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Autor: W. Heimburg
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Titel: Jascha
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aus: Die Gartenlaube, Heft 51–53, S. 841–847, 861–867, 881–886
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1887
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[841]

Jascha.

Von W. Heimburg.

In einer kleinen Stadt, von köstlichen Wäldern umgeben, finden Mädchen von fünfzehn bis achtzehn Jahren im Hause einer hochgebildeten Frau Pension. Fern von dem Getriebe der Großstadt bietet der Aufenthalt, neben Unterricht in Litteratur, Konversation und Musik, den jungen Mädchen die reinsten Freuden einer schönen Natur, eines harmonischen Zusammenlebens und die vollste Gelegenheit, in der ozonreichen Luft ihre Gesundheit zu kräftigen. Bedingungen, Referenzen etc.“

Man muß nun nicht an eine Pension denken, wo man noch auf den Schulbänken zu sitzen pflegt; wir waren sämmtlich erwachsen, zwei von uns bereits verlobt – Lene Beckenschild und ich. Aber darum konnten wir doch alle die Wohlthaten vertragen, welche die obige Annonce verhieß; und das Zusammensein mit fröhlichen gleichalterigen Genossinnen, die gütige Fürsorge der liebenswürdigen Vorsteherin und die erfrischende Waldluft stählten Geist und Herz für künftige schwere Zeiten. Ich spüre noch heute den Segen jener harmlosen köstlichen Jahre, die ich bei Frau Doktor Degenhardt verlebte. Und wie oft noch bin ich Nachts im Traum in jenem großen alten Hause, in seinen geräumigen trauten Zimmern, in dem schattigen Garten, der es umgab!

Mehr als zwölf Pensionärinnen nahm Frau Doktor nie; einmal nur wurden wir auf kurze Zeit – dreizehn. Auf kurze Zeit – es war so traurig! Man sollte wohl traurige Geschichten nicht erzählen; und doch, sie, von der diese Zeilen sprechen, war es wohl werth, daß man ihrer gedenkt. Und heute, wo wiederum der Herbst da ist und die Blätter fallen, gedenke ich ihrer so recht lebhaft und jenes Septembers, da ich ihr nahe treten konnte.

Des Augenblicks, als sie zu uns kam, erinnere ich mich noch so deutlich! Wir saßen alle Zwölf im Saal, ganz verschieden beschäftigt; es war einer der Tage, an denen bei Strafe kein Wörtchen Deutsch gesprochen werden durfte, und Mademoiselle Cecile, die hübsche lebhafte Französin, schwang heute ihr Scepter: die Engländerin saß stumm am Ofen – es war im März – und nähte points lace für einen jener großen altmodischen Kragen, die sie beständig über dem Kleide zu tragen pflegte; sie sah mißmuthig aus und fröstelte. Frau Doktor las uns Etwas vor. Was? – Das habe ich heute vergessen. Auf einmal scholl schmetternd ein Posthorn herauf, ein Wagen rasselte über das Pflaster, und Mademoiselle, die an das Fenster geeilt war, schrie: „Mon dieu, quelle surprise, une visite pour notre maison – voilà madame.

Wahrhaftig! Schon nach ein paar Minuten stürzte [842] Johanne in das Zimmer mit einer Karte, ob Frau Doktor die Damen empfangen wolle.

Frau Doktor befahl, dieselben in ihr Zimmer zu führen, und nun saßen wir da, neugierig wie die Spatzen, denn ein Besuch per Extrapost war für unser sehr stilles Leben immerhin ein Ereigniß. Mademoiselle, die ebenfalls an Wissensdrang litt, lootste Johanne herein.

„Was ist’s?“ fragte sie.

„O, furchtbar fein!“ erwiederte das lustige Stubenmädchen, „die alte Tante im Sammetpelz, und die junge -“

„Eine junge? Sie soll wohl in Pension hier?“

„Noch Eine?“

„Nein, das geht nicht!“

„Das könnte uns fehlen! Wir sind ja schon zwölf!“ klang es durch einander.

„Dreizehn? Das bringt Unglück!“ meinte unsere Jüngste, die blonde Liddy.

„Das brauchen wir nicht zu leiden!“ erklärte Dora von Lindenberg.

Wir waren vor lauter Aufregung in unser geliebtes Deutsch zurückgefallen und sprachen durch einander, abermals wie die Spatzen, wenn sie Morgens erwachen.

„Wie heißen sie denn, Sie hatten ja die Karte, Johanna?“

„Frau Landrath von Ponianska nebst Enkelin,“ rapportirte das Mädchen und zog sich eilends zurück, denn die Glocke schellte aus Frau Doktors Zimmer

Ja, was würde es nur werden? O, Frau Doktor wird sie nicht nehmen, darin waren wir einig. Aber, siehe da, wir hatten uns geirrt, die Frau Landrath im Sammetpelz bestieg allein die Extrapost und fuhr mit dem Abschiedsgruß des Posthorns zum Städtchen hinaus, und bei der Abendtafel ward uns eine neue Hausgenossin, Numero dreizehn, vorgestellt und fand ihren Platz neben Frau Doktor, die liebreich und freundlich mit ihr sprach.

Sie war ein schlankes Mädchen von siebzehn Jahren. Ihre blonden Haare trug sie in einem festen Knoten am Hinterhaupte und so fest zusammengenommen, daß man nicht ahnen konnte, welch eine Fülle goldiger Wellen er barg. Auf der niederen mattweißen Stirn krausten sich ein paar schimmernde Löckchen, die wunderbar genug abstachen gegen die dunklen Brauen, welche sich über ein Paar tiefliegenden großen Augen wölbten, Augen, die in dieses Frühlingsgesicht gar nicht hinein zu gehören schienen: so traurig blickten sie in die Welt. Wenn die etwas schweren Lider gesenkt blieben, glich das schöngeformte Antlitz dem eines Kindes: so weich war der Zug um den schwellenden kleinen Mund, so thaufrisch die bleiche Haut, so zart die Rundung der Wangen. Hoben sich die Wimpern, so sagten die eigenthümlich grauen Sterne von Leid und trüber Erfahrung mit wahrhaft erschreckender Beredtsamkeit. Sie hieß Jascha im Institut; sie sprach das Deutsche mit einem eigenthümlichen Accent; ich hörte ihr weiches rollendes Zungen-R unendlich gern. Sie brachte es ohne jegliche Mühe hervor und wurde uns „sprachfaulen“ Andern, die so gern das R völlig ignorirten, in der Folge von dem alten Doktor Just als Muster aufgestellt. Der alte Mann konnte völlig in Begeisterung gerathen, las die weiche klingende Mädchenstimme eine Ballade. „Das ist Musik, liebstes Fräulein Jascha, Musik, meine Damen! Achten Sie auf dieses:

‚Hart stößt es auf am Strande –‘

Sie hören förmlich, wie der Uferkies knirscht, wie das Boot sich heran schiebt. Sie würden sämmtlich lesen: ,Hat stößt es auf am Stande‘ –“

Doktor Just blieb in der Folge so ziemlich der Einzige, der Jascha Ponianska Wohlwollen entgegentrug, uns blieb sie fast fremd, den Lehrerinnen auch, und der Frau Doktor, die sich sonst binnen wenigen Wochen die Herzen, auch der Sprödesten unter uns, zu gewinnen wußte, so daß wir sämmtlich mit schwärmerischer Begeisterung an ihr hingen, wollte dieses eine sich nicht zuwenden.

Jascha war stets ruhig; niemals gab ihr Benehmen zum Tadel Anlaß, nie aber that sie auch nur einen Schritt aus dieser Reserve heraus, und unsere für die Ewigkeit geschlossenen schwärmerischen Mädchenfreundschaften, das Raunen und Wispern, das herzerquickende Lachen, das Wichtigthun mit wirklichen oder eingebildeten höchst unschuldigen Geheimnissen, die kleinen muthwilligen Streiche, die wir ab und zu verübten, waren Dinge, für die sie kein Verständniß, nach denen sie kein Verlangen zu haben schien. Wir gaben es daher bald auf, sie für uns zu gewinnen, nannten sie „den polnischen Eiszapfen“ – sie kam aus der preußischen Provinz Posen – und kümmerten uns nicht mehr um sie als um ein Bild an der Wand.

Wenn wir in dem Pensionsgarten umhertollten, pflegte sie – denn hinaus mußte sie mit, um nach Vorschrift frische Luft zu genießen – an dem kleinen Weiher zu sitzen und in das Wasser zu starren, ein recht häßliches unheimliches Wasser, von dem die Sage ging, daß es keinen Grund habe. Es gehörte nicht mehr zu unserem Territorium, es lag bereits auf fürstlichem Gebiet, in dem verwilderten Park, der das Jagdschloß umgab, hier an die Gärten des Städtchens grenzte und nach jenseits in die Wälder überging, die sich meilenweit ausbreiteten. Und just hier hatte die hohe Buchenhecke unseres Gartens eine Lücke, und die Zweige schlugen manchmal über irgend eine helle Gestalt zusammen, wenn es Einer von uns gelüstete, dort am Weiher Vergißmeinnicht zu pflücken oder ein paar Wasserrosen, mit denen Ufer und See überreich geschmückt waren.

Nun, dort pflegte Jascha zu sitzen und wir ließen sie, denn sie war uns die Langweiligkeit in Person. Und Lotte von Dahlen, die mit ihr dasselbe Zimmer bewohnte, erklärte ganz offenherzig: es sei zum Verzweifeln, sie halte es nicht länger aus und werde Frau Doktor Degenhardt bitten, ihr eine andere Stube anzuweisen, sie habe nicht Lust, sich todt zu mopsen, wenn wir rechts und links in den Nebenstuben scherzten und kicherten.

Eines Tages, es war mittlerweile Hochsommer geworden, berathschlagten wir im Garten über die lebenden Bilder, die wir zu Frau Doktors Geburtstag stellen wollten, und da wir nothwendig noch eine Person gebrauchten für Vautier’s Tanzstunde und sie, nachdem sie uns ein Weilchen erstaunt angesehen ob dieser Zumuthung, den Kopf schüttelte und sagte: „Ich danke, ich möchte aber lieber nicht mitspielen, ich passe nicht dafür,“ brach bei uns Allen der Unmuth aus.

„Ja – nein – wie Sie wollen!“ – wir nannten uns mit Jascha „Sie“, gegen allen Komment – sei das Einzige, was diese polnische Prinzessin von sich gebe, erklärte Lotte, aber dafür weine sie sehr oft die halben Nächte hindurch, daß man kein Auge zuthun könne, und wenn man sie dann frage, was ihr fehle, schweige sie, oder es komme ein sanftes „O parrdon, störrte ich Sie? Ich habe wohl im Traume geweint. ich träume oft so schwer.“

„Und kurz und gut,“ schloß die niedliche Brünette und hob die schlanke Hand wie zum Schwur, „ich sage Euch, ich will nicht länger mit ihr wohnen, und wenn es Frau Doktor nicht auf meine Bitte ändert, so werde ich mich an Papa wenden, der wird schon dafür sorgen, daß –“

Wir standen alle Elf im Kreise um die Sprecherin – Numero Dreizehn, Jascha Ponianska, saß schon wieder am Weiher außer Hörweite – und waren sämmtlich einer Meinung mit Lotte von Dahlen. „Sie kann ja allein schlafen!“ fügte sie eben noch hinzu.

„Das wird sie nicht, Charlotte!“ scholl da die Stimme der Frau Degenhardt plötzlich in unsere Ohren. Blitzschnell hatten wir Front gemacht und sahen unsere vergötterte Pensionsmutter mit recht verlegenen Gesichtern an.

„Du, Charlotte,“ sagte diese mild, aber bestimmt, „wirst Dein Bette mit Mary tauschen, ich hoffe, sie wird duldsamer sein.“

Aller Blicke hatten sich nach mir gewendet bei Nennung meines Namens. Ich stand fast bestürzt da, und meine Augen füllten sich mit Thränen, es war so wunderschön gewesen bisher mit meiner geliebten Dora in einem Zimmer, und nun sollte das plötzlich Alles vorbei sein? Das heimliche Schwatzen von Bett zu Bett, wenn der Mond verstohlen ins Fenster blickte, das Ausmalen künftigen Glückes, die heimliche Lektüre unseres interessanten Romans, den wir uns bei einem Stearinnachtlichte mit gedämpfter Stimme vorlasen. Wir waren ja just in der Mitte und so recht in der spannendsten Verwickelung: wie sollte ich nun erfahren, was aus Leonore von Rothsattel würde in Freytag’s „Soll und Haben“?

Dora warf mir einen traurigen Blick zu, ich senkte den Kopf und unterdrückte ein Schluchzen, zu widersprechen wagte ich nicht.

