zweien oder dreien seiner vertrautesten Freunde ihre Reden vorlas, welche der Moniteur uns getreulich mittheilte! Wie beseeligte uns die sichere Erwartung einer jetzt zwar im Sturm nahenden, aber gewiß einst Freiheit, Friede und Bürgerglück verbreitenden goldenen Zeit.

Bei alledem hütete ich mich davor, mit meinem Enthusiasmus für das Treiben in Paris prunken zu wollen. Mirabeau’s häßliche Fratze, von der behauptet wurde, daß sie, wenn er begeistert, in ernste Schönheit sich umwandle, war zwar auf meinem Fächer gemalt, und Lafayette’s edlere Züge schmückten mein Armband; doch das waren gewissermaßen aus Paris uns zukommende Modeartikel, welche auch von Frauen getragen wurden, die weiter keine besondere Idee damit verbanden. Andere äußere Andeutungen meiner politischen Gesinnungen habe ich mir nie erlaubt; [27] nie habe ich die drei Farben als Wahrzeichen derselben zur Schau getragen, und hätte um keinen Preis die rothe Jakobinermütze aufsetzen mögen, mit welcher durch Geist und Talent übrigens ausgezeichnete deutsche Frauen in Mainz öffentlich herumspazierten, und zur allgemeinen Aufregung des Volkes nach Kräften beitrugen. Des berühmten Forsters Gattin, späterhin die als Therese Huber rühmlichst bekannte Schriftstellerin, wurde unter diesen besonders genannt.

Alles männliche Thun war und blieb mir von jeher an Frauen verhaßt; wenn es Noth thut, im Herzen männlicher Muth, übrigens aber kein Versuch in Kleidung, Ansprüchen und Betragen uns den Männern zu nähern, schien allein mir geziemend und recht.

Bei aller innern Aufregung ging das Leben übrigens mit mir seinen gewohnten friedlichen Gang. In Stutthof, in Danzig, in meinem geliebten Oliva, verlebte ich im angenehmsten Wechsel gar freundliche Tage, nur wollte, besonders wenn ich meines schönen Besitzthums in Oliva mich recht innig erfreute, ohne alle weitere Veranlassung ein wehmüthiges Vorgefühl mich oft beschleichen, als ob das Alles mir nur gleichsam geborgt wäre, und ich vielleicht bald es verlieren müsse.

[28] Unsere Nachbarschaft hatte inzwischen durch den Nachfolger des unlängst verstorbenen Abtes in Oliva an Annehmlichkeit bedeutend gewonnen. An die Stelle jenes frommen Greises, der als ein geborner Pole nur die Sprache seines Landes kannte, in klösterlicher Zurückgezogenheit lebte, und an dem, was übrigens in der Welt vorging, keinen Antheil nahm, hatte der König von Preußen den Fürstbischof von Ermland aus dem Hause der Hohenzollern ernannt. Früher Militair, wenn ich nicht irre, Obrist in französischen Diensten, hatte dieser am Abend seines Lebens das ritterliche Schwert gegen den geistlichen Krummstab vertauscht, und zog den Aufenthalt in Oliva dem geistlichen Prunk seines Bisthums vor, um in ländlicher Einfachheit sich der letzten Strahlen seiner sinkenden Lebenssonne zu erfreuen.

Seiner hohen geistlichen Würde unbeschadet, war der Fürstbischof im reinsten Sinne des Wort, ein lebensfroher, mit den Convenienzen feinerer Geselligkeit wohlvertrauter Weltmann geblieben. Freilich verreiste er gern, um dem ermüdenden Pomp der Frohnleichnamsprozession zu entgehen, und die drei Predigten, die einzigen, die er sein Lebenlang zu halten verpflichtet war, wurden von einem Jahr zum andern verschoben, bis seine eigne Lebensuhr darüber ablief; aber er war [29] wohlthätig, nachsichtig und schonend gegen Arme und ihm Untergebene, und wurde dafür allgemein geehrt und geliebt. Heiter und anspruchslos von Natur, war er seinen Nachbarn in Oliva ein stets willkommener Gast, Jung und Alt eilte freudig ihm entgegen, wenn man seiner Abbé-Perrücke, seines langen violetten Ueberrocks, seiner violetten Strümpfe von fern ansichtig wurde, als Bischof war er dem Tragen der Mönchstracht seines Klosters überhoben.

