Jagdleben im Hochland (Die Gartenlaube 1888)

Textdaten
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Autor: Ludwig Ganghofer
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Titel: Jagdleben im Hochland
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 3, 23, 39, S. 42–46, 376–381, 659–663
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1888
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[42]
Jagdleben im Hochland.
Geschildert von Ludwig Ganghofer.
„Auf der Hütten.“[1]

Das war ein Tag gewesen – so einer von den richtigen Grobwettertagen. Am frühen Morgen schon, als ich mit dem Förster zur Gemsbirsch ausgezogen, hatte uns der Himmel ein bedenkliches Gesicht geschnitten. „Heut’ giebt’s noch ’was! Ich mein’, wir bleibeten g’scheiter daheim auf der Hütten!“ hatte der Förster ein- um das andremal gebrummt. Aber mein Jagdeifer hatte mir die Ohren taub gemacht für diese Warnung. „Ah was – so g’fährlich schaut’s net aus!“ Mit diesen Worten hatte ich die Büchse über die Schulter geworfen und war hinausgetreten unter den mit schwerem Gewölk behangenen Himmel. Brummend war der Förster hinter mir hergetrabt, hatte eine dicke Rauchwolke schief unter seinem grauen Schnurrbart hervorgepafft und geknurrt: „Natürlich – da muß man gamsjaagern – bei so ei’m Wetter, wo der Wind umeinanderfahrt wie a Maus im leeren Mehlsack. Aber g’rad freuen thät’s mich, wenn’s uns heut’ noch recht g’hörig waschen möcht’.“

Er sollte auf diese Freude nicht lange warten müssen. Denn als wir nach erfolgloser Birsche die Grenze des Jagdbezirkes erreicht hatten, da war’s über uns losgebrochen, „als hätt’s der Peterl g’rad schafflweis zum abagießen.“ Da hatte kein Wettermantel, kein Unterstehen mehr gefruchtet. Nach wenigen Minuten waren wir durchnäßt bis auf die Haut. Mit der richtigen Nässe war uns aber auch der richtige Jägerhumor wieder gekommen; unter Lachen und Plaudern waren wir bei strömendem Regen den zwei Stunden weiten Weg zur Hütte heimwärts gestapft und hatten es kaum beachtet, wie das Wasser in völligen Bächen von uns niederrann, und wie jeder Schritt einen ordentlichen Springbrunnen aus unseren glitschenden, patschenden Schuhen trieb.

Mit lachendem Gruße hatte uns der Jagdgehilfe unter der Hüttenthür empfangen. Wie Pudel, die aus dem Wasser gestiegen, hatten wir die gröbste Nässe von uns geschüttelt und waren in die kleine, trauliche Jägerstube getreten, in welcher der Jagdgehilfe in Voraussicht des Zustandes, in dem wir heimkehren würden, ein tüchtiges Feuer angeschürt hatte.

Und nun, ein halbes Stündchen später, saßen wir in trockenen Kleidern, rauchend und plaudernd auf der Holzbank vor der Hütte und schauten, im Schutze des weitvorspringenden Daches, hinaus in das rastlose Strömen und Gießen. Uns zu Füßen senkte sich der waldige Berghang nieder ins Thal, das von dichten wirbelnden Nebeln erfüllt war, welche nur ab und zu einen flüchtigen Ausblick über die weit zerstreuten Häuser des tiefliegenden Dorfes gewährten. Jenseit des Thales bauten sich steile Berge empor über das Nebelmeer, aber ihre Kuppen verschwanden wieder in dem höheren Gewölk, und die farbige Zeichnung ihrer Gehänge schien von dem strömenden Regen wie von einem dichten Schleier überbreitet. Keuchende Windstöße rüttelten die triefenden Tannen und peitschten den Regen, der mit klatschendem Knattern über das Schindeldach der Hütte fiel. Von unferne tönte das dumpfe Rauschen eines Sturzbaches, und dicht vor unseren Füßen plätscherten die hundert Wasserfäden der Dachtraufe über das verwaschene Gestein. Dazu klang durch die offenen Hüttenfenster das Prasseln und Knistern des Feuers, über welchem das Wasser im eisernen Fleischtopf brodelte, und wir hörten die hin- und wiedereilenden Schritte des Jagdgehilfen, hörten das Klappern der Pfanne, mit deren Hilfe er für unseren Jägerhunger seine primitive Kochkunst bethätigte, während er halblaut eine volksthümliche Weise pfiff.