„Geh jetzt, Mary,“ klang abermals das milde Organ unserer Vorsteherin, „und setze Johanna von dieser Aenderung in Kenntniß. Ich verlasse mich darauf, daß es freundlich geschieht, ich kenne ja Dein gutes Herz.“

[843] Ich machte eiligst Kehrt, warf mich außer Sehweite auf eine Bank, schluchzte mehrere Minuten lang inbrünstig ob dieser Tyrannei und ging dann in düsterer Stimmung dem Weiher zu, an dem ich Jascha zu suchen hatte.

Richtig, da saß sie. Ich betrachtete sie ein Weilchen von diesseit der Buchenhecke. Sie hatte die Hände im Schoß gefaltet und sah über die kleine Wasserfläche hinweg in die dichte Wirrniß der Bäume, durch welche nur hier und da der glühende Schimmer des Abendroths leuchtete. Es herrschte ein gedämpftes rosiges Licht, und rosig flimmerte es aus dem sonst so finstern Wasser zurück und wob sich rosig um das sonst so blasse Gesicht Jascha’s. Sie trug ihr blaues einfaches Wollkleid wie alle Tage und das schwarze Sammetband um den schlanken Hals, daran leise bebend ein goldenes Kreuz mit Türkisen besetzt hing, ohne welches ich sie noch nie erblickt hatte. Unbeweglich verharrte sie so, sie schaute sich auch nicht um, als ich mich durch die Hecke drängte und zu ihr hinüber schritt. Erst als ich sprach, blickte sie auf, und so sehr wirkten diese traurigen Augen auf mich, daß ich die mißmuthige Art meiner Anrede, welche ich beabsichtigt hatte, unterließ und nur sagte:

„Wir werden zusammen wohnen – von jetzt ab; ich soll es Ihnen mittheilen.“

„O, Sie sind sehrr freundlich!“ erwiederte sie, sich erhebend.

Wir standen dann eine ganze Weile stumm neben einander. Ich wußte Nichts mehr zu sagen, sie offenbar auch nicht. Endlich machte ich eine Bemerkung, daß der Platz hier sehr hübsch sei.

„O, err ist es!“ erwiederte sie, „es ist so friedevoll hierr.“

Dann wieder Pause; das Läuten der Eßglocke klang uns wie erlösend. Ohne ein Wort schlugen wir den Weg durch die Buchenhecke ein und folgten den Andern nach, die eben durch die Gänge eilten. Ich biß plötzlich die Zähne zusammen, vor uns flatterten aus dem Gebüsch wie ein Paar zärtlicher Vögelchen – Dora und Lotte; sie hielten sich um die Taillen gefaßt und schienen ein Herz und eine Seele. O, sie würde mich nicht einen Augenblick vermissen, die Falsche!

Von einem plötzlichen Impuls getrieben, legte ich meinen Arm in den Jascha’s, und ein gezwungen heiteres: „Wartet doch!“ rufend, erlangte ich, daß sich jene beiden umsahen und mich Arm in Arm mit Jascha erblickten.

Das Mädchen hatte meine Annäherung hingenommen, ohne sich zu sträuben, aber auch ohne sie zu erwiedern, sie hielt so höflich ihren Arm gebogen, wie ein schüchterner Jüngling auf dem ersten Ball. An der Hausthür angelangt, trat sie zurück und ließ den Arm sinken. Dora bemerkte es und lachte, und dieses Lachen brachte mich zu dem Gelöbniß, Jascha Ponianska näher zu kommen und sie womöglich als Freundin zu erobern. Aber das schien leichter, als es sich in Wirklichkeit erwies.

Als wir zusammen in das für mich neue Schlafzimmer traten, schickte ich mich zu der bewußten Eroberung an. Ich hatte bereits überlegt und beschlossen, sie feierlich anzureden, das heißt, mit der Thür ins Haus zu fallen, ihr zu sagen, da uns das Schicksal einmal zusammengeführt, wollten wir uns doch ferner nicht mehr so fremd gegenüber stehen, sondern versuchen, uns einander anzuschließen und verstehen zu lernen etc. Ich, als die um ein halbes Jahr Aeltere, die ich nur in der Pension verblieben war, weil mein alter Großvater – meine Eltern waren längst verstorben – fürchtete, daß sein Haus nicht der rechte Platz für ein junges, lebenslustiges Mädchen sei: ich, die heimlich verlobt war mit meinem Vetter Robert, der in zwei Jahren aus Rio zurückkehren würde, um das Geschäft seines Vaters in Hamburg zu übernehmen und mich dann heimzuführen; ich, die ich von Frau Doktor Degenhardt auf Großvaters Wunsch seit einem halben Jahre behandelt wurde wie eine völlig erwachsene Dame, ich konnte das thun; von der Aelteren muß ja stets die Anregung zur Vertraulichkeit ausgehen.

Es war eine warme Julinacht. Der Mond strahlte in das trauliche Gemach und zeigte die schneeweißen Bettvorhänge und einfachen Möbel in fast tagheller Beleuchtung. Jascha begann ihre Nachttoilette sofort, ich setzte mich angekleidet auf einen Stuhl an das offene Fenster und sah ihren Bewegungen zu, sie hatten etwas Langsames, Müdes, ohne der Grazie zu entbehren. Sie kam jetzt in ihrem leisen Schritt herüber und trat vor den Spiegel zwischen den beiden Fenstern, also in meine nächste Nähe; sie sah nicht in das Glas hinein, es mochte dieses Hintreten ganz mechanisch geschehen. Sie hob die beiden schlanken Arme, von denen die weißen weiten Aermel des Frisirmantels weit zurückfielen, zum Hinterhaupt empor und löste ihr Haar.

„Jascha,“ fing ich resolut an, dann verstummte ich, sie hatte, wie erschreckt über diese Anrede, den Kopf nach mir gewandt, und ihr Anblick, das blasse junge Gesicht mit den großen Augensternen, jetzt von einer wahren Goldfluth umwallt, die fast märchenhafte Schönheit dieses Mädchens wirkte so verblüffend auf mich, daß mir die Worte versagten.

„Sie riefen mich? Ja?“ fragte sie leise.

„Ich sagte – ich wollte –“ stotterte ich –. Meine schwungvolle Rede war vergessen, sie kam mir dumm und gesucht vor. Ich meinte plötzlich, daß ich warten müsse, bis dieses Herz sich mir freiwillig zuwende, daß es unzart sei, sich diesem Mädchen aufdrängen zu wollen, aus dessen Blicken ein auf Lebenserfahrung deutender Ernst sprach, der es um Vieles reifer machte, um Vieles höher stellte, als mich, die Aeltere, Unbedeutendere.

„Ist es Ihnen auch nicht störend, daß ich nun hier mit wohne, daß –“ begann ich endlich.

„Aber, ich bitte sehrrr!“ antwortete sie, und ich konnte bemerken, wie ein dunkles Roth über ihr Gesicht floß. Sie bückte sich rasch, nahm den Kamm auf, der ihr entglitten war, und begann die mächtigen Haarwellen zu durchkämmen.

„Setzen Sie sich,“ bat ich, „Sie haben so starkes Haar, es ist unmöglich, daß Sie es allein einflechten.“

„O, Sie sind sehrr freundlich; ich danke, ich thue es stets allein, jetzt. Früher –“

Sie brach ab, indem sie mir wehrte.

„Früher?“ sagte ich unwillkürlich.

„Meine Mut – –“ Diesmal wurde das R nicht ausgesprochen, das Wort blieb unvollendet. Es war, als sei es in einem Aufschluchzen erstickt.

„Jascha,“ fragte ich weich, „ist Ihre Mutter auch todt?“

„Todt!“ wiederholte sie wie abwesend. „Ja, ja!“ stieß sie dann hervor, „sie ist todt.“ Und die Hand, die den Kamm hielt, winkte heftig und abwehrend zu mir hin, als sollte ich schweigen. Eben so hastig barg sie das Haar in einem Netz, eilte ins Zimmer zurück und rüstete sich vollends zum Schlafen. „Gute Nacht!“ klang es gedämpft in mein Ohr. Im nächsten Augenblick lag sie in ihrem langen weißen Nachtkleide vor dem Bette auf den Knieen, die Hände gefaltet, den Kopf gesenkt, und betete.

Merkwürdig lange dünkte es mich, die ich, aus Besorgniß, sie zu stören, keinen Schritt zu thun wagte. Erst als sie sich niederlegte, suchte ich auch mein Lager auf. Schlafen konnte ich nicht, mir war hier Alles fremd, das Bett stand anders als drüben und Jascha’s Gesellschaft kam mir unheimlich vor. Ich wagte einen Blick zu ihr hinüber – sie lag dort, die Hände gefaltet über der Brust, die Augen geschlossen, wie man Todte zu lagern pflegt; ich hörte sie nicht einmal athmen; sie veränderte auch ihre Stellung nicht innerhalb der nächsten Stunden, während welcher ich vergeblich den Schlaf suchte, immer, wenn ich zu ihr hinüber sah, lag sie noch so.

Ich begann, mir allerhand wunderliche Sachen auszudenken in der Stille der Nacht, und alle drehten sich um Jascha. Je öfter ich hinüber sah, desto unheimlicher erschien mir diese unbeweglich ruhende Gestalt. Rasch klopfte mir das Herz, die Luft in dem Raum dünkte mich unerträglich schwül; ich zählte die Schläge der Thurmuhr, der immer gleich die Dielenuhr im Hause folgte, es war ein sonderbarer Zustand zwischen Schlafen und Wachen. Dann sah ich, wie Jascha sich plötzlich im Bett erhob und gleich darauf in ihrem langen Kleide durch das Zimmer wandelte, und ich konnte mich vor herzklopfender Angst nicht bewegen. Mir fielen schreckliche Geschichten ein von nachtwandelnden Personen, das Grauen kroch mir durch den ganzen Körper, und ich fühlte, wie mir die Zungenspitze so merkwürdig schwer im Munde lag.

Sie war an ihre Kommode gegangen, zog leise, ganz leise den Kasten auf und nahm Etwas heraus; in der nächsten Minute saß sie am Fenster, schob den Vorhang ein wenig zur Seite, und den Kopf tief herniederbeugend, schien sie in dem blassen Mondlicht etwas zu lesen. Nun, nachtwandelnde Personen – dachte ich mir – lesen nicht, wie ein Alp fiel es mir von der Brust; und sie schreiben auch nicht, und Jascha that es jetzt. Ich hörte deutlich das Kratzen ihrer Feder und nun auch ein leises Schluchzen; ich sah, wie sie mit der Hand an die Augen fuhr und dann hastig [846] weiterschrieb. Wohl eine halbe Stunde dauerte es, dann zerriß sie ein Papier, es machte Geräusch und sie blickte unwillkürlich zu mir herüber. Als ich mich nicht rührte, fuhr sie bedeutend vorsichtiger fort im Zerreißen.

„Jascha!“ rief ich plötzlich, „was thun Sie denn?“

Sie schrak empor, aber sie antwortete nicht.

„Warum sind Sie nicht im Bette?“ fuhr ich fort. „Sind Sie krank, oder – ?“

Sie kam herüber zu mir, die Papierfragmente noch in der Hand. „Verzeihen Sie – ich schrieb –“

„Ja, aber wie drollig, in der Nacht?“ warf ich unbarmherzig ein. „Wir haben doch wahrhaftig tagsüber Zeit dazu in Fülle!“

Sie entschuldigte sich nicht, sie stand wortlos mit gesenktem Kopfe, und ich sah, wie eine Thräne über die Wange floß.

„O Jascha, weinen Sie nicht,“ bat ich gerührt, „schreiben Sie, so viel Sie wollen –.“

Sie hob stolz den Kopf. „Ich weine nicht mehr, Miß Mary; bitte, glauben Sie mirr, ich thue nichts Unrechtes.“

„Davon bin ich überzeugt!“ versicherte ich.

„Ich danke Ihnen, Miß Mary!“ Sie sagte es mit einem Aufathmen und setzte wie entschuldigend hinzu. „Es ist nicht mein Geheimniß.“

„Bitte, Jascha – Sie können doch selbstverständlich in Ihrem Tagebuche schreiben –.“

„O, Sie haben Recht, Miß Mary, mein Tagebuch. Verzeihen Sie, wenn ich Sie weckte, gleich soll Ruhe herrschen.“

Ich sah, wie sie ein Schreiben kouvertirte und mit der Adresse versah und, den Brief in der Hand, wieder ihr Bett aufsuchte. Ein leises: „Verzeihung!“ klang noch einmal herüber, dann ward es still und ich schlief ein.

Es war am andern Morgen etwas später als gewöhnlich, als ich erwachte. Jascha’s Bett war bereits leer, sie hatte das Zimmer schon verlassen. Am Boden vor meinem Bette lag ein Zettelchen; ich hob es gedankenlos auf und las es gähnend:

„Jascha, mein Leben, mein Glück, verlaß mich nicht! Komm zur bestimmten Zeit an die bewußte Stelle, süßes Kind, daß ich Dich küssen und herzen kann –“

Ich saß mit einem Ruck empor und starrte diese feste große Handschrift an, wirr erinnerte ich mich der Erlebnisse der letzten Nacht, diesen Zettel verlor sie, als sie mit dem zerrissenen Brief an mein Bett trat. Sollte diese Jascha, diese stille theilnahmlose Jascha, dennoch Etwas zu verbergen haben?