Zwar sagte er ein wenig öfter als gerade nothwendig gewesen wäre, mon cousin, le Roi! aber wer hätte es übers Herz bringen mögen, dem freundlichen Manne diese kleine Schwäche zu verargen! Seine große Vorliebe für Gartenbaukunst, besonders für Veredlung der Obstbaumzucht, führte ein recht freundliches Verhältniß zwischen ihm und meinem Manne herbei, während ich die größte Freude an den herrlichen Blumen, besonders an den Nelken hatte, die er zog und die ich nie wieder in solch übergroßer Pracht gesehen habe. Verzierung und Anlage seines großen Gartens war freilich barock, und würde jetzt lächerlich erscheinen; doch war es der nur etwas überladene, in Deutschland ziemlich allgemein verbreitete Geschmack der damaligen Zeit, die ihn den englischen nannte. Wo nur irgend ein Plätzchen sich [30] dazu vorfand, waren poetische Inschriften angebracht, um die Spazierenden gleich zu belehren, was sie an dieser oder jener Stelle zu empfinden hätten, und da der Bischof in Folge der ihm eignen Gemüthlichkeit den Zutritt in seinen Garten gern erlaubte und sich freuete, ihn an Sonn- und Feiertagen recht belebt zu sehen, so wimmelte es an solchen Tagen von Besuchern, die sich eifrig bemüheten, die ihnen hier dargebotenen Sprüchlein zu studiren und die sie umgebende Pracht der Natur gänzlich vergaßen.

Aber noch ganz andere Raritäten drängten im Innern des aus dem Französischen ins sein sollende Englische gewaltsam übersetzten Gartens sich auf; fürchterliche chinesische und indische Götzenbilder grinzten aus Rosen- und Jelängerjelieber-Lauben die Vorübergehenden an. Grimmige Bären von Holz, ebenfalls naturgetreu angestrichen, kletterten an den Stämmen alter Bäume empor, Affen, Eichhörnchen, Papageien, Alles aus der nämlichen Fabrik, wiegten sich in den Zweigen, auch Löwe und Tigerthier waren vorhanden, als ob man beabsichtige, Raffs Naturgeschichte in kolossalem Maßstabe hier plastisch darzustellen; und doch war es unmöglich, bittern Spott sich hier zu erlauben. Eines unmerklich über die Lippen hingleitenden Lächelns konnte man sich freilich dabei nicht [31] erwehren, aber der Eigner und Erfinder dieser sonderbaren Schöpfung hatte eine so rein kindliche Freude daran, er selbst war in seinem Gebiet so unablässig für das Vergnügen anderer ihm völlig unbekannter Leute bemüht, daß es barbarisch gewesen wäre, durch herben Tadel ihm sein eignes zu verderben.

Eine einzige alte Allee zu schwindelnder Höhe emporgewachsener geschorener Buchenhecken, deren Gleichen ich nie gesehen, zeichnet diesen Garten vor allen ihm ähnlichen aus; das grandioseste Rokoko, das sich erdenken läßt. Möge jetzt, wo Kloster Oliva durch den Tod seines letzten Mönchs verödet ist, der gute Genius des Ortes Wind und Frost davon abwehren, und nie dulden, daß eine mörderische Axt vernichtend ihm nahe.

Im schönsten Verhältniß ihrer Breite, zu der erstaunenswürdigen Höhe ihrer grünen Laubwände, durchschneidet diese Allee, von der Gartenfronte des Schlosses an, nicht nur die Länge des Gartens, sondern reicht noch wenigstens eine Stunde über denselben hinaus, bis dicht an das ferne Gestade der Ostsee, deren tiefblaue Wogen sie begrenzen. So scheint es wenigstens dem durch optische Kunst getäuschten Auge, und diese Täuschung schwindet nicht, bis man [32] die Allee hinunter an die eigentliche durch ein breites Aha gebildete Grenze derselben gelangt. Das bedeutende, die Allee von einem ihr gegenüberliegenden Fichtenwäldchen trennende Stück Feld, so wie auch das nicht kleinere, auf der anderen Seite des Gehölzes zwischen diesem und dem Meeresufer belegene, sind durch weise Berechnung der Grundfläche dem Auge völlig entzogen; der Wald so durchhauen, daß er wie eine ununterbrochene Fortsetzung der hohen Buchenwände der Allee und die Ostsee wirklich die äußerste Grenze derselben zu umspülen scheint.

Wenn man hier an die Stelle dieses Prachtstückes altfranzösischer Gartenkunst eine krausgewundene, von nordamerikanischem Gesträuch umschattete englische Anlage der neuern Zeit sich denkt, die allerdings als Umgebung eines bürgerlichen Landhauses ganz an ihrem Orte sich befindet, dann erst fühlt man, welche fast poetische Lebensweisheit in le Nôtres Beginnen vorwaltete. Vornehme Leute müssen auch im Grünen sich vornehm ergehen können, und die ihre Paläste zunächst umgebenden Anlagen dürfen daher mit vollen Rechte nur als Uebergang aus ihren Prunkgemächern in die freie Natur sich darstellen.