All dieses Hören und Sehen, die gemüthliche Rast nach dem ermüdenden Marsche, das trockene Plätzchen inmitten dieses Strömens und Gießens: das alles machte eine so behagliche Stimmung. Und diese Stimmung mochte mir der Förster wohl vom Gesichte lesen, denn er lachte mich an und sagte: „Gelten’s, nach so ei’m Marsch und bei so ei’m Wetter, da thut Ei’m d’ Hütten wohl.“ Mit vergnüglichem Schmunzeln nickte er vor sich hin, zog an der Pfeife, blies ein dünnes Wölklein in die Luft und plauderte weiter: „Ja, ich sag’s allweil – die Jaager von heut’, die wissen’s gar net, wie schön als sie’s haben. Wann ich dagegen so z’ruckdenk’ an mein’ eigene G’hilfenzeit, vor a dreiß’g a vierzig Jahr’ – no, Sie – da hat fein a ganze, richtige Lieb’ zur Jaagerei g’hört, sonst hätt Ei’m d’ Lust vergehn können vor lauter Müh’ und Plag’. Jeden g’schlagenen Morgen vor der Tagslichten in d’ Höh’ und ’nauf am Berg a vier, a fünf und sechs Stund’ weit – und nachher auf d’ Nacht wieder heim bis ins Ort. Denn in die Sennhütten unterschliefen, das is auch net ei’m Jeden sein Gusto g’wesen – und a jede Sennerin war auch net darnach, daß sich a Jaager mit ihr hätt’ verhalten mögen. Höchstens, daß man auf an Schmarren oder a Milchsuppen zusprechen hat können. Aber wenn kein Kaaser weit und breit net g’wesen is, oder wenn d’ Sennhütten leer g’standen sind, nachher hat’s g’heißen, von in der Fruh bis auf d’ Nacht umeinanderschieben, ohne an warmen Bissen im Magen. Und mit die Lumpen! Was hat man da erst für a Metten g’habt! Natürlich, die Tropfen, die eiskalten, die haben das auch vermerkt und ausg’nutzt, daß der Jaager dengerst amal heim hat müssen zum Essen und Schlafen. Allbot hast da an Schuß hören können – aber natürlich, bis der Jaager amal zum Zeug’ kommen is, derzeit war der Lump schon lang über alle Berg’! Und Mon’schein wann g’wesen is – da hat Einer gleich Tag und Nacht nimmer heim dürfen. Wo man auf’n Abend ’gangen oder g’standen is, da hat man sich hing’legt und hat sich in sein’ Wettermantel g’wickelt. Und am allerfleißigsten hat Einer bei’m groben Wetter auf die Füß’ sein dürfen – g’wiß wahr – das is Ei’m gar nix Seltsams net g’wesen, daß man an ei’m und demselbigen Tag a drei a viermal naß und trocken ’worden is bis auf’n letzten Faden. Und Sie – so ’was nimmt fein an Menschen her!“

Bei diesen Worten schnitt der Förster ein schiefes Gesicht, klemmte die Pfeife zwischen die Zähne und fuhr sich mit beiden Händen unter prüfenden Griffen über die Beine.

Dann hub er wieder zu plaudern an und begann im Gegensatz zur „alten Zeit“ das Lob der neuen zu singen.

„G’wiß wahr, seit in die letzten fufzehn Jahr ein Schutzhäusl und Jaagerhüttl um’s andere ’baut wird, derzeit is auch von Jahr zu Jahr mit die Lumpen besser worden. Natürlich, ganz aufhören thut so ’was nie net. Aber die Mehrern haben sich’s doch überlegt mit’m ’Nausgehn, seit s’ wissen, daß ihnen der Jaager bei Tag und Nacht allweil auf an Katzensprung am G’nack sitzt. Jetzt macht sich ja der Schutz schiergar von selber. Gar nimmer plagen braucht sich Einer – und beim groben Wetter thut’s es ja schon, wenn er sich vor d’ Hüttenthür auf’s Bankl [43] setzt. Da sieht er und hört er sein’ ganzen Bezirk aus. Und wenn er schon draußen war und kommt heim als a Nasser, so hat er sein Stübl und hat sein’ Ofen. Und mit’m Essen kann er sich’s einrichten, g’rad wie er mag. In der Fruh hat er sein’ Kaffee oder sein’ Brotsuppen – auf Mittag kocht er sich an Schmarren oder Kaasnocken, oder was ihm sonst g’rad taugt – und fürn Abend, da liegt a Flascherl Bier in der Kellergruben. In der Nacht hat er sein’ warme Liegerstatt, und wenn’s a recht Verzogener is, der’s Kratzen vom Heu net vertragt, der hat sein’ Matratzen, sein’ wollene Decken und sein Polsterkissen. Und G’sellschaft hat er dengerst auch a paarmal in der Wochen – und da sind nachher die lustigen Stunden daheim auf der Hütten. Ja, g’rad a nobligs Leben is daheroben!“

So plauderte der Graubart weiter und wurde nicht müde, die Vorzüge und Reize des Hüttenlebens vor mir zu entwickeln. Seltsamer Weise dachte er dabei gerade an einen Vorzug nicht, den er meinem eigenen Geschmacke nach in erster Reihe hätte nennen müssen: den Reiz der landschaftlichen Umgebung.

Der Zweck, dem diese Hütten dienen, bringt es mit sich, daß sie zumeist an Stellen erbaut sind, von denen aus ein möglichst großer Theil des betreffenden Jagdbezirkes zu übersehen ist. Da steht solch eine Hütte inmitten eines weit gedehnten Berghanges auf scharf vorspringendem, steilem Felsenerker, der einen Ausblick von unbeschreiblicher Schönheit bietet, sei es über eine wild zerklüftete Waldschlucht oder einen lieblichen Almengrund, sei es über das tiefliegende, bewohnte Thal oder über die waldigen Vorberge hinaus in die graue, bis in unabsehbare Ferne sich dehnende Ebene. Eine andere Hütte wieder erhebt sich auf einem schütterbewachsenen Hügel im Centrum eines stundenbreiten Hochplateaus, das rings umschlossen ist von kahl aufstarrenden Wänden, von mächtig in die Lüfte ragenden Felskolossen, über deren höchste Gehänge der ewige Schnee herniedergreift bis in die grünen Latschenfelder, zwischen welchen wohl auch mit dunkelblauem Wasser ein kleiner Hochsee still gebettet liegt, der sich ansieht wie eines versteinerten Riesen lebendig gebliebenes Auge, das mit unergründlich tiefem, schwermuthsvollem Blick den Himmel sucht.