Ja natürlich! Jascha hat ein Liebesverhältniß, ein heimliches Liebesverhältniß! Weßhalb würde sie sonst so verstohlen während der Nacht schreiben? O, es ist ja abscheulich! Und mit der sollte man in einem Zimmer – –. Die überstrenge Moral meiner achtzehn Jahre, die ganze Unduldsamkeit dieses Alters, welches das Leben noch nicht kennt, empörte sich in mir. Ich überlegte, während ich mich rasch ankleidete. ob ich zu Frau Doktor gehen solle, um ihr Alles zu entdecken! Natürlich, es wäre das Beste, denn man will doch nicht mit „Einer“ zusammen wohnen, die – – es ist ja nicht auszudenken! Was würde Großmama sagen, was Robert, wenn er es erführe? Robert, der immer zu citiren pflegt: „Sage mir, mit wem Du umgehst, und ich will Dir sagen. wer Du bist!“ Und die Pension! Ihr Ruf wäre dahin.

In der Eile und mit zitternden Händen konnte ich mit meiner Haarfrisur nicht zu Stande kommen. Die Glocke, die uns zum Frühstück rief, läutete hell, und noch immer stand ich und riß die Nadeln aus den Flechten und fuhr mit dem Kamm von Neuem durch die widerspenstigen Haare.

Plötzlich that sich leise die Thür auf und Jascha trat ein. Sie schien erhitzt, warf Hut und Sonnenschirm auf ihr Bett und lief, ohne mich zu bemerken, an ihren Waschtisch, kühlte sich das brennende Gesicht mit dem kalten Wasser, ordnete eilig das Haar und verschwand. Sie hatte ausgesehen, als ob sie einen weiten Weg in der heißen Morgensonne gemacht habe.

Als ich in den Speisesaal mit der üblichen, diesmal wahren Entschuldigung trat, daß ich die Nacht wenig geschlafen und wider Willen das Versäumte am Morgen nachgeholt habe, saß sie schon bleich und still am Tische, vielleicht sogar ungewöhnlich bleich. Wir hatten unsern Platz einander gegenüber und ich bemühte mich, sie garnicht anzusehen; es gelang aber nicht, denn neben mir lag ein Sträußchen Vergißmeinnicht und Farnkräuter, so reizend gewunden und so thaufrisch, als wären sie eben gebrochen. Unwillkürlich sah ich hinüber, ein langer Blick traf mich, ein Blick, der um Schweigen zu bitten schien und heiße Dankbarkeit versprach. Was lag für ein Zauber in diesen Augen, wie kinderrein und traurig blickten sie aus diesem kummerschweren Gesichtchen! – Ich konnte nicht anders, ich mußte bejahend den Kopf neigen, und damit theilte ich, nach meinem Empfinden, ihre Schuld, und Gott weiß, wie schreckliche Stunden ich dadurch erlebt habe. Scheu vor ihr und unerklärliches Mitleid, eine förmliche Sucht, ihren Schritten nachzuspüren, dann wieder mein Stolz, der mich davon zurückhielt, und der echt mädchenhafte Widerwille gegen unlautere Gesinnung. Mir war es, als könne ich sie nicht dulden in dem Raume, wo ich athmen mußte, und zu allem Diesem ein böses Gewissen gegen Frau Doktor. Alles schuf mir schlaflose Nächte und Stunden schwerer Seelenkämpfe.

Ich konnte nach nicht entschließen, mit ihr freundlich zu sprechen, und jetzt war sie die Bittende und Werbende. Sie versuchte alle jenen kleinen Künste, mit denen man ein Menschenherz zu rühren vermag. Das stolze schöne Geschöpf war von einer so sanften Demuth meinen Launen gegenüber, die mich in ihrer Nähe wider Willen befielen als natürliche Folge meines Gemüthszustandes. Schonungslos konnte ich ihr böse Worte ins Gesicht schleudern, und wenn sie mich dann so fragend und traurig ansah, hätte ich ihr auf den Knieen abbitten mögen. Sie hatte sich aber dann bereits abgewandt und war in irgend ein stilles Eckchen gegangen, um sich auszuweinen, während ich schluchzend zurück blieb.

Eines Tages verbarg sie, als ich eintrat, irgend Etwas in ihrem Kommodenschub. Es war grad’ wieder eine von meinen bösen Stunden; wir, d. h. Dora, Olga und ich, hatten uns eben über sie unterhalten Dora hatte sich glücklich gepriesen, nicht mehr in ihrer Nähe zu sein, und Olga gemeint, irgend Etwas sei mit ihr nicht richtig; sie glaube, diese Jascha sei von ihren Verwandten hierher gebracht, um irgend einen tollen Streich abzubüßen; sie hoffe, sie komme noch dahinter. Es sei aber ein starkes Stück, unser Haus hier als Besserungsanstalt zu betrachten; sie begreife Frau Doktor nicht.

„Wie kommst Du darauf?“ war meine hastige Frage gewesen, und da hatte denn Olga flüsternd erzählt, sie habe Jascha vor Kurzem Abends mit „Jemand“ am Weiher gesehen. Es sei spät, nach dem Abendessen gewesen. Sie, Olga, habe ihre Handarbeit im Garten vergessen gehabt, sei eiligst hinunter gelaufen und zum Tod erschrocken gewesen, als sie, an der bewußten Lücke in der Buchenhecke vorüberkommend, Flüstern und Küssen gehört habe und Jascha’s Stimme: „Leb wohl! Auf Wiedersehen!“

„Ihr wißt,“ hatte Olga hinzugefügt, „Klatschen hasse ich; aber sollte einmal mit Frau Doktor die Rede auf Jascha’s Wunderlichkeit kommen, so sage ich es, verlaßt Euch darauf.“

Also soweit war es! Mit diesen Gedanken trat ich in unser Zimmer und ertappte Jascha beim Verbergen eines Gegenstandes. „Geniren Sie sich doch nicht,“ kam es verächtlich über meine Lippen, „mich interessirt Ihr heimliches Gethue so wenig, wie Ihre heimliche Korrespondenz, diese Sachen liegen denn doch zu tief unter –“

Sie sah, bleich bis in die Lippen, zu mir herüber. „O, Miß Mary, Sie sind hart! Ich – wenn ich es sagen könnte –“

„Bitte, bitte! Ich mag von diesem Lügengewebe Nichts wissen.“

„Lügengewebe?“ fragte sie und stand vor mir mit flammenden Augen. „Beweisen Sie mir eine Lüge, Mary!“ Ihre ganze Gestalt zitterte, und ihre Augen waren unheimlich groß geworden.

Ich dachte nach und fand Nichts. Aergerlich darüber wandte ich ihr achselzuckend den Rücken.

„Sie können es nicht,“ sprach sie, „denn ich log nicht.“

„Aber vielleicht beweise ich Ihnen eines Tages etwas Schlimmeres als Lüge,“ brauste ich auf. „Hüten Sie sich. treiben Sie es nicht auf die Spitze! Sie könnten früher entlarvt dastehen, als Sie es ahnen.“

Sie senkte den Kopf und schwieg eine lange Zeit. „Ich glaubte, Sie würden barmherziger sein als die Andern,“ sprach sie endlich.

„Fräulein von Ponianska, was denken Sie eigentlich von mir?“ rief ich beleidigt.

„Miß Mary,“ bat sie und trat mir mit gefalteten Händen einen Schritt näher, „stoßen Sie mich nicht zurück, heute nicht; [847] ich bin so ganz auf Ihre Nachsicht angewiesen; die Noth zwingt mich zu einer so schrecklichen Bitte – meine Großmutter hält mich so knapp mit Geldmitteln; zu Frau Doktor kann ich nicht gehen, sie würde es Großmama schreiben, – leihen Sie mir eine Kleinigkeit!“

Ich sah in höchstem Erstaunen auf die Bittende. Sie stand da, hoch aufgerichtet, aber die Wimpern gesenkt, und auf dem schönen Gesicht jagte sich Röthe und Blässe im raschen Wechsel.

„Ich habe augenblicklich so gar Nichts mehr,“ flüsterte sie und ihre zitternde Hand faßte nach dem Sammetband am Halse, an dem heute zum ersten Male das Kreuz fehlte, „und ich gebrauche so nothwendig –“

Ich ging zu meiner Kommode hinüber, schloß auf und nahm die kleine Schatulle heraus, die mir Großpapa mit lauter funkelnagelneuen Silberstücken gefüllt zum letzten Geburtstag verehrt hatte. „Wie viel?“ fragte ich über die Schulter.

„Wie viel?“ wiederholte sie. „Mein Gott, Miß Mary, zehn Thaler – verzeihen Sie –“

Das Geld glitt in ihre Hand; sie sah mich dabei nicht an; sie starrte auf die Schatulle, dankte auch nicht. Ihre kleine Hand ballte sich um das Geld zur Faust, und so stand sie noch, als ich, den Schub schließend, mich umwandte und ohne ein weiteres Wort das Zimmer verließ.

[861] Am Nachmittage des Tages, an welchem ich Jascha das Geld geliehen hatte, – wir saßen nach beendeter Litteraturstunde sämmtlich im Garten mit der Handarbeit – kam plötzlich das Dienstmädchen und meldete, Herr Levysohn sei da, um mit Frau Doktor zu sprechen. Herr Levysohn war der Juwelier des Ortes; er hatte am Marktplatz einen kleinen Laden, in dem ein Kästchen mit goldenen Ringen, die zwischen schwarzen Sammetleisten steckten, neben einigen Korallenschnüren, silbernen Serviettenbändern und Löffeln prangten. Wir pflegten dort unsere zerbrochenen Broschennadeln ergänzen zu lassen und auch hin und wieder ein Ringelchen mit einem Türkis zu erhandeln, um es irgend einer Freundin als „ewiges Andenken“ zum Geburtstag zu schenken.

Frau Doktor schüttelte verwundert den Kopf.

„Levysohn, zu mir?“ fragte sie, indem sie sich erhob. „Was mag er wollen?“

Wir saßen plaudernd und lachend beisammen, nachdem sie uns verlassen, ohne weiter an Herrn Levysohn zu denken; wir hatten soviel Stoff zur Unterhaltung. Die fürstlichen Herrschaften wurden zur Jagd erwartet, und, wie alljährlich, war Frau Doktor nebst ihren jungen Damen schon jetzt für Freitag über acht Tage zum Souper und Tanz befohlen. Ein Tanzfest bei Hofe, in dem hohen mit Hirschgeweihen dekorirten Saale des Schlosses! Ueber das spiegelnde Parkett zu fliegen mit einem eleganten Hofkavalier, vielleicht gar mit dem Prinzen Georg – es konnte wahrhaftig in der Welt nichts Schöneres geben, und unsere Frau Doktor wußte sich in solchen Zeiten vor unseren stürmischen Liebkosungen kaum zu retten; denn ihr, welche die Erzieherin der jungen Fürstin gewesen war, verdankten wir ja einzig und allein diese Gunst. Was Wunder, wenn die Toilettenfragen eifrigst erörtert werden mußten, die Vermuthung laut wurde, daß der bildschöne Adjutant des Prinzen Georg wieder mit von der Partie sein werde, der im vorigen Jahre Olga so sehr den Hof gemacht und auch, wie wir sämmtlich wußten, so tiefen Eindruck hinterlassen hatte, daß das Kotillonsträußchen, welches er ihr verehrte, in einer reizenden Schachtel aufbewahrt und heimlich oft von ihren frischen Lippen geküßt wurde.

„Wir wollen Alle ganz gleich gehen,“ schlug Eine vor, „weiß mit blau.“

„Ich danke!“ erklärte Olga, „ich nehme blaßgrün mit Wasserrosen.“

„Ich rosa!“

„Das kleidet mich nicht, ich nehme hochroth!“

„Ich ganz weiß!“

„Es präsentirt sich zu schlecht auf den weißen Wänden des Saales,“ meinte Dora, „ich denke, schwefelgelb mit –“

Weiter kam sie nicht, denn Frau Doktor trat eben an den Tisch. Sie hatte etwas Blitzendes in der Hand und fragte: „Gehört einer von Euch dieser Schmuck?“

Sie hielt ein goldenes Kreuz, mit Türkisen besetzt, empor. „Herr Levysohn behauptet, er habe es von einer der jungen Damen vor mehreren Wochen behufs einer Reparatur erhalten und es der Eigenthümerin schon [862] am andern Tage wieder zugestellt und gestern sei ihm dasselbe von einer unbekannten Person zum Verkauf angeboten worden. Ist es so?“

Meine Augen hingen wie gebannt an Jascha’s Gesicht; ich wußte ja, es war ihr Kreuz.

Sie rührte sich nicht.

„Jascha!“ murmelten einige von uns, „Jascha, es ist ja das Ihre!“

„Jascha!“

Sie hob die Wimper und sah zur Frau Doktor auf. „Es gehörte mir,“ sprach sie leise.