Gegen Ende der achtziger oder ganz zu Anfange der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts führte [33] eine Reise den König von Preußen in die Nähe von Danzig, und veranlaßte ihn, Oliva als einen sehr willkommenen Ruhepunkt zu betrachten. Wie entzückt der Fürstbischof über diesen ihm zugedachten Besuch, als neuen Beweis der königlichen Gnade war, wie er Alles aufbot, was an Erfindungsgeist ihm zu Gebote stand, um »mon cousin le Roi« recht ausgezeichnet zu empfangen und zu bewirthen, bedarf wohl kaum der Erwähnung.

Während nun im bischöflichen Schlosse Alles mit Vorbereitungen zu dem großen Tage vollauf zu thun hatte, waren aber auch meine schaulustigen Landsleute in der Stadt nicht weniger geschäftig, und unerachtet ihres Hasses gegen Preußen, nicht etwa in feindseliger Absicht. Es galt nur den Tag und die Stunde genau zu erspähen, in welcher der König, die Wälle der Stadt von außen umfahrend, durch die nach Langefuhr führende Allee den Weg nach Oliva einschlagen werde. Daß er die Stadt umgehend sie seitwärts liegen lasse, war voraus zu sehen, und doch wollten die Bürger diese, für den größten Theil derselben erste, und wahrscheinlich einzige Gelegenheit, einen König von Angesicht zu Angesicht zu schauen, nicht unbenutzt vorübergehen lassen.

Der Tag kam, die ganze Stadt zog hinaus, nur [34] hülflose Greise, neugeborne Kinder, Krüppel und Kranke blieben ihn ihren vier Pfählen. Ein unübersehbares Gewühl vieler Tausende aus allen Ständen umwogte in ungeduldiger Erwartung des Monarchen den Platz vor dem Thore, über den er fahren mußte. Friedrich Wilhelm II. war bel homme ganz im französischen Sinne des Wortes, seine imposante Gestalt reichte über das Gewöhnliche hinaus, und überragte bei weitem die Köpfe seiner Unterthanen; die weder schönen noch häßlichen, weder anziehenden noch abstoßenden Züge seines Gesichts erinnerten keineswegs an seinen großen Vorfahren, gewannen aber ungemein, wenn ein gewisser Ausdruck wohlwollender Freundlichkeit, der ihm sehr wohl stand, sie belebte.

Schritt für Schritt fuhr er, im offenen Wagen, durch die ihn umwogende Menschenfluth, und schon aus der Ferne wirkte der Anblick des Königs mit magischer Gewalt. Als er näher kommend nach allen Seiten hin freundlich grüßte, da kannte die Begeisterung keine Grenzen mehr; Hüte und Tücher winkten allgemeines Entzücken ihm zu, Hurrahs waren außerhalb Rußlands noch nicht gebräuchlich, aber in seliger Unbewußtheit glitt manches Lebehoch über Lippen, die bis dahin nur Verwünschung Preußens und alles Preußischen gekannt hatten. In der Stadt [35] war den ganzen Tag nur von dem schönen freundlichen Herrn die Rede, und wer unter den Bürgern sich nahe genug an seinen Wagen gedrängt hatte, um wähnen zu können, daß der Gruß der Majestät ihm besonders gegolten, hörte nicht auf, diesen merkwürdigen Glücksfall zu preisen.

Ich selbst war an jenem Tage mit dem Empfange meiner Freunde und Bekannten in Oliva beschäftigt, die es vorzogen, den König dort vorüberfahren zu sehen und ihm später vielleicht noch einmal auf einem Spaziergange im bischöflichen Garten zu begegnen. Sehr glaubwürdige Männer als Augenzeugen behaupteten indessen, Friedrich Wilhelms II. Anblick habe so durchaus berauschend die Geister aufgeregt, daß es dem Könige möglich gewesen sein würde, vom Volke selbst in die, nach fast zwanzigjährigem Widerstande ihm freiwillig huldigende alte Hansestadt sich triumphirend einführen zu lassen, hätte er, mit Mirabeau’s Redekunst begabt, die Gunst des Augenblicks geschickt zu benutzen gewußt.