Was erhebender wirkt, was tiefer in das Gemüth eines für Naturschönheit empfänglichen Menschen greift, ich weiß es kaum zu entscheiden: der erste, jähe, in einen einzigen Blick gefaßte Eindruck solch einer Scenerie oder das tagelange, beschauende Verweilen an solchem Orte, das sinnende Betrachten des allmählichen Wandels in diesem Bilde, der mit dem wechselnden Lichte des verrinnenden Tages sich vollzieht, von der frühen, dämmerigen Stunde an, in welcher das Auge nur mit Mühe die grauen Schatten durchdringt, bis zum Erwachen des gebrochenen, in allen Tönen spielenden Morgenlichtes, bis zum rosigen Erglänzen des ersten Sonnenstrahls, bis zu der drückenden, alle Kontouren verwischenden Schwüle des Mittags, bis zum lauen, klaren, herrlichen Abend, an welchem unter dem Scheidegruß der Sonne die kahlen Felsen in dunklem Purpur erglühen, bis die sternenhelle Nacht mit ihren schwarzen Schleiern die letzten Farben löscht.

Und solch einem Tage gegenüber nun ein anderer, mit seinen jagenden Wolken und flatternden Nebeln, mit seinem Gießen und Strömen, mit seinen triefenden Bäumen und tropfenden Wänden, mit seinen rasch entstandenen und rasch wieder verrinnenden Sturzbächen, mit zuckenden Blitzen und mit krachendem Donner, unter dem die Erde schüttert und die Berge zu erzittern scheinen, während das dumpfdröhnende Echo des einen Schlages hinüberrollt in den nächsten.

So wechseln die Bilder der Tage und fügen Zug an Zug zum Gesichte des Jahres, von seinem Morgen, an dem der Jäger nach „harber“ Winterszeit zu der vom Schnee erlösten Hütte steigt, vom Frühling an mit seinem brausenden Föhn, mit seinen stürzenden Lawinen, mit seinem licht und schüchtern ersprossenden Grün, bis zur prunkenden üppigen Pracht des Sommers, bis zum Herbste, in welchem das Thierleben der Berge seinen regsten Pulsschlag zeigt, in welchem ein immerklarer, tiefblauer Himmel niederlächelt auf den grellen, buntfarbigen, fast koketten Aufputz der alternden Natur, bis jählings eines Morgens der erste, blendendweiße Neuschnee die steilen Gehänge deckt, die geduldigen Bäume drückt, das Wild in die tieferen Gehege treibt und den Jäger von der Hütte heimwärts schickt in das winterliche Dorf.

Der mit den Stunden geizende Tourist, der die Thäler durchhetzt, im Schweiße seines Angesichtes hinter den Fersen des Führers eine „Hochtour“ abkeucht, in der Almhütte eine Schüssel voll saurer Milch auslöffelt und sich von der Sennerin belächeln läßt – er trägt von der „Bergnatur“, die er zu „studiren“ gekommen, wohl auch ein Bild mit fort. Wie weit entfernt aber ist seine kleinliche Vorstellung von der gewaltigen Wirklichkeit! Wer die Bergwelt, die mit jeder Stunde ein anderes Antlitz zeigt, seinem Verständniß erschließen will, der hat vor allem Zeit, Geduld und Ruhe vonnöthen. Dieses tage- und wochenlange Verweilen „auf der Hütte“, das ist eine der richtigen Hochschulen für die Erkenntniß der Bergnatur. Hier sitzt sie selbst in ihrer ganzen tiefernsten Würde auf dem Docentenstuhl und öffnet dem geduldig Lauschenden ihr innerstes Herz. Hier lernt man so recht ihre Sprache verstehen, die sich zusammensetzt aus dem dumpfen Poltern der stürzenden Steine und dem Grollen der Lawinen, aus dem Brausen des Sturmes, dem Aechzen der Bäume und dem Raunen der zitternden Blätter, aus dem Rauschen und Murmeln ihrer Gewässer und aus den hundertfachen Stimmen ihrer scheuen Geschöpfe. In jeder Jahreszeit, in jeder Stunde des Tages hat diese Sprache einen anderen Klang, eine andere Färbung. Und am tiefsten greift sie jenem ins Herz, der sie hört in dunkler Nacht, wenn die Sterne niederblitzen über die finster ruhenden Berge. Man sitzt auf einem moosigen Steinblock und starrt in Gedanken empor zu den leuchtenden Augen des Alls. Wie ein tiefes, langaushaltendes Athmen geht es durch den schwarzen Wald. Da plötzlich trifft ein unbeschreiblicher, hellvibrirender Ton das Ohr. Man weiß nicht, woher er kommt, und erräth nicht, was ihn erzeugt hat. Er kommt wie aus weiter Ferne, wie aus der Tiefe der Erde – man hört ihn – und leise verzittert er in der finsteren Nacht. Es ist als schliefe die Natur, als hätte sie im Traum gesprochen.