„Verloren Sie es?“ forschte Frau Doktor gütig.

„Nein!“

„Wie kam es in die Hände einer Fremden?“

„Ich hatte kein Geld und sie bat mich um Unterstützung,“ brachte Jascha mühsam hervor.

„Kein Geld! Und Sie sind eine von Denen, die über das reichhaltigste Taschengeld verfügen?“

Sie wurde purpurroth und schwieg.

„Sie hatten wohl Ihr Portemonnaie vergessen?“

Das Mädchen nickte.

„Nun, da nehmen Sie Ihr Kreuz und händigen Sie Levysohn eine kleine Summe ein für die Person, wenn sie wiederkommt. Er hat ihr nämlich gesagt, er müsse das Kreuz erst taxiren. Sei so freundlich, Liddy,“ wandte sie sich an die jüngste von uns, „und bitte Herrn Levysohn hierher.“

Das junge Mädchen flog davon und kam bald zurück, gefolgt von dem kleinen jüdischen Händler, der, den Hut in der Hand, die possirlichsten Verbeugungen nach allen Seiten machte.

Jascha hatte sich erhoben. Das Kreuzchen in der Hand, trat sie dem Mann entgegen.

„Welchen Werth hat dieser Schmuck, mein Herr?“ fragte sie leise.

„Nun, was wird er sein werth? Hätte ich ihn der Frau abgekauft, so würde ich gezahlt haben drei Thaler höchstens, allerhöchstens drei Thaler, gnädiges Fräulein.“

„Drei Thaler? So wenig?“ stammelte sie erschreckt.

„Nicht einen Groschen mehr; es ist hohl und die Türkisen haben keinen Preis; der Werth steckt in der Arbeit, und kann ich doch nicht bezahlen die Arbeit, ich bezahle nur das Gold.“

„Sie wollen den vollen Werth geben, Jascha?“ fragte Frau Doktor freundlich, als sie sah. wie das Mädchen aus ihrem Portemonnaie mehrere Silberstücke nahm. „Für eine fremde Bettlerin ist es ein wenig opulent, wie?“

„O, sie sah so bedrückt aus,“ murmelte Jascha.

„Nein, nein, sie sah nicht aus bedrückt, sie sah aus abenteuerlich,“ fiel eifrig Herr Levysohn ein. „Gott soll’s wissen. habe ich gesagt zu meinem Sahrchen, wenn die nicht ist weggelaufen von den Kunstreutern, so bin ich nicht der Levysohn aus dem Rathhausgewölbe. Lauter seidenes Gelump um den mageren Leib. falsche Haare und Schminke und ein Blick, als wäre sie meschugge. Geben Sie nur einen Thaler, gnädiges Fräulein, und sie wird sich freuen, wird sich sehr freuen. Ich weiß schon, weiß schon, gnädiges Fräuleinche,“ fuhr er beschwichtigend fort, als Jascha ihm einen Schritt näher trat mit einem förmlich drohenden Ausdruck in den Augen, „junge Lait in Ihrem Alter haben mildthätiges Wesen. aber keine Erfahrung; sie glauben Alles. Nun, mir soll’s recht sein, geben Sie her die Thaler!“

Und die Rechte ausstreckend empfing er das leise klirrende Geld aus Jascha’s Hand.

„Mag’s Ihnen Segen bringen,“ setzte er hinzu. „Empfehle mich, meine Damen, und wenn die hochgeehrten Fräuleins gelegentlich bei meinem Laden vorübergehen wollten, ich habe Neuheiten feinsten Genres. Armbänder, wie sie sich die Freundschaft schenkt, Herzchen von Gold für Photographien eingerichtet, echte Georgenthaler, wenn Eine hat ’nen Bruder oder Bräutigam, der viel reitet zu Pferde.“

Unter diesen Anpreisungen ging er rückwärts den Gartensteig entlang, vom Lachen und den Versprechungen der Mädchen begleitet.

Dann ward es still in unserem Kreise. Jascha war zu Frau Doktor getreten und hatte mit halblauter Stimme gefragt, ob sie sich zurückziehen dürfe, sie habe Kopfweh. Sie ging gleich darauf, die Hand an die Schläfe gepreßt, in das Haus.

Wir blickten ihr sämmtlich nach, auch Frau Doktor, und ein leises Schütteln ihres Kopfes entging uns nicht. Alle warteten wir gespannt, ob sie Etwas sagen würde über Jascha Ponianska; aber sie senkte ruhig ihre Augen auf den blüthenweißen Strickstrumpf in ihrer Hand und bat: „Olga, gieße Kaffee ein, und nun wollen wir über Eure Toiletten berathschlagen. Ich denke, Ihr nehmt Alle weiße Spitzen und wählt nur die Schärpen und Unterkleider nach Eurem Geschmack.“

Sie brachte uns damit schnell und ganz auf andere Gedanken. Und als sie nach einem Weilchen aufstand und strickend langsam in das Haus schritt, dachten wir wohl an bunte Bänder, hatten aber Jascha völlig vergessen.

Irgend eine von uns schlug vor, ins Städtchen zu gehen und bei der Putzmacherin die Bandvorräthe und Blumen zu inspiciren, um, falls diese nicht genügten, Bestellungen bei ihr zu machen. Ich wurde ersucht, hinauf zu gehen und um Erlaubniß zu fragen. In ihrem gemüthlichen Wohnzimmer war Frau Doktor nicht, auch nicht im sogenannten Salon. Mademoiselle, die Französin, an deren Thür ich klopfte, lag längelang auf ihrer Chaise longue mit einem Buche in der Hand; sie hatte Migräne und antwortete nur ein verdrießliches: „Non, non, voyez donc –“

Miß Marten, meine halbe Landsmännin, lächelte, wie aus einem Traum erwacht, mit allen ihren falschen Zähnen. Sie war beschäftigt mit der Uebersetzung eines deutschen Romans in die englische Sprache und schüttelte stumm ihre langen Locken bei meiner Frage. Nun, sie wird ausgegangen sein. dachte ich und schritt den Korridor hinab zu meinem und Jascha’s Zimmer, um meinen Sonnenschirm zu holen. Die Thür war nur angelehnt und heraus klang Frau Doktors tiefe sanfte Stimme:

„Ich mußte Ihnen das sagen, Jascha; Ihre Frau Großmutter hat mich aufmerksam gemacht auf diesen Ihren Fehler; Sie haben wiederholt Ihre Großmutter um größere Summen gebeten und heute schrieb sie mir, daß sie Ihnen von jetzt ab Nichts weiter geben würde, als Ihr bestimmtes Monatsgeld, weil Sie eine entschiedene Anlage zur Verschwendung besitzen. Ich bitte Sie, Jascha, sagen Sie mir, wozu gebrauchen Sie all dies Geld? Ich sehe doch nicht. daß Sie Toilettenausgaben machen, Sie kaufen sich auch nicht theure Bücher, für Parfüms, Handschuhe und Briefpapier können Sie hier doch am Ende auch nicht soviel ausgeben?“

Ich hatte schon zu lange gehorcht und flog eilends zurück. Drunten beschlossen wir, den kleinen Gang ohne die feierliche Erlaubniß zu thun, und drängten uns zu diesem Zweck zu Vieren, die auserwählte Deputation, durch die Buchenhecke, um den kürzeren Weg durch den Schloßgarten zu wählen, und uns lebhaft unterhaltend gingen wir die prächtige Kastanienallee entlang, durch deren Laubgewirr die Sonnenstrahlen gleich Funken blitzten. Wie immer, herrschte eine vollständige Einsamkeit und Stille hier; zum Spazierengehen fanden die Bürger des Städtchens nicht Zeit an Werktagen, es war gar nicht Mode. Frau Doktors Pensionsdamen und der alte taube Oberst von D., der alle Tage die nämliche Promenade machte, waren für gewöhnlich die einzigen Besucher des köstlichen Gartens, um so wunderbarer erschien es, als Olga plötzlich rief: „Himmel, da sitzt aber eine komische Dame!“

Wir blickten beim Näherkommen Alle hinüber zu der Bank, auf der eine weibliche Gestalt saß, und unsere Augen mochten wohl vor Erstaunen immer größer werden, denn sie sah allerdings putzwunderlich aus. Sie trug einen mächtigen Rembrandthut mit einer schwarzen Straußfeder, die einst bessere Tage gekannt haben mochte; jetzt hing sie ziemlich geknickt über den Rand des Hutes hinweg. Blonde Ponyhaare waren in die Stirn eines entsetzlich mageren Gesichtes gekämmt, das im bläulich weißen Puderglanz leuchtete; die Augenbrauen dunkel gezogen wie mit einem Pinsel, die Wangen, das Kinn, die Ohrläppchen jugendlich rosa angehaucht, und doch so alt, so entsetzlich verlebt und krank schaute dieses Antlitz durch das kokette weiße Halbschleierchen. Dazu ein fadenscheiniges schwarzseidenes Kleid von längst vergangener Mode, eine bunte römische Schärpe als Umhang über die Taille; Schuhe, die einstmals hochelegant gewesen sein mochten, jetzt aber kaum noch in ihren Nähten zusammenhielten, und gewebte Handschuhe. So saß sie da, mit einem zerschlissenen Sonnenschirm in den Kies zeichnend, auffallend und abstoßend zugleich.

[863] Als wir dicht an ihr vorübergingen, hob sie die Augen; ich meinte, ich müsse diesen düstern Blick kennen, und konnte mich doch nicht besinnen, wo ich ihn gesehen.

„Entsetzliche Person!“ flüsterte Dora.

„Sie wird zu einer Harfenbande gehören,“ meinte Liddy.

„Nein,“ erklärte Olga, „sie ist nur heruntergekommen; sie hat trotz allem Schäbigen ein vornehmes Exterieur.“

Wir lachten alle Vier herzlich und laut. „Ei, am Ende ist es Die, welche Jascha angebettelt hat,“ fiel mir ein.

„Sie sieht nicht aus, als ob sie bettle,“ beharrte Olga.

„Vielleicht kam Jascha mit ihr in ein Gespräch und hat ihr aus freien Stücken das Kreuz geschenkt?“

„Wohl möglich, gutmüthig ist sie ja.“

Wir waren währenddem durch das Gartenthor auf den Schloßplatz getreten und verfolgten die Straße, die zum Markt führt, wo neben der Apotheke das Schaufenster der Putzmacherin mit der stolzen Firma prangte: „Ida Irmisch. Hoflieferantin Ihrer fürstlichen Durchlaucht.“

Als wir noch im Laden standen und wählten und bestellten, ging die Fremde vorüber.

„Fräulein Irmisch, wissen Sie nicht, wer Die ist?“ fragten wir einstimmig.

„Die rennt seit acht Tagen hier oft vorüber,“ meinte verächtlich die asthmatische dicke Ladendame; „sie wohnt im ‚Wachholderbaum‘, ganz oben in einer Dachkammer und verlangt für ihre zehn Silbergroschen Pension täglich weiß Gott was Alles vom Wirth.“

Der „Wachholderbaum“ war ein Gasthaus untersten Ranges am Ende des Städtchens; Sonntags tanzten dort die Dienstmädchen, und eigentlich verkehrten nur Fuhrleute in demselben und arme Reisende.

Wir machten zustimmende Gesichter, wo sollte sie sonst auch wohnen? Sie sah ganz darnach aus.

„Was mag sie hier nur wollen?“

„Ja, wer kann das wissen?“ meinte Fräulein Ida. „Also die Damen wünschen von dem Vergißmeinnichtblau und dazu die Kränzchen? Es sind französische Blumen; im vorigen Jahre hatte die Hofdame Gräfin Erbsleben dies nämliche Kränzchen, es ist reizend.“ Und sie balancirte das kleine zierliche Gewinde auf ihrer dicken Hand, ehe sie es in den Karton legte.

Wir kamen mit Packeten beladen zurück und fanden allgemeine Anerkennung.

Daß Jascha Abends bei Tische fehlte, bemerkte vielleicht nur ich: so hoch gingen die Wellen freudiger Erwartung für unser kleines Hoffest. Als ich dann in unser Zimmer kam, fand ich Jascha anscheinend schlafend. Sie hatte ein Glas Himbeerwasser neben sich auf dem Tischchen, wie es Frau Doktor den Kranken unter uns zu spenden pflegte, aber es stand noch völlig unberührt da. Sie lag wie gewöhnlich, die Hände über der Brust gefaltet und unbeweglich. Als ich eben begann, mein Haar aufzustecken, klang ihre Stimme zu mir herüber:

„Miß Mary, ich habe eine Bitte, eine große Bitte; geben Sie mir Auskunft, wie theuer würde eine Toilette für das Fest auf dem Jagdschlosse sein?“

Ich zuckte die Schultern und sah sie verwundert an. Sie hatte sich im Bette hoch gesetzt und ihre Augen sahen so gespannt auf meine Lippen, als ob von meiner Antwort ihr ganzes Wohl und Wehe abhinge. „Je nun,“ sagte ich endlich, „es kommt darauf an – es richtet sich nach der Eleganz dieser Toilette.“

„Und man kann sich sehrr elegant anziehen, Miß Mary?“

„Man kann es wohl –“

„O, und ich liebe so sehrr elegante Kleider,“ sagte sie.