Wie aber am folgenden Tage, nach ausgeschlafenem Rausche, das Erwachen aus demselben sich möchte gestaltet haben, das freilich ist eine der Fragen, die am besten unerörtert bleiben.

Soviel bleibt indessen gewiß, wäre den Gesalbten [36] des Herrn der ganze Umfang der ihnen von oben verliehenen Zauberkraft bekannt, wüßten sie genau, was sie mit einem Blick, einem Wort, einem Zeichen rein menschlicher Theilnahme über die Gemüther vermögen, sie würden Wunder bewirken, über deren glückliches Vollbringen sie selbst erstaunen müßten. –




So weit hatte meine Mutter geschrieben, als unerwartet, ja ungeahnt, der Tod wie ein längerer Schlummer sie überschlich – sie legte die Feder nieder und entschlief in der Nacht des sechzehnten Aprils schmerzlos, ohne Vorgefühl ihrer Auflösung.

Es ist mir nicht möglich zu ergänzen, was sie unvollendet zurückließ, doch hoffe ich, daß es ihren Lesern lieb sein werde, wenigstens die Umrisse der ferneren Gestaltung ihres Lebens in diesen Blättern aufbewahrt zu finden. Meiner Mutter Charakteristik liegt in fast allen ihren Schriften zu Tage; sie ließ alles Aueßere ruhig auf sich einwirken und blieb dennoch im Innern sich gleich; sie ertrug unendlich viel Schweres ohne Klage, und genoß alles Gute, was ihr das Dasein bot, mit dankbar heiterem Gemüth. – [37] Als hätte der Tod die Anmuth ihrer ganzen Existenz gescheut, nahte er mit leiser schonender Hand, und fast könnte man sagen, sie sei mit einer heitern Lebenshoffnung auf den Lippen gestorben.

Von den abgebrochenen Memoiren finden sich noch folgende wenige Seiten des Schema’s, die gleichsam Ueberschriften zu den leider ungeschrieben gebliebenen Kapiteln derselben bilden. Ich erlaube mir, sie ganz unverändert als bloße Notizen hier wieder zu geben, um ihnen in den folgenden Blättern einige Erläuterungen anreihen zu können.


Zweiter und dritter Band.

Der Ausbruch der französischen Revolution im Jahr 1789 erhöht meine republikanischen Gesinnungen bis zur Begeisterung. Mein Mann, wie Alle damals, theilte sie mit mir; der Moniteur, und die in demselben enthaltenen trefflichen Reden verblendeten uns gegen die Greuel, die wir nur aus Beschreibungen in der Ferne kennen lernten.

Im Jahr 1793 wurde Danzig blockirt und verlor den letzten armseligen Schimmer von Freiheit, den man der Stadt gelassen, er hatte ihr Elend nur vermehrt, aber die empörten Gemüther der Bürger vermochten nicht sogleich dieses zu fassen.

[38] Mein Mann und ich hatten längst beschlossen, mit sehr bedeutenden Opfern unsere Vaterstadt zu verlassen, wenn sie jemals unter preußische Oberherrschaft gelangen sollte, und führten diesen Entschluß aus, sobald wir die Gewißheit erlangten, daß dies unvermeidlich sei, und zwar innerhalb vierundzwanzig Stunden. –

Unsere Emigration durch das damalige schwedische Pommern nach Hamburg. Im März 1793.

Vergleichung beider alten Hansestädte. Das Treiben von vierzigtausend Emigranten in Hamburg; gesellige Zustände, Sitten, Gebräuche wie sie vor fünfundvierzig Jahren dort noch existirten, und allmälig im Lauf von zwölf Jahren sich umgestalteten.

Reise nach Danzig im Jahr 1794, wie ich dort allmälig mit den vorgegangenen Veränderungen mich aussöhnte. Mein Leben in Hamburg, kleinere und größere Reisen nach Holstein, Dresden, Karlsbad, Berlin, doch keine Reisebeschreibung. –

Merkwürdige Bekanntschaften. Klopstock, Domherr Meyer, Tischbein, der Neapolitanische. – Doctor Reimarus, Baron von Staël, Gemahl der berühmten Frau von Staël, Madame Chevalier, Professor Büsch, Graf Reinhard, Professor Meisner aus Prag, Feldmarschall [39] von Kalkreuth, das Sieveking’sche Haus etc., Lady Hamilton, Nelson.

Die große beschriebene Reise von 1803 bis 1805, von der ich nur Einiges nicht Erwähnte nachholen werde, insofern es mich persönlich betrifft. –

Plötzlicher Tod meines Mannes nach unserer Rückkehr nach Hamburg. Mein Entschluß nach Weimar zu ziehen. Ankunft daselbst 1806, vierzehn Tage vor der Schlacht bei Jena. – Wiederfinden daselbst meines alten geehrten Freundes, General Feldmarschalls von Kalkreuth.