Wie manche solcher Stunden hab’ ich schon genossen, und immer wieder wirken sie auf mich in gleich ergreifender Weise. Da ist es mir nach und nach zur lieben Gewohnheit geworden, in der letzten Nacht vor dem Verlassen der Hütte lange Stunden unter freiem Himmel zu verbringen, bis mich die mahnende Stimme des Jägers oder das ungeduldige Knurren meines Hundes aus dem Sinnen und Schatten weckt und mich zurückruft in die Hütte, zur letzten kurzen Rast auf dem weichen, knisternden Bergheu.

Wie wird mir dann am anderen Morgen das Scheiden von der kleinen Hütte so schwer! Geht es aber nach Tagen oder Wochen wieder zu Berge und winkt mir nach langem, ermüdendem Anstieg das in der Sonne blinkende Balkenhaus über die Tannenwipfel entgegen, dann ist mit einem Schlag alle Müdigkeit vergessen. Da kräuselt sich der bläuliche Rauch aus den Schindeln; mit hellem Laut begrüßt mich der rothe Schweißhund, und nun tritt der Jäger unter die Thür und streckt mir lachenden Gesichtes die sonnverbrannte Rechte hin.

„Grüß’ Gott, Herr Doktor! Wieder einmal beim Zeug?“ so lacht er mich an. „Wie geht’s denn, han? Aber wie dumm als ich frag’! Wie kann’s denn schlecht gehn, wann’s auf d’ Hütten geht! Jetzt kommen S’ nur gleich ’rein. Die zwei Träger sind schon da seit a drei, vier Stund’ – der ein’ mit Ihrem Sach’, der ander’ mit’m Bier. Ich hab’s Faß’l gleich aufg’stellt – und wann S’ an Durst haben, kann ich anzapfen auf der Stell’.“

Dabei nimmt er mir den Bergstock aus der Hand und die Büchse von der Schulter, und erleichtert aufathmend tret’ ich unter die Thür, während mein Teckel mit dem Schweißhund ein schnupperndes Wiedersehen feiert. Ein kleiner Vorraum empfängt mich, der als Speisekammer und zuweilen als Küche dient. Eine Klappthür führt zur Kellergrube. Fast den vierten Theil des Raumes nimmt der selten benützte offene Herd ein, auf welchem jetzt das Bierfaß steht, mit naßkalten Tüchern umwickelt. Eine niedere Thür führt in die Stube, welche durch zwei kleine vergitterte Fenster ihr Licht empfängt. Die Balkenwände und die Decke sind mit weißen Brettern verschalt. In der einen Ecke steht der eiserne Kochherd, in der andern daneben das für drei Schläfer knappen Raum gewährende Heubett mit zwei groben Wolldecken und einem zerlegenen Polster. In der Fensterecke steht der kleine Tisch vor der in die Wände eingelassenen Winkelbank. In der vierten leeren Ecke ist hoch an der Wand ein Brett [44] befestigt, welches, neben mancherlei Kram, die blecherne Kaffeemaschine, die Zuckerdose, einige Gläser und ein paar irdene Töpfe trägt. Darunter ist die Zapfenreihe für die Gewehre, Ferngläser und Rucksäcke angebracht. Nicht weit davon hängt ein Rahmen mit einigen Holz- und Porcellantellern, mit zwei irdenen Schüsseln und drei oder vier Kaffeetassen, von denen sich nicht mehr alle eines Henkels erfreuen. Ueber dem Ofen hängen die beiden Pfannen, die saubergefegte Wasserpfanne und die fettglänzende Schmarrenpfanne. Ein paar verkümmerte Geweihe schmücken die Wände. Aus dem Tischwinkel nieder grüßt das niemals fehlende Krucifix, neben welchem ein paar Heiligenbilder mit dem von einer dünnen Goldleiste umrahmten Bilde des Königs einträchtige Gesellschaft halten.

Dieser einen Hütte gleichen die meisten im Gebirge, deren Hauptzweck die Erleichterung des Schutzdienstes ist. Manche Hütten, welche in erster Linie als Jagdhäuser und nur nebenbei als Schutzhütten dienen, besonders solche in den königlichen Leibgehegen und in den Jagdbezirken reicher Standesherren, enthalten wohl mehrere Räume und bieten größeren Komfort.

Aber je enger die Hütte, desto lieber ist sie mir. Je kleiner der Tisch, desto näher rückt man zusammen, desto gemüthlicher plaudert sich’s. Und was giebt es da am ersten Abend bei Krug und Pfeife Alles zu plaudern und zu fragen! Wo steht der gute Zehnerhirsch mit dem kapitalen, weitgespannten Geweih? Da drüben also im neuen Schlag! Und schon verfegt! Und dieser alte Schlaumeier von einem Gemsbock, der mir im vergangenen Herbste zweimal aus dem Schusse blitzte? Er hält auch heuer wieder den alten Stand! Und auch die Rehböcke treiben schon lustig drauf los. Hurrah, da giebt’s ja Waidmannsarbeit übergenug für alle Hände! Also munter ausgetrunken und – und hurtig eingeschenkt, daß wir bei Zeiten aufs Heu kommen! So flink geht’s aber doch nicht von Statten; mit dem Austrinken und Einschenken wohl, aber nicht mit dem Ausplaudern. Zum Kuckuck – Mitternacht! Ja, wo ist denn die Zeit hingekommen? Nur rasch die Fenster ein wenig aufgerissen, denn in der Stube liegt der Rauch zum Schneiden. Die Hunde schlafen schon und knurren im Traum, in welchem sie wohl mit gierigem Eifer dem schweißenden Hirsch auf der Fährte hängen. Und jetzt die Fenster zu, das Licht gelöscht und mit einem Satz auf den Kreister! Ah – wie thut das Strecken so wohl, und wie fühlt sich das Heu so weich! Kaum hat man die Decke über die Beine gezogen, da ist man schon „hinüber“.