„Sie?“ rief ich unwillkürlich. Es mochte wohl ein sehr ungläubiger Ausdruck auf meinem Gesichte liegen, kannte ich sie doch immer nur in ihrem blauen Kleidchen, das an den Aermeln bereits ziemlich dünn und schäbig aussah, nur ein einziges Mal war sie in schwarzer Seide gewesen – eines Sonntags, als im Saale der „Rothen Forelle“ das Koncert einer Damenkapelle stattfand, wozu wir alle Dreizehn unter Frau Doktors, Mademoiselles und Miß Marten’s Begleitung erschienen waren.

„O sicher!“ sprach sie leise. „Großmutter liebt es auch sehrr, sie ist sehrr reich, Miß Mary; sie wird mir erlauben, Seide zu tragen, weiße Seide.“ Und plötzlich sprang sie vom Lager auf, und hastig einen Schlafrock überwerfend, eilte sie an den Schreibtisch.

„Sie sind noch angezogen,“ sagte sie nach ein paar Minuten und hielt mir einen Zettel hin, den sie geschrieben, „haben Sie die große Freundlichkeit, geben Sie ihn der Johanne, sie soll ihn morgen so früh wie möglich, so bald geöffnet ist, auf das Telegraphenamt tragen.“

Sie sah mich so bittend an mit den großen Augen, daß ich, wenngleich zögernd, das Papier nahm.

„Bitte, lesen Sie, ob ich deutlich schrieb!“ scholl es hinter mir her.

Ich hielt einen von meinen ihr geborgten blanken Thalern in der Hand und las, während ich den Korridor entlang schritt bis zu Johanne’s Stube, beim Schein der Flurlampe:

  „Frau Landrath von Ponianska,
  O…,
  Provinz Posen.

Liebe, liebe Großmama, schicke mir umgehend vierhundert Mark für Toilette zum Hoffest.   Deine dankbare Enkelin Jascha.“  

Vierhnndert Mark! Das war unerhört! freilich – weiße Seide. Aber wozu denn das? Die Fürstin selbst trug irgend eine einfache Toilette, und Prinzeß Sibylla von X. war in einem krêmefarbenen Kaschmirkleide erschienen im vorigen Jahre. Mir wurde diese Jascha immer unangenehmer und unverständlicher. Nun, was ging es mich an, wenn die Großmutter so thöricht war!

Als ich zurückkehrte, lag sie wieder im Bette. „O, ich danke Ihnen!“ flüsterte sie.

„Wo wollen Sie denn das Kleid eigentlich machen lassen?“ bemerkte ich ärgerlich; „hier im Orte ist weder Stoff noch Schneider zu haben.“

„O, ich denke doch,“ erwiederte sie. nicht im Mindesten beunruhigt. Dann schloß sie die Augen und schien zu schlafen, noch ehe ich im Bette war. – –

Im Gartensaale saßen während der nächsten Tage zwei Schneiderinnen, und ganze Berge von Mull, Spitzen und bunten Bändern lagen auf Stühlen. Sofas und Tischen umher. Die Näherinnen, zwei ältliche gutmüthige Schwestern, wußten sich kaum aus dem Gewirr von Wünschen zurecht zu finden; die neusten Nummern eines Modenblattes waren in unser Aller Händen. Irgend Eine probirte immer an; es duftete nach Bügeleisen und Nähmaschinenöl. Zwei besonders Geschickte falteten Plissés, und dabei horchten wir den Wundergeschichten von den Vorbereitungen im Schlosse, welche die Schneiderinnen zum Besten gaben. Ein Bruder derselben, welcher Hoftapezier zu sein den Vorzug hatte, war mit seinen Gehilfen beschäftigt, die Festräume zu schmücken. Alle Vorhänge wurden frisch aufgeheftet; Guirlanden von Eichenlaub und Tannengrün sollten die Wände zieren; die Sessel der hohen Herrschaften bekamen neue Sammtüberzüge; die alten stammten noch vom hochseligen Fürsten her und waren etwas verbraucht. Die Frau Fürstin war so sparsam, und hier im Schlosse ja überhaupt Alles sehr einfach. Aber in der Residenz!

Wir hörten Alle beseligt zu; nur Jascha verzog keine Miene und that keine Frage. Sie saß still und niedergeschlagen in irgend einem Winkel; die Antwort der Großmutter war ausgeblieben.

„Entscheiden Sie sich nur, Fräulein,“ meinte die ältere Schneiderin, „sonst kann ich Ihnen kein Kleid mehr fertig stellen.“

„O, danke!“ mnrmelte sie.

„Jascha,“ redete Frau Doktor zu; „nehmen Sie doch ein einfaches Mullkleid, dazu langt Ihr Taschengeld.“

„O, ich liebe Mull nicht.“

„Sie werden auf diese Weise zu Hause bleiben müssen, liebes Kind.“

Sie antwortete nicht und sah noch betrübter aus.

So waren fünf Tage verstrichen; die letzten Kleider sollten heute fertig werden; die beiden vielgeplagten Schneiderinnen hatten heiße Köpfe, und Olga behauptete nach der sechsten Anprobe, ihre Taille sitze noch immer nicht, und zu einem andern Kleide war der passende Stoff nicht mehr zu bekommen. Die niedliche Besitzerin schwamm in Thränen bei der Aussicht, zweierlei Zeug tragen zu müssen, obgleich man den Unterschied kaum sah. Dora aber rief alle Heiligen zu Zeugen, daß sie die hiesigen Handschuhe [866] nicht anziehen könne, weil sie ihr vier Nummern zu groß seien; kurz, es war eine unerquickliche Stimmung.

Jascha wurde eben von der Frau Doktor aufgefordert, „Ja!“ oder „Nein!“ zu sagen, ob sie mit wolle oder nicht. Aber ehe das Mädchen noch antworten konnte, erschien Johanne mit einer riesigen flachen Holzkiste.

„Da, für Fräulein von Ponianska.“

„Ein Kleid!“ riefen wir Alle und drängten uns um den Kasten, dessen Deckel Johanne soeben vermittelst eines Stemmeisens lüftete. Weißes Seidenpapier quoll empor; eine der Schneiderinnen kniete nieder, um es zurückzuschlagen.

„Leute! Kinder! O wie fein!“ rief sie und hob ein schimmerndes, von Spitzen überrieseltes Etwas empor.

„Herr Gott!“ schrie die Andere; „wie ein Brautkleid! Fräulein, was haben Sie für eine gute Großmutter!“

Wir Andern schwiegen still – wo blieb unser einfacher luftiger Mädchenputz gegen dieses Feengewand, in dessen duftigen Spitzen sich die schweren Kelche der Wasserrosen verbargen!

Frau Doktor sah etwas unzufrieden aus. „Jascha,“ fragte sie, „haben Sie eine so kostbare Toilette gewünscht?“

Wir blickten sämmtlich dorthin, wo das Mädchen gestanden hatte, und machten eben so erstaunte Gesichter, wie Frau Doktor es that, denn der Platz war leer – Jascha hatte das Zimmer verlassen.

„Wunderbar!“ murmelte Frau Doktor und hieß Johanne das Kleid mit allem Zubehör in die Nebenstube tragen, wo unsere Festgewänder in einer langen Reihe aufgehangen waren.

Dora murmelte Etwas, das wie „verrückt!“ klang, und Olga zuckte die Achselm „Protzenhaft! Was sollen die Durchlauchten denken, wenn sie daher kommt wie die Königin von Saba!“

Die Schneiderinnen wollten sich nachher noch das Arrangement der Schleppe ansehen, es sei ja zu schön und sie hätten just ein Brautkleid zu arbeiten. Das würde Aufsehen machen.

Im Uebrigen ging es stiller bei uns zu als vorher. Um Jascha bekümmerte sich niemand von uns; sie war schon längst in den Bann gethan; diese Toilettenrenommage aber verdarb ihr vollends die Position. Beim Abendessen erschien sie blaß mit bläulichen Ringeln um die Augen.

„Um Gotteswillen!“ rief Mademoiselle; „Jascha. Sie sind ja ganz naß und Ihre Hände, als ob man unversehens einen Frosch berührt!“

„Es regnet draußen,“ erwiederte das Mädchen. „verzeihen Sie.“ Und sie rückte ein Stückchen mit ihrem Stuhle weiter.

In der That sprühte ein feiner Regen an die Scheiben, und die Aeste der hohen Bäume wogten im Winde auf und ab. Wie schade für das morgende Fest – was sollte aus der Illumination werden!

„Wo waren Sie, Jascha?“ erkundigte sich Frau Doktor mild.

„Im Schloßgarten; ich hatte Kopfschmerzen und glaubte –“

„Sie würden besser werden?“ ergänzte unsere gütige Pensionsmama. „Ist es so“

Jascha ward roth. „O, ich danke sehrr – ja.“

„Essen Sie Nicht?“

„Danke sehrr, nein!“ – Sie ließ in der That die Schüsseln vorüber gehen.

„Sie sind wirklich leidend. Jascha; es ist mitunter eine Qual, wenn man beim Essen zusehen muß. Ziehen Sie sich doch zurück.“

Jascha dankte, stand auf und schob ihren Stuhl unter den Tisch. Als sie an der Thür war, rief Frau Doktor ihr nach. „Jascha, in meiner Stube auf dem Nähtischchen finden Sie englisches Riechsalz.“

Sie neigte dankend den Kopf und verschwand.

Wir durften zweimal in der Woche Abends in Frau Doktors Zimmer kommen; es gab dann eine kleine Erfrischung an Obst oder Kuchen. und wir konnten uns in den vielen Fauteuils. die in dem roth dekorirten, unendlich behaglichen Raume umher standen, vertheilen; wir durften auch auf dem weißen Bärenfelle vor dem Kamin hocken oder im Schaukelstuhl und auf den Puffs und plaudern.

Plaudern mit Anmuth sei eine Kunst, meinte Frau Doktor, und sie war Meisterin darin. Diese Stunden in der Dämmerung eines regnerischen Sommertages oder im Winter am lodernden Kaminfeuer waren von unsagbarem Reiz; sie sind noch jetzt eine meiner schönsten Jugenderinnerungen.

Auch heute war solcher Abend. Wir kamen in fröhlichster Stimmung herein; in den Winkeln der Stube lag schon die Dämmerung; nur die Hermesbüste hob sich leuchtend ab von dem Dunkel der Tapete. Jede von uns eilte zu ihrem besonderen Lieblingsplätzchen, ich hinüber zu dem meinigen, dem teppichbelegten Fenstertritt zu Füßen der Frau Doktor. O, er mar schon besetzt.

„Jascha?“ fragte ich.

Sie saß so merkwürdig da wie eine Statue, und so steinern sah auch das blasse Gesicht aus dem Zwielicht zu mir herüber.

„Rücken Sie ein wenig, Jascha.“ sagte Frau Doktor; „dort ist Platz für Zwei.“

Wir hockten neben einander, eng genug, daß ich Jascha’s Körper berührte und das Zucken und Schauern fühlte, das ihn durchzog.

„Sie sind sicher krank, Jascha.“ flüsterte ich in einer Anwandlung vom alten Mitleid.

„Nein, nein!“ gab sie zurück. Es klang, als müsse sie es mühsam hervorbringen.

Es ward ungewöhnlich rasch dunkel heute. Mademoiselle plaidirte für Licht, sie begriff nicht diese deutsche Liebhaberei, im Dunkeln zu schwatzen. „Es werden doch immer nur lauter sentimentale Geschichten,“ meinte sie in ihrem wunderlichen Deutsch. Wir protestirten aber sämmtlich.

Auf der Straße rollten rasch mehrere Wagen hinter einander vorüber; der Schein ihrer Laternen huschte an der Decke des Salons hin. „Das waren die Herrschaften,“ sagte Frau Doktor, indem sie aufstand, zu ihrem Schreibtisch hinüber schritt, den Deckel schloß und das Schlüsselbund in die Tasche schob. Sie mußte bei dem Lichtschein bemerkt haben, daß er offem gestanden hatte. Und ruhig auf ihren Platz zurückkehrend, wiederholte sie: „Das waren die Herrschaften, so schnell fahren hier nur die Hofequipagen. Ich muß immer noch daran denken; als ich zum ersten Male hierher kam, geschah es auch in einem fürstlichen Wagen. Es war, wie mein Prinzeßchen sich ihren Schwiegereltern als Braut präsentirte.