Die nun folgende, sehr ereignißreiche Zeit, Goethe’s Heirath, seine Frau, sein Sohn August. Meine durch die wunderbare Zeit sich verbreitenden Verbindungen. Herzogin Amalia. Die fürstlichen Personen des Hofes. Die beiden letzten Herzöge von Gotha. Der jetztverstorbene Erbgroßherzog von Mecklenburg-Schwerin, der damalige Erbgroßherzog von Mecklenburg-Strelitz. Die Herzogin von Hildburghausen. Bettina in Weimar, durch Goethe bei mir eingeführt.

Mein Salon, der wöchentlich zweimal bei mir sich versammelte, und der wohl sobald nicht wieder sich zusammen finden wird. Alle bedeutenden Fremden, die einige Zeit in Weimar verweilten, wurden bei mir eingeführt. Nur wenige der Hauptpersonen, [40] die meine Zirkel bildeten, kann ich hier nennen, ohne zu weitläufig zu werden. Goethe, Wieland, Heinrich Meyer, Falk, Fernow, Bertuch Vater und Sohn, Zacharias Werner, Friedrich Majer, Froriep, St. Schütze, Riemer, Grimm aus Kassel, Fürst Pückler und Viele mehr. – An Stoff fehlte es nicht!

Dann kam der Befreiungskrieg mit seinen gewaltigen Ereignissen, es folgte die ruhige Friedenszeit. Badereisen etc.; überall neue interessante Bekanntschaften. –

Im Jahr 1829 verließ ich Weimar, um am Rhein ein milderes Klima aufzusuchen. Zeit, Raum und meine Stimmung werden entscheiden, wie viel und was ich aus meinem achtjährigen Aufenthalt in Bonn mittheilen werde.

Alte Anhänglichkeit an Weimar hat seit sechs Monaten mich wieder in das Land gezogen, das gewissermaßen mein zweites Vaterland geworden ist, und wo ich, in Jena, das Ende meiner Tage abzuwarten gedenke.




Und es geschah leider wie sie es gedacht! Kaum ein halbes Jahr nach unserer Ankunft schlossen sich ihre klaren Augen für immer! – Ich kann nicht [41] umhin, der Gnade unseres Durchlauchtigsten Fürstenpaares tief dankbar zu erwähnen, das ihr durch eine Pension den letzten Erdenwunsch gewährte, den, unter ihren alten Freunden und Umgebungen zu sterben! Auch erlaube ich mir zu gleicher Zeit allen Denen zu danken, deren treue Neigung und Pflege ihre letzten Tage verschönten!




Indem ich nun nachfolgende, theils vor Jahren einzeln erschienene, theils bisher ungedruckte Aufsätze, chronologisch geordnet, dem Publikum übergebe, glaube ich, wie aus dem Vorhergehenden erhellt, dem Plane der Verstorbenen zu folgen. Leider findet sich nichts Mittheilbares über ihren zwölfjährigen Aufenthalt in Hamburg, den freilich häufige und sehr lange Abwesenheiten unterbrachen.

Meines Vaters fester, worthaltender Charakter ließ ihn in dem einmal gefaßten Entschlusse beharren und ihn ausführen: bei der Besitznahme von Danzig verließen er und meine Mutter ihre Vaterstadt, die er selbst nie wieder betrat, obschon er, einem Versprechen gemäß, meiner Mutter alle vier Jahre hinzureisen gestattete, um ihr und ihren Verwandten die schmerzliche Trennung zu erleichtern.

[42] Die Beschreibungen der Reisen meiner Eltern von Hamburg aus haben zuerst meiner Mutter einen literarischen Namen erworben. Nachstehendes Bild Münchens, wie es vor sechs und dreißig Jahren ihrem unbefangenen Blicke sich darbot, ist aus der nämlichen Quelle, aus ihren damaligen Tagebüchern geschöpft, und hat vielleicht wegen des großen Contrastes zur Gegenwart ein erneuetes frisches Interesse. Ich gebe es ganz unverändert wieder. Die beiden andern Aufsätze bestimmte sie selbst für die Memoiren; sie sind vor Jahren theilweise im Rheinischen Taschenbuche erschienen, doch nicht so allgemein bekannt, daß ich die Theilnahme für dieselben erloschen glauben dürfte; auch dienen sie zur Vervollständigung der Reisen.