Nun gilt’s, mit festem Schlaf die Kürze des Schlafes wett zu machen. Denn gegen die dritte Morgenstunde ist mein wackerer Jäger schon wieder in der Höhe. Ich zwinkere noch ein halbes Stündchen weiter, während der Jäger die Pfanne über das Feuer setzt. Mit einem Ruck aber bin ich auf den Beinen, sobald die Löffel klappern. Schwarzer Kaffee und dazu eine Pfanne voll Schmarren, das ist in den Bergen das richtige Jägerfrühstück; das pflastert den Magen und hält die Rippen fest, das giebt aus für geschlagene zwölf Stunden.

Und nun den Hut aufs Haar, die Büchse über die Schulter, den Bergstock in die Faust und hinaus in den dämmerigen Morgen, dessen klarer Himmel einen herrlichen Tag verheißt.

Fünf Stunden später kehren wir zurück von erfolgloser Birsche. Wohl stand mir ein guter Achterhirsch, dem schon die Bastfetzen von den Sprossen hingen, auf Schußbereich vor der Büchse – aber schief! Und solch einem Edlen die Kugel auf die weiße Scheibe setzen? Pfui, der Schinder! Ich habe Zeit, ich kann’s erwarten, bis mir ein Anderer das rothe Blatt zu gutem Schusse zeigt.

Nun wieder in die Hütte. Eine halbe Stunde Rast, dann beginnt die „höhere Kocherei“. Statt Schmarren oder Kaasnocken giebt’s zur willkommenen Abwechslung für den Jäger heute „Gaw’liersmenasch“ – Fleischsuppe und Fleisch. Im Stubenofen wird das Feuer angeschürt – und was für ein Feuer! Daß die Platte glüht und eine schweißtreibende Hitze die Stube füllt. Auf der Hütte hat das Holz keinen Sparer – und gegen die Hitze lassen sich Fenster und Thüren öffnen. Der scharfe Zug, der die Stube durchfährt, erfrischt nur bei dem schweren „Werke“, das man „ernst bereitet“ – er schadet nicht. Auf der Hütte schadet überhaupt nichts. Nun wird im eisernen Topf mit „Grünzeug“ und einer Hand voll Salz das Fleisch in einem Meer von Wasser zugesetzt. Und geräth das Wasser erst ins Brodeln – mit welchem Eifer wird die Suppe behütet und „abg’schaumt“, und welche Summe von Aufregung bringt die Sorge mit sich, daß nur ja das Fleisch nicht aus dem Sieden kommt!

Der Ofen wird mit frischen Scheiten angepackt – dann verschnauft man und hält eine Kunstpause von einer halben Stunde. Darnach geht’s an das Putzen und peinlich akkurate Schneiden der gelben Rüben, die in der Wasserpfanne nach einem etwas dunklen Recepte eingebrannt werden. Zum „Luxus“, wie der Jäger meint, werden in einem Blechhafen noch Kartoffeln zugesetzt, um später in der Schmarrenpfanne geröstet zu werden. Während auf dem glühenden Ofen ein unaufhörliches Dampfen, Brodeln und Zischen herrscht, wird am Tische das Brot zur Suppe in eine Schüssel geschnitten und ein Ei darüber geschlagen. Und nun denke man: das Brot in der Schüssel, die Kartoffeln im Hafen, die gelben Rüben in der Wasserpfanne, das Fleisch im Topf, und schließlich wieder die Kartoffeln in der Schmarrenpfanne – welch ein ursprüngliches Kochgenie gehört dazu, um das Alles zu übersehen, um in des Wortes wörtlichster Bedeutung nicht das Eine in das Andere zu bringen!

Endlich! Das Mahl ist fertig, und der Tisch ist gedeckt. Geradezu vorzüglich ist die Suppe gerathen. Der Jäger meint: „Ah – so a Süpperl, das is a Süpperl! Da kann sich fein kein’ Wirthshaussuppen dagegen sehen lassen!“