Wir hatten die Geschichte, glaube ich, schon öfter gehört. aber einstimmig riefen wir: „Bitte, bitte, erzählen Sie uns davon!“

Und Frau Doktor erzählte. „Es war an einem Donnerstag gewesen, im August, und ganz Wilhelmsburg hatte sich mit Fahnen und Kränzen geschmückt. Sträuße wurden dem jungen Paare in den Wagen geworfen, und die Leute schrieen „Hurrah!“ auf der Straße, aus Fenstern und Thüren. Zuletzt mußte das Prinzeßchen ein Glas Champagner trinken; der Herr Hofkonditor in schneeweißer Jacke, Mütze und Schürze brachte es an den Wagen und sagte, ob Durchlaucht ,allunterthänigst‘ geruhen wollten, die bescheidene Erfrischung anzunehmen, was die reizende junge Fürstenbraut auch unter herzlichster Belustigung that. Sie war in Blau und Weiß, den Landesfarben, gekleidet und hielt ein weißes Spitzensonnenschirmchen mit blauem Futter in der Hand.

Am Rathhaus war just ein kleiner Auflauf; es sollte dort in aller Eile ein junges Menschenkind hinter Schloß und Riegel gebracht werden, das mit den Gesetzen in Konflikt gerathen war. Aber der kräftige Bursche wehrte sich den Polizeidienern gegenüber mit verzweifelter Heftigkeit, und Eins – Zwei – Drei hatte er die Braven zur Seite geschleudert, war aus dem Menschenknäuel gesprungen und stürzte an den Schlag des eben daher rollenden fürstlichen Wagens. Allgemeines Entsetzen! Alles lief herzu, um den Menschen wegzureißen, aber er hielt fest. Der Bursch sah zum Erbarmen aus; seine hübschen intelligenten Züge waren von Verzweiflung beherrscht, die Kleider zerrissen, die Hände blutig geschunden.

Der Wagen hielt, die Prinzeß wehrte den Polizisten. ,Was ist’s mit ihm?‘ fragte der Erbprinz. – ‚Gestohlen, Durchlaucht,‘ sagte der alte Stadtsergeant. ‚Laß los, Geselle!‘

‚Nein! Nein!‘ schrie der Mensch, ‚Barmherzigkeit! Sperrt mich nicht ein, meine arme Mutter hat den Tod davon!‘ – Mein Prinzeßchen, auf deren Seite er sich wohlweislich geflüchtet [867] hatte, kam ihrem Bräutigam, der unwillig den Beamten winkte, zuvor. ‚Was thaten Sie?‘ fragte sie mild.

‚Ich nahm ein paar Semmeln; meine Mutter ist krank, ich hatte keinen Pfennig, sie zu bezahlen – ich wollte es später thun – man borgt uns nicht mehr und sie hungert!‘

‚Wo wohnt Ihre Mutter?‘

‚Am Kirchhofe!‘ stammelte er, jetzt zur Besinnung kommend.

Mein Prinzeßchen sprach mit ihrem Prinzen, der mit dem Bürgermeister. ‚Die Noth ist groß, Durchlaucht. Es ist wohl richtig; sie werden unterstützt; der Junge hat das Gymnasium frei, ist einer der besten Schüler, sucht auch noch zu verdienen nebenbei – aber –‘

Die Prinzeß saß ganz blaß unter dem blauen Schirmchen; dann flüsterte sie ein paar Worte, und im nächsten Augenblicke rollte der Wagen über den Marktplatz dem Kirchhofe zu – Ihr kennt ja doch Alle den Herrn Doktor Reynand?“

„Ja! Ja!“

„Das war der Semmeldieb – die Fürstin ließ ihn erziehen.“

„Aber gestohlen hat er doch!“ meinte Olga trocken, „das vermag ihm Niemand abzunehmen. Ich fasse es nicht, wie kann man weiterleben so – –“

„Ja,“ sagte Frau Doktor weich, „gestohlen hatte er, aber Gott wird milder gedacht haben als Du.“

„Ich wäre lieber verhungert,“ beharrte das junge Mädchen. „Stehlen ist so gemein.“

„Ja, Du selbst, aber die kranke Mutter?“

In diesem Augenblicke klang ein leises Aechzen durch den Raum, und schwer lag Jascha’s Kopf an meiner Schulter.

„Um Himmelswillen, Jascha!“ schrie ich und faßte sie um. „Frau Doktor, Jascha ist ohnmächtig!“ [881] Jascha war nicht völlig ohnmächtig; sie hatte noch Besinnung; aber bleich und entstellt lag sie ein paar Minuten später auf dem Sopha. Frau Doktor wusch ihr die Schläfen mit Eau de Cologne; sie wollte ihr das Kleid aufmachen; aber förmlich entsetzt stieß Jascha die hilfreiche Hand zurück, sagte, es sei ihr schon besser, und verlangte nach Ruhe und ihrem Bett. Ich führte sie hinüber; wie eine Halbtodte hing sie an meinem Arme, und schwer und schleppend war ihr Gang. Sie lag dann erschöpft auf ihrem Lager, bis sie nach ein paar Augenblicken durch das Zimmer eilte ans Fenster und von da zur Thür – sie mochte unter einem unerklärlichen schrecklichen Einfluß stehen. „Hinaus!“ hörte ich sie endlich murmeln, und im nächsten Augenblick war sie schon aus der Thür und wie ein Schemen im Korridor verschwunden.

Frau Doktor, die mir begegnete – sie wollte nach Jascha sehen – und nun ihr Davonlaufen erfuhr, eilte, so rasch ihre Fülle gestattete, die Treppe hinunter. Ich folgte ihr; die Flurthür war schon verschlossen; wir kamen in den Gartensaal; ein Fensterflügel stand weit geöffnet.

„Sie ist dort hinaus,“ bemerkte Frau Doktor, „Mary, da kann ich nicht mit, obgleich es sehr niedrig ist; – springe Du ihr nach, ich lasse mir indeß die Hausthür öffnen.“

Ich lief, „Jascha! Jascha!“ rufend, durch den dunklen nassen Garten. Das Gebüsch, das ich streifte, schleuderte mir feine Regentropfen ins Gesicht, und der Fuß glitt aus auf dem schlüpfrigen Wege. „Jascha! Jascha!“

Mich hatte eine Angst gepackt, von der ich mir keine Rechenschaft geben konnte. So kam ich bis zur Buchenhecke. Ein wildes leidenschaftliches Schluchzen drang in mein Ohr. „Jascha!“ schrie ich wieder, „Sie können ja bei der Dunkelheit ins Wasser fallen!“

Das Schluchzen verstummte; es war mir, als hörte ich Schritte, die sich eilig entfernten. „Jascha!“ schrie ich abermals, mich an der Hecke hintastend, „kommen Sie doch!“

„Ja!“ klang es fast demüthig, dicht neben mir; ich hörte das Rascheln der Blätter und sah im nächsten Augenblicke die schlanke Gestalt vor mir.

„O Jascha, es ist unverantwortlich, uns so zu erschrecken,“ schalt ich im Innersten empört, „Was haben Sie mit diesem unseligen Teich da immer vor? Es grenzt ja an Spleen!“

Sie antwortete nicht; sie ging wie ein Lamm neben mir. In der Nähe der Hausthür trafen wir auf Frau Doktor. Der Gartensaal war hell; die Mädchen standen neugierig und erschreckt auf der Treppe und im Flur.

„Gehen Sie sogleich zu Bette, Jascha,“ befahl Frau Doktor streng. „Johanne kocht Thee; ich bitte mir aus, daß Sie ihn trinken. Morgen werde ich den Arzt kommen lassen.“

Jascha schüttelte heftig und stumm den Kopf.

[882] „Es wird sich finden,“ antwortete Frau Doktor und zog sich mit beruhigtem Gesicht in ihr Zimmer zurück.

Jascha behauptete wohl zu sein am andern Tage, dem großen feierlichen Balltage. Sie war aber von einer ungewöhnlichen Hast und Unruhe; sie holte selbst ihre Festtoilette herauf, erklärte aber, Nichts essen zu können, fuhr zusammen, wenn eine Thür ging, wechselte die Farbe und ihre Hände zitterten; sie war entschieden nervös.

Um sechs Uhr kam die Friseuse. In unseren Zimmern hatte sich ein reges Leben entfaltet, überall duftete es nach Eau de Cologne, frischen Blumen und neuen Handschuhen, lauter glückliche Mädchengesichter blickten sich an mit rothen Wangen und leuchtenden Augen. Jascha und ich waren so ziemlich die Letzten, die frisirt wurden. Die weiße Seide ihres Kleides raschelte bereits unter dem langen Pudermantel, den sie über ihre Toilette geworfen hatte. Sie war, während sie sich anzog, nicht vor den Spiegel getreten, und so kam es, daß ich nicht gesehen, wie sie ihr Kleid anlegte.

In der tiefen Fensternische stand sie, indessen ich frisirt wurde, und starrte in den Garten hinunter, in dem auch heute noch Regen und Wind ihr Wesen trieben. Ich konnte nur die Schleppe des weißen Seidengewandes sehen; die lag so unbeweglich auf dem getäfelten Fußboden, als sei sie nicht in Verbindung mit etwas Lebendigem.

Die Frau sprach mit halblauter Stimme; ich gab ihr leise Antwort, es ging so trübselig bei uns her, gar nicht wie in einem Zimmer, in dem sich zwei junge Mädchen zum Balle ankleiden. Endlich war ich fertig und Jascha saß auf dem Stuhl vor dem Spiegel.

„Wie befehlen das gnädige Fräulein?“

„Ganz offen das Haar,“ erwiederte sie. Die prachtvollen goldenen Wellen flossen über ihre Gestalt, ein paar Nadeln nahmen das Haar zum Hinterkopf zurück und festigten die Wasserrose, die förmlich versank in dieser Fülle. Es war im Umsehen geschehen. Dann erhob sich Jascha und zog den Pudermantel von den Schultern, sprachlos standen die Frau und ich vor ihr. Wie schön, wie märchenhaft schön! dachte ich. Auch sie starrte ihr Spiegelbild an wie überrascht, diese wundervolle Gestalt in der schimmernden Seide, diese schneeigen Schultern und die wunderbaren Arme, die aus den weit zurückfallenden Spitzenärmeln auftauchten.

So wie wir zuletzt mit dem Anzug fertig wurden, kam auch an uns zuletzt die Reihe, in einen der altmodischen großen Hofwagen zu steigen, die uns zum Feste abholten. An der Freitreppe hatte sich das halbe Städtchen eingefunden, und diese ganze große Treppe sollten wir vor Aller Augen ersteigen; eine bedeckte Rampe besaß das Schloß nicht.

Es war schon dunkel, das flackernde Licht der Pechpfannen streifte zauberhaft das Schloß, die Treppe und die dunklen Wipfel der Bäume und die Gesichter der Menschen. Mit einem Ruck hielt der Wagen; Lakaien rissen den Schlag auf und neben einander schritten Jascha und ich die Stufen empor. Hinter uns her scholl ein bewunderndes Flüstern; ich wußte, das galt ihr, und ich schaute sie an, und just in diesem Augenblick zögerte ihr Fuß und ihr Kopf wandte sich etwas zurück, ich folgte der Richtung ihres Blickes – da stand die Frau aus dem Park; ich erkannte die großen Augen, die scharfen verlebten Züge unter dem Tuch, das sie ums Haupt geschlungen, und langsam hob sie ihre Hand an die Lippen und, Jascha ansehend, küßte sie die Spitzen der Finger und winkte ihr kaum merklich, es war ein fast verzehrender Ausdruck in den Augen.

„Jascha!“ flüsterte ich athemlos. Aber da ging sie schon wieder neben mir, so ruhig, als wäre Alles nicht gewesen; es hatte ja auch kaum einen Moment gedauert, nicht länger, als man braucht, um langsam den Fuß auf eine höhere Stufe zu setzen.

„Jascha,“ wiederholte ich. „Wer ist’s?“

Aber sie antwortete nicht, und dann traten wir auch schon durch das Portal in die weite Halle, in deren riesigen Kaminen die Holzstöße flammten und in der Frau Doktor mit den Andern unser ungeduldig harrte, um uns die breite Treppe hinauf nach dem Saal zu führen, wo sich die Gäste versammelten.

Wir machten Aufsehen an diesem Abend; das heißt, nicht wir, sondern Jascha, nur Jascha. Als wir eintraten, flogen die Blicke Aller zu diesem schlanken, wunderbar schönen Geschöpf hinüber, es muß ausgesehen haben, als schwanke eine Lilie über einem Beete bunter Sommerblumen. Wer hätte das auch gedacht von Jascha?

Der Fürst war ganz elektrisirt von dieser Erscheinung, die Fürstin sprach ungewöhnlich freundlich mit ihr; Prinz Georg schwur Frau Doktor zu, Jascha sei der Stern des Abends, und Olga’s Adjutant ging mit fliegenden Fahnen in das feindliche Lager über. Ein dichter Kreis von Herren umstand sie plötzlich und ihre Tanzkarte wanderte von Hand zu Hand.

