Johannes Scherr (Nachruf)
Johannes Scherr.
Unser Blatt hat einen der ältesten und bewährtesten Mitarbeiter verloren: Johannes Scherr ist am 22. November in Zürich gestorben. Wie oft hat er durch seine Beiträge, die sich durch die Originalität des Stils und der Weltanschauung auszeichnen, unsere Leser zu fesseln gewußt! Nirgends bewegte er sich in den ausgefahrenen Gleisen; voll Mark und Kraft war seine Darstellung, und mochte auch dieser oder jener Gedanke in seinen Aufsätzen und Schriften einmal befremden: er war doch der Ausdruck einer frischen, energischen, auf sich selbst ruhenden Persönlichkeit, die sich neben vielen abgeblaßten Tagesschriftstellern in ihrer ganzen Ursprünglichkeit bedeutsam abhob.
Johannes Scherr ist am 3. Oktober 1817 zu Hohenrechberg in Württemberg geboren und studirte in Tübingen, wo er auch 1840 promovirte. Dann leitete er zusammen mit seinem Bruder, Ignaz Scherr, einem tüchtigen Schulmann, der sich durch pädagogische Schriften einen Namen gemacht, eine Erziehungsanstalt in Winterthur und siedelte später nach Stuttgart über; doch auch hier war seines Bleibens nicht; er hatte sich an der revolutionären Bewegung des Jahres 1849 betheiligt; als Volksvertreter in dem aufgelösten württembergischen Abgeordnetenhause war er mit Verhaftung bedroht und mußte sich daher wieder nach der Schweiz flüchten. Nach kurzem Aufenthalte in Zürich und einem längeren in Winterthur folgte er im Jahre 1860 einem Rufe nach Zürich als Professor der Geschichte am dortigen Polytechnikum.
Wenn er auch aus dem Gebiete der Geschichte einzelne Zeiträume und Persönlichkeiten von besonderem Interesse herausgriff, um sie in lebensvoller Darstellung der Lesewelt vorzuführen, so liegt doch der Schwerpunkt seines litterarischen Wirkens auf dem Gebiete der Kultur- und Litteraturgeschichte. Und wir halten es für ein nicht geringes Verdienst des geistreichen Schriftstellers, daß er den Blick wieder auf das Große und Ganze der litterargeschichtlichen Entwickelung richtete und einen seit Wachler’s Zeiten allzu sehr vernachlässigten Zweig des Studiums, die allgemeine Litteraturgeschichte, wieder der Theilnahme der Zeitgenossen näher rückte. Es gehörte freilich eine seltene Belesenheit dazu, um die „Allgemeine Geschichte der Litteratur“ zu verfassen, welche mit jeder neuen Auflage sich wesentlich vervollständigte, und die nicht nur den Gang der Entwickelung des Schriftthums bei den einzelnen Nationen darlegte, sondern auch die großen Dichter aller Völker und Zeiten mit scharfen Umrissen und energischem Kolorit darstellte. Eine Ergänzung zu diesem Hauptwerke Scherr’s bildet der „Bildersaal der Weltlitteratur“, in welchem die Dichter aller Jahrhunderte selbst in ausgewählten Uebersetzungen zur Sprache kommen.
Ein nicht geringes Verdienst hat sich Scherr um die Kulturgeschichte erworben und wesentlich mit dazu beigetragen, daß diese bisher als Aschenbrödel behandelte Schwester der Weltgeschichte sich mit gleichem Rechte neben dieselbe stellen konnte. Seine „Deutsche Kultur- und Sittengeschichte“ ist inhaltsreich und bahnbrechend auf diesem Gebiete; daran schließt sich seine „Geschichte der deutschen Frauenwelt“ und andere Schriften.
In diesen seinen Hauptwerken behauptete Scherr eine wissenschaftliche Haltung, wenn auch das Eigenartige seiner Auffassungs- und Darstellungsweise sich nirgends verleugnete; in „Goethe’s Jugend“, in seinen Studien, die in verschiedenen Sammlungen erschienen, sowie in zwei größeren Werken „Schiller und seine Zeit“ und „Blücher, seine Zeit und sein Leben“ tritt er in die Fußtapfen Carlyle’s, und wie dieser in seiner Lebensbeschreibung Friedrich’s des Großen eine außerordentliche Fülle von Material, das oft nur in sehr mittelbarer Beziehung zu seinem Helden stand, aufhäufte und mit leuchtenden Geistes- und Witzesfunken Nahes und Fernes erhellte: so ließ auch Scherr seine Helden oft auf längere Zeit vom Schauplatz abtreten, um in großen kulturgeschichtlichen Kapiteln eine Fülle von Thatsachen zusammenzuraffen und diese Geschichtsbilder oft mit kraus wunderlichen Arabesken zu umrahmen.
Scherr besitzt eine große Entschiedenheit und Entschlossenheit des Denkens, die sich in allen seinen Urtheilen ausprägt. Als ein zum Zuchthaus verurtheilter Republikaner der vormärzlichen Zeit huldigte er lange Zeit einem Radikalismus, der mit einem gewissen Behagen, besonders wo es die Kulturgeschichte der Fürsten, der Höfe und der Regierungen galt, sich der riesigen und undankbaren Aufgabe widmete, „den Weltaugiasstall des Köhlerglaubens mit dem eisernen Kehrbesen der Wahrheit reinzufegen.“ In diesem Geiste ist noch seine Geschichte des Jahres 1848 und diejenige der vier folgenden Jahre geschrieben; doch verstockte er sich keineswegs gegen die Großthaten der letzten Jahrzehnte, welche soviel von dem verwirklicht hatten, was die vormärzliche Begeisterung ersehnte, und wenn er jene frühere Zeit als eine „Komödie der Weltgeschichte“ geschildert hatte, so waren seine „Vier Bücher deutscher Geschichte“ (1870 bis 1871) als ein schwunghaftes, von nationaler Gesinnung warmbeseeltes Epos zu betrachten. Und in gleichem Sinne verfaßte er sein Prachtwerk: „Germania, zwei Jahrtausende deutschen Lebens“; es schien ihm der historische Glanzpunkt für den Abschluß desselben erreicht zu sein.
Scherr hatte seine schriftstellerische Thätigkeit als Novellist mit historischen Erzählungen begonnen wie „Der Prophet von Florenz“ (1845), „Die Waise von Wien“ (1847) und er hat noch später Novellenbücher und historische Novellen herausgegeben, auch in seinem „Michel“ und „Doktor Sauerampfer“ einem mit tiefeinschneidender Satire gemischten Humor gehuldigt. Die Grenzen zwischen seinen historischen Novellen und anekdotisch reich ausgestatteten Geschichtsbildern waren fließende, beiden gemeinsam die lebendige und markige Darstellungsgabe.
Unsern Lesern werden die zahlreichen Aufsätze, die er unserem Blatte beigesteuert, wegen ihrer ausdrucksvollen Darstellung stets in willkommener Erinnerung bleiben: das deutsche Volk aber wird einem Schriftsteller von solcher Energie des Charakters und Originalität der Auffassung und Schilderung, dessen Werke wie erratische Blöcke im Flachland unserer Litteratur emporragen, stets ein ehrendes Angedenken weihen. †