Freilich kratzt der allzu reichlich genommene Pfeffer ein wenig im Halse – aber „Pfeffer macht Kurasch“, und Kurasch kann man brauchen in den Bergen. Nun erst das Fleisch! Es sticht sich wie Butter! Da ist kaum ein Messer von Nöthen – es zerfällt schon unter der Gabel. Wunderbar goldbraun sehen die gerösteten Kartoffeln aus! Allerdings kostet es einige Mühe, sie von der Pfanne los zu bringen. Die gelben Rüben schauen sich freilich ein wenig dunkel und runzlig an, und von mancher ist nur noch ein verkrümpeltes Häutlein übrig – aber die „Soss’“, in der sie schwimmen, reißt alles heraus! Wie das schmeckt! Auf der Hütte schmeckt überhaupt alles – und doppelt gut das Mahl, das man selbst bereitet, bei dem also jede Kritik von vornherein ausgeschlossen ist. Nun ein Krug Bier darauf, und eine gute, leichte Cigarre. Der Jäger schmunzelt schon mit dem ganzen Gesichte, während ich das Ledertäschchen aus der Joppe ziehe – und dennoch sträubt er sich ein paar Sekunden lang, die gebotene Cigarre anzunehmen. Nun ein paar Rundgänge um die Hütte, in Hemdärmeln unter der warmen Sonne. Dann kommt für mich ein Stündchen Schlaf unter dem nächsten schattigen Baum, während am plätschernden Brunnen der Jäger sich diese ganze Stunde müht, um die Schmarrenpfanne von den Kartoffeln, die Wasserpfanne von den gelben Rüben rein zu bekommen. Gegen drei Uhr giebt’s Kaffee. Und gegen solchen Hüttenkaffee steht nun schon gar nichts auf. Schwarz wie die Nacht und wunderbar duftend rinnt er aus der Kanne, und mit dem dicken süßen Rahm gemischt, den der Jäger von der nächsten Sennhütte herbeigeholt, liegt er schwer wie Oel und goldig in der Tasse.

Um vier Uhr wird zur Abendbirsche aufgebrochen. Ueber lichte Rodungen und über weite, belebte Almenflächen wandern wir der Grenze des Jagdbezirkes zu, um die Birsche, wie es der Gang des Windes eben fordert, von da draußen gegen die Hütte her zu machen. Die erste Hälfte des Rückweges soll jenem schwarzkruckigen Schlaumeier gelten und gegen sieben Uhr will ich dann noch den Ansitz auf dem „neuen Schlag“ gewinnen. Kaum aber ist in der Nähe der Grenze die Birsche begonnen, da raschelt’s im Unterholz, und ein Rehbock mit prächtig ausgerecktem Sechsergeweih trollt über den grasigen Ziehweg, den Windfang suchend zur Erde gesenkt. Beim Knacken des Hahnes stutzt er und wirft den schönen Grind in die Höhe. Da kracht mein Schuß – mit einer hohen Flucht überfällt der Bock den Wegrain – stürzt – und liegt verendet zwischen den Stangen. Einen Jauchzer ins Thal – und dann einen grünen Bruch auf den Hut!

Der Jäger will mich zur Fortsetzung der Birsche bereden. Aber für heute soll’s genug sein – morgen ist auch ein Tag. Der Bock wird auf den Weg gezogen und aufgebrochen. Als wir ihm die Läufe verschränken, tönt’s hinter unserem Rücken:

„Gratulir’ – und grüß’ Gott bei ’nander!“

Es ist der Jagdgehilfe von der nächsten Hütte – beim Begehen der Grenze hat er meinen Schuß gehört und ist dem Halle [45] nachgegangen. Und weil er schon einmal da wäre, meint er, könnte er auch noch das „Katzensprüngl“ bis zu unserer Hütte mitmachen. Mein Jäger blinzelt mich an und stuppt mir den Ellbogen in die Seite. „Mir scheint, der hat ’s Bierfaßl im Wind!“

Gemächlichen Schrittes wird der Heimweg angetreten. Während wir das Almfeld überschreiten, begegnet uns die Nannei vom untersten Kaaser, unsere Rahmspenderin. Sonderlich hübsch ist sie nicht, aber lustig, jung und „g’sund“. Kaum sieht sie die Läufe des Rehbocks über die Schultern des Jägers ragen, da stemmt sie die Fäuste in die Hüften und „laßt ein’ aussi, aber schon a sakrischen Juchezer.“

Für diese Salutirung unseres Jägerglücks sucht sie sich auch gleich bezahlt zu machen – mit lustigen Worten verspricht sie ihr tüchtiges Mithalten bei der saueren Rehleber oder bei den Leberknödeln, die es ja wohl am Abend im Jaagerhäusl absetzen würde.

Jagdhütte im Hochgebirg.
Originalzeichnung von J. Schmitzberger.

Und richtig – kaum dämmert’s vor der Hütte, kaum brodelt auf dem gluthsprühenden Ofen die Leber in der Pfanne, da tritt die Nannei mit lachendem Gruß unter die Thür. Sie hat sich „schön“ gemacht – und die Sennerin vom Nachbarkaaser, die Resl, hat sie auch noch mitgebracht – es wäre nur wegen dem Heimgehen in der späten, dunklen Nacht, so sagt sie, und dabei schmunzelt sie so verdächtig.

Nun sitzen wir beim zweifelhaften Lichte einer Hängelampe eng gereiht um den kleinen Tisch und löffeln unter Lachen und Plaudern die saure Leber aus der Pfanne; dann wird der Tisch geräumt und der Bierkrug macht die Runde. Während ich meinen Platz verlasse, um die Cigarrentasche aus dem Rucksack zu holen, stecken die Viere wispernd hinter mir die Köpfe zusammen – und nun kommt’s heraus: ich soll meine Cither aus dem Kasten nehmen.