O, wir bekamen ja auch Tänzer, aber erst in zweiter Reihe. Es dauerte keine zehn Minuten, da flog Jascha’s weiße Seidenschleppe im Walzer über das Parkett des Saales, Prinz Georg war der Tänzer. Ich tanzte mit einem Jagdjunker von Göltz; er unterhielt mich auch vortrefflich in den Pausen, aber seine Augen waren wo anders – wo sollten sie wohl sein? – bei Jascha. Ein alter General, den ich vom vorigen Jahre kannte, trat herzu. „Also eine Studiengenossin von Ihnen?“ fragte er, zu Jascha hinüber sehend. „Polin? Wie? Ich hatte den Namen nicht recht verstanden.“

Ich nannte ihn.

„Aus O. doch nicht?“

„Ja, ich denke, so heißt die Besitzung.“

„Ei! ei! Hm! hm!“ brummte er, „hab’ die Mutter gekannt.“ Und ganz dicht an meinen Tänzer herantretend, wollte er ihm ins Ohr flüstern, aber das Flüstern des alten Herrn war so energisch, daß ich mir hätte die Ohren zuhalten müssen, um es nicht zu hören. „Schönes Weib war diese Mutter, aber rabiate Person; spielte toll, sag’ ich Ihnen, ihr halbes Vermögen verspielt, schließlich Scheidung, kurz ehe der Mann starb; Großmutter bestand darauf, sonst wäre Alles futsch gewesen. Habe sie selbst gesehen in Monte Carlo, verteufeltes Weib, übrigens Tochter ihr Ebenbild, ganzes Ebenbild.“

Erschreckt sah ich zu Jascha hinüber, unsere Blicke begegneten sich; es war mir, als habe sie geahnt, was hier gesprochen ward über sie; ihre rosige Farbe verschwand plötzlich und wich einer Marmorblässe.

„Was ist aus der Mutter geworden?“ hörte ich meinen Jagdjunker fragen, indem er sich anschickte, mich wieder durch den Saal zu wirbeln.

„Was wird aus ihr geworden sein? Verkommen irgendwo in Paris oder Nizza,“ flüsterte der alte Herr wieder hörbar. Und dahin flogen wir durch den Saal.

Gott im Himmel, wie schrecklich! Welch Elend lag in dem gleichgültig gesprochenen Worte: „Verkommen“! Und während des Tanzens dachte ich an den erstickten Aufschrei Jascha’s, als ich einmal ihre Mutter erwähnte, und ein unsägliches Erbarmen zog in mein Herz. Wie sehr, wie sehr mußte sie leiden!

Schon in der nächsten Pause eilte ich zu ihr.

„Nun?“ fragte Dora spöttisch, „der aufsteigenden Sonne nach?“

Ich überhörte es und trat neben Jascha. Sie stand im Gespräch mit einem jungen Manne in Frack und weißer Halsbinde, ein wunderschönes Paar. Jascha bemerkte mich kaum; ihre Augen glänzten, und sie redete mit ihrer langsam klingenden Weise und dem bewußten R. Ich wendete mich und ging. „Wer ist der Herr, der mit Jascha spricht, Liddy?“ fragte ich, da sie mir gerade in den Weg kam.

„Herr von Ahlfeldt, Rittergutsbesitzer in der Nähe hier,“ lautete die Antwort. „Reizender Mensch, nicht?“

Beim nächsten Tanze sah ich sie wieder zusammen, auch beim Souper, das an kleinen Tischen genommen ward, und beim Kotillon. Ich hatte Jascha noch nie lächeln gesehen, heute, als er ihr bei einer Tour den Rosenstrauß brachte, lächelte sie, es machte sie noch reizender.

Ich weiß nicht, wie es kam, daß ich nicht froh werden konnte, daß ich immer und immer diese Jascha ansehen mußte, diese strahlende Jascha, und an die verkommene Mutter denken, und daß mir dabei die Frau nicht aus dem Sinn kam, dies elende Weib mit den großen Augen, die so sehnsüchtig zu Jascha hinüber blickten. Bah! Es war ja Unsinn – sie war ja verkommen in Paris oder Nizza – Gott wußte wo? Aber Jascha erschien mir so fremd in diesem Glanze, dieser Rosengluth, in diesen von Freude durchwehten Räumen.

[883] „Herr von Ahlfeldt völlig in Brand!“ sagte der alte General zu mir, der zufällig an meiner Seite stand, und sah zu Jascha hinüber, die neben ihrem Tänzer saß mit rosigen Wangen. „Reizendes Kind allerdings, diese kleine Polin! Fürstin hat ihn vorhin schon geneckt mit seiner Inklination.“

Nach Beendigung des Tanzes verabschiedete sich Jascha’s Tänzer, und sie kam zu mir herüber. Herr von Ahlfeldt trat zu Frau Doktor, zog einen Stuhl heran und vertiefte sich in eine längere Unterhaltung. Jascha verwandte kein Auge von ihnen; ihr Fächer war in fieberhafter Bewegung, ihre Lippen waren halb geöffnet.

Ich fragte sie Etwas, aber sie stand wie geistesabwesend neben mir. Erst als die fürstlichen Herrschaften, vom Spieltische kommend, sich zurückzogen und Herr von Ahlfeldt sich von Frau Doktor beurlaubte, schob sie ihren Arm unter den meinigen. „Es ist zu Ende,“ sagte sie halblaut.

Alles drängte in die Garderobe, am Fuße der Freitreppe rollten die Wagen vor, der Schwarm der Gäste stieg hinunter. Einen Augenblick bemerkte ich Herrn von Ahlfeldt neben Jascha; dann rollte ich mit einigen von uns dem Hause zu. Jascha war in einen andern Wagen gerathen.

Ich stand bereits in unserem Zimmer, als sie rasch eintrat, der Mantel glitt ihr von den Schultern, und mitten im Zimmer blieb sie stehen, die Hände gefaltet, und sah in das leere Nichts mit glückseligem Ausdruck. „O Miß Mary,“ rief sie endlich, „es war so schön!“ Sie kam herüber zu mir, knieete vor dem Stuhle nieder, auf dem ich saß, und schlang die Arme um mich. „Ich habe nie gewußt, daß es so schön sein kann im Leben,“ flüsterte sie, „ich darf es Ihnen doch sagen, ich kann es nicht für mich behalten.“

„Ich freue mich, daß Sie sich amüsirt haben, Jascha,“ erwiederte ich, fast erschreckt von dem Gefühlsausbruch des sonst so stillen Mädchens.

„Amüsirt?“ rief sie außer sich, „wie das klingt! Wie kleinlich, wie nichtssagend! Es – o Miß Mary, wenn Sie wüßten, wenn Sie wüßten –“

In diesem Augenblicke hörten wir eiliges Thürenschlagen, das Rufen der Frau Doktor. „Johanne, Johanne!“ und im nächsten Moment war unsere Thür aufgerissen und die sonst so ruhige Frau erschien halb ausgekleidet, auf der Schwelle.

„Kinder! Mary! Denkt Euch, ich bin bestohlen. In meinem Schreibtische fehlen vierhundert Mark! Johanne, laufe zur Polizei!“

Wir standen Beide starr, Jascha und ich; aber Erstere sank schon im nächsten Augenblick auf den Stuhl, auf dem ich gesessen; ich kümmerte mich gar nicht um sie; ich lief hinter Frau Doktor nach deren Zimmer und betrachtete den Schub des Schreibtisches, in welchem vierhundert Mark in Kassenscheinen neben sechshundert Mark in Gold gelegen hatten, wovon nur die vier Kassenscheine verschwunden waren. Frau Doktor hatte ihre Brillantbrosche weglegen und für die Wirthschaft, die sie im Drange des Tages mit Geld zu versehen vergessen hatte, hundert Mark herausnehmen wollen und da die Entdeckung gemacht.

Das ganze Haus ward lebendig, Johanne, das Stubenmädchen, fing an zu weinen, als ob ihr der Strick schon an der Kehle saß; die Köchin stand kreidebleich und fragte, ob die gnädige Frau es auch ganz genau wisse. Diese armen Geschöpfe traf natürlich der erste Verdacht; denn Frau Doktor behauptete mit ziemlicher Bestimmtheit, es könne nur ein Hausdieb gewesen sein, Einer, der ganz genau Bescheid wisse, wie und wo. Olga erklärte, es sei unheimlich, vielleicht habe der Spitzbube sich noch im Hause versteckt. Dies bewirkte, daß keine von uns in ihr Zimmer zurückkehren wollte und im eifrigen Gespräche Muthmaßungen, Ausrufe hin und her flogen. Ueber eine Stunde verging so, bis Frau Doktor befahl, sobald der Tag graue, solle Johanne nach der Polizei gehen und wir jetzt ins Bette, denn augenblicklich sei Nichts in der Sache zu thun.

Zufällig war ich die Letzte, die das Zimmer verließ, Frau Doktor hatte sich abermals über das Schubfach gebeugt.

„Wenn ich nur begreifen könnte!“ sagte sie. Und als sie mich zögern sah, fügte sie hinzu. „Ein Dieb, ein professioneller Dieb, hätte wohl Alles genommen, sollte ich denken. Aber, Mary, ich begreife nur nicht; die Schlösser sind heil, niemals steht der Schub offen, ich bin doch immer –“

Plötzlich hielt sie inne und sah mich erschreckt an. „Um Gotteswillen, das ist ja Wahnsinn zu denken!“ flüsterte sie. „Ach, Mary, so Etwas weckt alles Schlechte im Menschen – nicht wahr, Mary?“

Ich wußte nicht, was sie meinte; ich kam herüber zu ihr und blickte sie fragend an.

„Die Johanne und die Rike sind immer so ehrlich gewesen; ich habe sie jahrelang, Mary –“

„Ich glaube auch nicht, daß eine von ihnen die Diebin ist, Frau Doktor.“

„Nicht, Kind, nicht? Was glaubst Du denn?“

Sie sah mich so fassungslos an, wie ich sie noch nie gesehen.

„Nichts!“ erwiederte ich ängstlich, „Nichts, Frau Doktor, ich habe keine Ahnung.“

„Mary, warum kam Jascha nicht mit herüber? Ihr waret doch eben Alle hier?“

Jascha? – Mir war es plötzlich, als preßte Etwas furchtbar mein Herz zusammen. Wir sahen uns Beide an; das Gebahren des Mädchens während der letzten Zeit zog blitzschnell vor mir vorüber. Aber, mein Gott, es war ja unmöglich! „Ich bitte Sie, Frau Doktor, liebe Frau Doktor!“

„Ach Kind! Kind! Ich bin eine alte Frau – ich kenne das Leben –“

„Nein, nein! Dieses nicht! Dieses nicht!“ rief ich weinend.

„Sei ruhig, Mary, es kann ja nicht möglich sein,“ sagte auch sie. „Geh hinüber, laß Dir Nichts merken! Es wird ja Alles aufgeklärt werden.“

Mit diesem furchtbaren Argwohn, der in mir rege geworden, kehrte ich zurück. Jascha saß nicht mehr auf dem Stuhle, sie lag davor, die Hände in das Haar gekrallt, ein Stöhnen klang mir ins Ohr.

„Jascha,“ rief ich, „was ist denn?“ Ich lief zu ihr, kniete neben sie und legte meinen Arm um ihren Leib. „Jascha, Sie haben Kummer, sagen Sie mir, was Sie drückt!“

„O, lassen Sie mich! Lassen Sie mich!“ schrie sie gellend auf und sprang empor, die gelösten Haare wild zurückschüttelnd. „Mir ist so schlecht, so angst!“

Ich weiß nicht, wie es kam, aber meine Zweifel waren augenblicklich zu Ende.

„Jascha,“ sprach ich fest, „warum sagten Sie es mir nicht, daß Sie Geld gebrauchen? Ich hätte es Ihnen von meinem Großpapa besorgt.“

Sie starrte mich mit einem Antlitz an, das sich zusehends verwandelte, mit Augen, so voll namenlosen Entsetzens, daß ich mich zu fürchten begann. Dann schwankte sie und würde zu Boden gefallen sein, hätte ich sie nicht gehalten. Und mit der fast Bewußtlosen im Arm saß ich auf dem Rand ihres Bettes, lange Zeit, und Nichts unterbrach die schreckliche Stille, als ihr regelmäßiges Aufstöhnen. Das erste Morgengrauen stahl sich durch die Vorhänge, unsere Kerze flackerte noch einmal auf, ehe sie erlosch, und noch immer saßen wir in der farblosen bleiernen Dämmerung des beginnenden Regentages, noch immer.

„Jascha,“ sagte ich endlich weinend und küßte sie auf die Stirn, „Jascha, wollen Sie sich nicht ein wenig legen?“

Da fuhr sie empor, und ihre Arme umklammerten mich: „Verlassen Sie mich nicht! Bleiben Sie – bleiben Sie bei mir!“

„Ich bleibe, Jascha, aber legen Sie sich, ziehen Sie das Kleid aus!“

„Das Kleid!“ rief sie, „das schreckliche Kleid!“ Und sie warf sich wild auf ihr Lager, und ihren leidenschaftlichen Schmerzensausbruch dämpften die Kissen, in die sie schrie.