„Meinetwegen! Also her mit der Klampfern!“

Lautloses Schweigen herrscht schon, während ich die Cither stimme – und der Ausdruck einer naiv gefühlvollen Andacht malt sich auf den sonngebräunten Gesichtern, wenn ich dann von den halb schwerwüthigen, halb innig fröhlichen Volksliedern, die ich da und dort aufgeschnappt, so eines nach dem andern mit meinem bischen Können aus den Saiten bringe. Kaum aber geräth mir der „Neubayrische“ in die Finger, da fahren die Viere von den Bänken; der eine Jäger faßt die Nandl, der andere die Resl um die Mitte, und durch die enge Stube geht ein Schleifen, Drehen, Stampfen, Klatschen, Springen und Jauchzen, daß Tisch und Ofen wackeln, daß die ganze Hütte zittert. Unverdrossen spiel’ ich drauf los und schaue lachend auf die beiden wirbelnden Paare, von denen keines in den Ellbogen des anderen oder in den Ecken des Kreisters eine verdrießliche Härte zu verspüren scheint.

Da plötzlich trifft mein Auge im Zufall an der weißen Bretterwand auf einen kleinen dunklen Punkt – und mir vergeht das Lachen. Jener dunkle Punkt – er rührt vom Einschlagen einer Kugel her – und ehe die meuchlerische Kugel dort den Balken traf, ist sie mitten durch die Stirn des Jägers gegangen, der hier am Tisch, gerade meinem Platze gegenüber, unter der [46] brennenden Lampe sein Pfeiflein schmauchte. Den Jäger haben sie als einen ewig Stummen zu Thal getragen, die zerschmetterte Fensterscheibe haben sie durch ein neues, blinkendes Glas ersetzt – aber der kleine, dunkle Punkt dort an der Bretterwand ist geblieben.

Gar manch eine Hütte hat solch ein finsteres Mal an ihren Balken aufzuweisen.

Das ist die Tragik des Hüttenlebens. Aber ihr Verweilen in der Hütte ist so flüchtig wie die Dauer eines Kugelfluges – und dann verkriecht sie sich im Gebälk, dann schrumpft sie in solch einen kleinen, dunklen Punkt zusammen und überläßt die ganze, freie Stube wieder dem neu über die Schwelle schreitenden Humor und der lachenden Lebensfreude, die an der Gegenwart ihr volles Genüge findet, die an kein Gestern denkt und an kein Morgen.

Lustig schnurren unter meinen Fingern die Saiten der Cither, jauchzend drehen sich die beiden Paare, und durch die Stube geht ein Schnalzen, Klatschen, Stampfen und Springen, daß der Staub zur Decke wirbelt und der Boden dröhnt.

„Ja, g’rad a nobligs Leben is daheroben auf der Hütten!“ so urtheilte der graubärtige Förster, als ich damals an seiner Seite draußen auf der Holzbank saß – und er hörte doch auch schon einmal, dicht vor der Hüttenthür, eine Wildschützenkugel hart an seinem Ohr vorüber pfeifen.

[376]
3. Sommerhirsch

Ueber den weiten Bergen liegt noch der Winter mit seiner ganzen eisigen Starrheit. Im Thal aber ist seit Wochen kein „Neu“ mehr gefallen. Nun bringt der späte März den ersten Regen; dünn und langsam rieselt er nieder aus dem trägen hohen Gewölk; gegen den Schnee der Berge ist er machtlos, aber bei der berußten Winterdecke der Dächer und bei dem zerlegenen, von Pfaden und Geleisen durchrissenen Schnee der Thalgehänge weiß er sich schon ein wenig in Respekt zu setzen. Wie mit Nadeln bohrt er sich ein in die glatte, gefrorene Kruste, gleichsam als Vorkämpfer der Sonnenstrahlen, die in den folgenden lauen Tagen die von ihm gewaschenen Grübchen und Rinnen mehr und mehr vertiefen und erweitern, bis die Dächer erlöst sind von ihrer drückenden Last, bis durch die rund in den Schnee gesengten Gucklöcher die wintersmüde Erde Ausschau halten kann nach dem nahenden Frühling. Von Stunde zu Stunde erweitern sich nun die „aaberen“ Flecke auf den sonnseitigen Gehängen; ein unablässiges Triefen und Rieseln geht von aller Höhe zum Grunde, die Bäche und Bächlein schwellen und steigern ihr Rauschen und allmählich zieht sich der Schnee zurück bis in das Dunkel des steil ansteigenden Bergwaldes. Doch hier auch schütteln schon die Tannen, müde des langen Tragens und Duldens, die weiße Kappe von den schlanken, hohen Wipfeln, und in schweren Klumpen klatscht der Schnee von den niedergedrückten Aesten, die sich, so jählings von ihrem Drucke befreit, wie unter einem erleichternden Athemzuge hastig in die Höhe richten.

Mehr und mehr durchbricht das dunkle Grün des Tannenwaldes die weiße Hülle der Berge; von Zeit zu Zeit durchfahren laue Windstöße das Thal - die Sendboten des Föhns, des

[377]

Reichenbach und Wetterhorn.
Nach dem Oelgemälde von J. G. Steffan.

[378] nahenden Erlösers. Erst noch ein völlig windstiller Tag, unter dessen seltsam bedrückender, feuchter Schwüle der hochliegende Schnee, so weiß er ist, ein eigenartiges, schwärzlich graues Ansehen gewinnt – und dann, inmitten der folgenden Nacht, kommt’s einhergesaust, von Süden über die Berge, mit Heulen, Knirschen, Schüttern und Dröhnen, als wäre ein Dämon los, der die Welt im Schlafe knechten möchte – – und es ist doch der stürmische Held, der sie erlöst aus dem eisigen Kerker.