„Ach Jascha, warum denn?“ sagte ich.

„O Gott im Himmel, was habe ich gethan!“ schrie sie auf.

„Jascha, fassen Sie sich, werden Sie ruhiger, gehen Sie zu Frau Doktor, noch ist Nichts verloren. Vertrauen Sie ihr die volle Wahrheit –“

„Ich kann nicht! Ich kann nicht! – Ist denn kein Ausweg?“

„Gut, wenn Sie nicht wollen, werde ich es thun, Jascha. Die Geschichte darf nicht erst beim Amte gemeldet werden.“

Sie war vom Bette geglitten und lag auf den Knieen, die Hände gefaltet. Und so sah sie mir nach, als ich hinauseilte, hinunter zur Frau Doktor. Die alte Dame schlief nicht, sie saß in ihrem Morgenkleide im Lehnstuhl am Fenster, sie schien sich nicht einmal zu wundern, als ich kam, und sah mich nur fragend an.

„Frau Doktor,“ sagte ich mit thränenerstickter Stimme, „helfen Sie ihr, sie ist unglücklich!“

[884] „Also doch!“ murmelte sie, sich erhebend, „bleib’ hier! Ich werde hinüber gehen.“

Ich blieb in dem Schlafzimmer der sorgsamen liebreichen Frau, die schon so manch Trauriges erfahren hatte in ihrem schweren Beruf; ob Schwereres als dieses?

Jascha, warum that sie es? War es ein Erbtheil der verkommenen Mutter? Was trieb sie zu dem niedrigen Verbrechen? Es war so dunkel, so unverständlich.

Eine Stunde verrann. Ich sah an mir herunter – noch immer war ich in dem rosa Tüllkleid der festlichen Nacht. Allmählich wurde es hell und heller, die Spatzen lärmten im Garten; drunten vom Hofe scholl das Plumpen der Mägde, die Wasser holten. Der Tag hatte begonnen. Ich zog die Vorhänge zurück und öffnete das Fenster; gluthrothes schweres Gewölk lag im Osten, aber die Sonne vermochte nicht durchzudringen. Mich fror; ich war übermüde und mir war angst; wäre es doch erst Abend; was wird der Tag bringen? – Und dann trat Frau Doktor ein und ging an das Fenster.

„Johanne, das Geld ist da!“ rief sie hinunter, „ich hatte es in meine Brieftasche gelegt und ganz vergessen.“

Ein erleichterndes „Gott sei Dank!“ scholl herauf.

„Lege auch Du Dich, Mary,“ sagte sie mild, „aber laß Jascha allein, es wird das Beste sein. Dort mein Sofa, es läßt sich ganz gut ein Schläfchen darauf machen; ziehe Dich rasch um!“

Jascha ruhte auf dem Bette; Frau Doktor hatte sie wohl ausgezogen, sie war in ihrem Nachtkleide. Die Haare lagen wirr über den Kissen, bis auf den buntgestickten Bettteppich hingen die goldenen Strähne. Die Hände hielt sie vor dem Gesicht.

Ehe ich in ein Morgenkleid gehüllt das Zimmer verließ, trat ich zu ihr und beugte mich über sie: „Jascha, schlafen Sie?“

Keine Antwort. Sie wandte nur das Gesicht zur Seite.

„Arme Jascha!“ dachte ich, die Stube auf den Zehen verlassend.

„Sie verdient unser Mitleid, Mary.“ Das war Alles, was Frau Doktor mir mittheilte; dann schlief ich ein; die Müdigkeit kam mit zwingender Gewalt über mich.

Es war hoher Mittag, als ich erwachte. Jascha sei nicht wohl, erfuhr ich, aber jetzt schlafe sie, es solle auch Niemand zu ihr. In Frau Doktors Stube machte ich Toilette. Bei Tische ging es lebhaft zu, es gab soviel zu sprechen vom gestrigen Abend, zu lachen über den vermeintlichen Diebstahl, und gar daß Frau Doktor so Etwas passiren konnte, wie ein Uebersehen der Kassenscheine, oder vielmehr ein Vergessen, daß sie dieselben in ihre Brieftasche gelegt habe, wo sie nun gefunden worden!

„Ja, ja!“ lächelte die alte Dame – nur ich sah, wie schwer ihr dieses Lächeln wurde – „man kann sich irren; wir sind Alle schwache Menschen.“

Johanne, die gerade die Schüssel präsentirte, brummte respektwidrig: „Ja, es ist ein Glück, an Unsereinem wär’s doch hängen geblieben.“

Gegen Abend flatterte die ganze Schar spazieren; nur Frau Doktor und ich blieben daheim, Jascha’s wegen. Wir saßen im Wohnzimmer bei geöffneter Thür, um zu hören, wenn sie erwachte, und Frau Doktor erzählte mir flüsternd von Jascha’s Beichte. – Sie hatte das Geld genommen für ihre Mutter. Die Mutter lebte, sie war hier, ihr hatte das Mädchen das Kreuz gegeben, mit ihr sich getroffen am Weiher, ihretwegen Heimlichkeiten begangen und Mißachtung ertragen; der Mutter wegen, die sie liebte in der Erinnerung an Alles, was gut und lieb, zärtlich und theuer war in ihrem jungen Leben, an deren Schuld sie nicht glaubte in ihrem Kindersinn. Großmama mochte sie nie leiden, hatte sie nie geliebkost, sie nie „mein Glück, mein Sonnenschein“ genannt. Großmutter war nur immer bedacht gewesen, sie so streng wie möglich zu halten, weil sie der Mutter so ähnlich sei. Hier sollte sie sich fügen lernen; und hierher fand die Mutter, die längst Ausgestoßene, die man irgendwo in Paris oder Nizza vermuthete, den Weg zu ihrem Kinde als elendes, verlassenes, zerlumptes Weib, und Jascha gab Alles, was sie besaß, und bat um mehr Geld bei der Großmutter, um immer mehr. Niemals wollte es reichen, und endlich schöpfte diese energische alte Dame Verdacht, und Jascha bekam Nichts mehr. Und so dringend gebrauchte die Mutter Geld, ach so dringend! Nur dies noch, dann war es ihr möglich, still und ehrbar ein paar Jahre hier zu leben, vielleicht die letzten, hier in ihrer Nähe, und Jascha würde die Küsse haben können, nach denen sie sich gesehnt, und die weiche leise Mutterhand würde ihr über die Wange streichen – ach, es war so süß, dies zu denken!

Da log sie erst; sie wollte kein Ballkleid kaufen, nur um die vierhundert Mark war es ihr zu thun; und als dies fehlschlug, da kam der Fall!

Ach Jascha, wie habe ich Dir abgebeten, während ich dies hörte und die Thränen über die Wangen der Frau Doktor rinnen sah!

Drunten hatte es geklingelt; Stimmen schollen herauf, dann brachte Johanne ein wundervolles Bouquett getragen und einen Brief an Fräulein von Ponianska – eine Empfehlung von Herrn von Ahlfeldt.

„Es wird sie erheitern,“ sagte ich, „ich will sehen, ob sie wacht.“

„Meinst Du?“ fragte Frau Doktor unsicher. „Nun, wissen muß sie es ja.“

„O gewiß, beste Frau Doktor; warum nicht?“

„Der Diener wartet auf Antwort,“ fügte Johanne hinzu.

Ich nahm Strauß und Brief und drückte leise die Thür auf zu Jascha’s Zimmer. Die Vorhänge waren noch geschlossen; eine dumpfe Stubenluft wehte mir entgegen.

„Jascha!“ flüsterte ich und bog mich hinunter. Sie lag mit weit offenen Augen und sah mich an.

„Hier bringe ich Ihnen etwas Schönes,“ sprach ich weiter und hielt ihr den Strauß an die Wange. „Und da ein Brief – rathen Sie, von wem? Von Herrn von Ahlfeldt.“

Sie griff hastig zu. „O Gott!“ hörte ich sie sagen. Und während ich die Vorhänge zurückschob, zerriß sie das Kouvert, und als sie las, ward ihr Gesicht wie die Rosen des Straußes und dann todtenbleich, und halb aufgerichtet, den Kopf auf den Arm gestützt, starrte sie auf den Brief.

„Ist nicht Antwort, Jascha?“ fragte ich.

„Morgen! Morgen!“ stieß sie hervor.

„Soll ich so bestellen?“

„Ja!“

Es war das letzte Wort, das ich von Jascha gehört, das letzte Mal, daß ich sie sah, als ich, bevor ich die Thür schloß, noch einmal zu ihr hinüberblickte: das Gesicht in die Rosen gedrückt, den Brief in der Hand, die sie zur kleinen Faust geschlossen, das Ganze eingehüllt von dem goldigen Schleier der Haare.

Jascha Ponianska geht es schlecht, erzählten sich die jungen Mädchen Abends bei Tische, an dem ich zwischen ihnen saß, ohne einen Bissen genießen zu können; und an dessen oberem Ende der Platz der Frau Doktor heute leer geblieben war, sie weilte mit dem Arzte schon seit länger als einer Stunde an Jascha’s Bette.

„O hört doch! Hört!“ rief Olga bestürzt, „sie schreit!“

Ein ferner langgezogener Schmerzenslaut klang zitternd durch das Gemach.

„Das ist gräßlich! Wie kann man sich so gehen lassen!“ ärgerte sich Dora.

„Frau Doktor läßt bitten, die jungen Damen möchten den Abend im Gartensaal verbringen,“ bestellte das Mädchen.

Wir gingen hinunter. Und da saßen sie dann und lachten und sprachen, und ich stand am Fenster und wand die Hände in einander – – dort oben! Dort oben! Was war es nur? Einmal ging ich auf den Flur und lauschte, und da kam eben Johanne eilig zur vordern Thür herein, und hinter ihr schwankte eine Gestalt, eine sonderbare Gestalt, so verkommen, so komödiantenhaft, und im Schein der Flurlampe erkannte ich mit Mühe die Frau von der Treppe und aus dem Park: so schmerzverzerrt waren diese Züge, so voll brechender Angst diese Augen.

Jascha’s Mutter kam!

Und weiter plauderten sie unten und legten Patience und besprachen die Toiletten von gestern, und langsam schlich eine Stunde nach der andern hin, Niemand mahnte daran, die Ruhe zu suchen.

„Und ich sage Euch, Herr von Ahlfeldt denkt nicht daran,“ scholl es.

„Er wird Jascha Ponianska heirathen? Lächerlich!“ klang Olga’s Stimme.

In diesem Augenblick entstand eine Pause; Frau Doktor war eingetreten; aber so anders als sonst sah sie aus.

„Geht leise zu Bette,“ sagte sie, „Jascha Ponianska ist todt!“ – Und sie hielt ihr Taschentuch an die Augen und wandte sich.

Wie lähmender Schrecken flog es über alle die jungen Gesichter. Kein Laut, kein Hauch war hörbar. Auf Aller Mienen [886] stand zu lesen: so plötzlich! So rasch! So furchtbar rasch! Kann denn der Tod so jäh hereinbrechen?

Es ist nicht wahr! Sie muß ja noch leben, noch athmen, dies schöne Geschöpf, das gestern Abend noch in Lebenslust glühte!

Frau Doktor hob die Augen, sie suchte mich, und als ich zu ihr trat, sagte sie: „Frage nicht, Mary, Gott wird ihr verzeihen!“

Sie nahm mich mit in ihr Zimmer. An Jascha’s Bette wachte die Mutter, diese armselige Mutter, die dennoch geliebt ward von ihrem Kinde, weil Nichts so weich ist wie die Mutterhand, Nichts so süß wie die Stimme, die das erste Liedchen singt.

Der Brief des Herrn von Ahlfeldt lag zerknittert auf dem Tische an Frau Doktors Bette, nach Jascha’s Wunsch sollte sie ihn an die Großmutter senden. Er enthielt die Frage, ob er bei der Großmutter um ihre Hand werben dürfe.

Seine Rosen wollte sie mit in den Sarg haben.

Woher sie das Gift bekommen? Wir haben es nie erfahren. –

Die Großmutter kam, in Krepp und Trauerschleier, und holte die Leiche ihrer Enkelin. Sie hielt sich aufrecht, aber sie sprach kaum ein Wort. – –

Nun saßen wir wieder zu Zwölf um die Tafel, aber lange blieb es stumm und still in unserm Kreise; es war, als getraue sich keine von uns zu lachen, und an der Stube, in welcher Jascha gestorben, schlichen wir Abends scheu vorüber. Der Tod ist so schrecklich, wenn er so plötzlich kommt, und man wußte nicht einmal, woran sie gestorben, es war so unheimlich gewesen.

Nur Frau Doktor wußte es, und ich und die Mutter.

Wo sie geblieben? Wir haben nie Etwas gehört von ihr. Verkommen in Paris oder Nizza, oder sonst wo in der weiten Welt. Wer weiß es!