Wenn dann am anderen Morgen der Jagdgehilfe von seinem täglichen Wintergange, vom „Futterplatz“, wo er dem in kleinen Rudeln rings in der Nähe lungernden Hochwild das Heu hinter die Raufen warf, ins Dorf zurückkehrt, dann meldet er wohl dem Förster: „Frühjahr wird’s – der Zwölfer und die zwei guten Zehner sind schon dahin.“ Er will damit sagen, daß die drei besten Hirsche seines Bezirkes bereits vom Futterplatze ausgeblieben sind, um von nun an in Freiheit ihre Aesung zu suchen – und er spricht sie dabei nach den Geweihen an, die sie im vergangenen Jahr getragen; daß sie dieselben bereits vor Tagen abgeworfen haben, das kann den Jäger nicht irren, der seine Hirsche an den „Gesichtern“ kennt.

„Fegender“ Hirsch.

Tag um Tag vergeht, und ehe noch der Bergwald bis zur Almenhöhe schneefrei ist, hat auch das letzte, von des Winters Noth entkräftete Schmalthier den Futterplatz verlassen. Da kommt nun für das Wild eine schwere Zeit. Auf den vom Schnee noch kaum befreiten Blößen, wie an den Bäumen und Sträuchern, die erst schüchtern zu knospen beginnen, findet es nur spärliche Aesung. Und wenn es der Hunger zur Nachtzeit in die Thäler treibt, um die lockenden Wiesen und die mit Wintersaat bestellten Felder zu suchen, dann findet es hohe, stachlige Zäune, klappernde und flatternde Wildscheuchen, kläffende Hunde, donnernde Schreckschüsse aus Bauernflinten und nicht selten, trotz aller Wachsamkeit der Jäger, auch würgende Drahtschlingen und meuchlerische Legbüchsen. Rastlos, bei Tag und Nacht, durchzieht das Wild auf stundenweiten Wegen die steilen Gehege, gequält vom Hunger und gepeinigt von den „Engerlingen“, von den seine Haut und sein Fleisch durchwühlenden Larven der Hirschbremse. Erst mit den wärmeren Tagen, die dem Wilde kräftigere und reichlichere Aesung bringen, wird es diese Peiniger los. Nun aber erzeugt das Uebermaß der Nahrung, besonders die Nachwirkung des allzu plötzlich vollzogenen Ueberganges vom trockenen Heufutter zum dicksaftigen, immer nassen Grünfutter mancherlei Krankheiten – und wenn nun gar noch das Frühjahr trübe Mienen aufzieht, lange Regentage oder späten Schneefall bringt, dann fällt so manch ein Stücklein, das den tiefen Schnee und den starrenden Frost des Winters glücklich überwunden, der kalten Nässe des launischen Frühlings zum Opfer. Zu solcher Zeit durchkreuzt der Jäger in Sorgen sein Revier – und da stößt er oft häufiger, als er erwartet, im Zufall oder gelenkt von seinem windenden Hunde, auf einen im Dickicht verwesenden Kadaver oder auf eine Stelle, an welcher nur noch einige Haar- und Knochenreste von der Waldtragödie erzählen, die hier sich abgespielt.

Erst mit dem Eintritt des Mai, der den widerspänstigen Schnee zurücktreibt in das hohe, kahle Gestein und auf den Almen das frische Grün erweckt, beginnt die gute Zeit für das Hochwild. Da sieht der Jäger, wenn er an sonnigen Morgen von der Spielhahnfalz zurückkehrt, das Wild in Rudeln sorglos und fleißig äsend über das „Almbrett“[2] ziehen. Dann sitzt er oft durch lange Stunden hinter einem Felsblock oder vor einer der stillen, versperrten Sennhütten und mustert durch das scharf zeigende „Specktif“ der Reihe nach die einzelnen Stücke des Rudels. Manch’ eine altersschwache „Großmutter“, manch’ eines von den „Schmalstückln“ und von den nun bald jährigen Kälbern sieht freilich noch gar „schiech“ und „schier zum derbarmen“ aus. Aber mit jedem Tage bessert sich jetzt das Aussehen des Wildes, das schon anfängt, sich zu „verfärben“, das dicke, schwärzlich graue Winterkleid gegen das leichte braunrothe Sommergewand umzutauschen. Bald stehlen sich die trächtigen Mutterthiere vom Rudel ab, um in dunklem, stillem Dickicht einsam ein weiches Moosbett aufzusuchen – und wenn sie nach Wochen wieder zum Rudel stoßen, dann tummeln sich unter ihren sorgenden Blicken die erst wenige Tage alten, weißgefleckten zierlichen Kälber mit lustig spielenden Sprüngen über das Almengras.

Nun beginnt auch schon bei den geringeren Hirschen, die sich zum Rudel halten, die Bildung des neuen Geweihes. Die „guten“ Hirsche, die gleich nach dem Verlassen des Futterplatzes einsiedlerisch ihre alten Stände suchten, haben inzwischen schon wacker „geschoben“, so daß sich an den wulstigen, graubehaarten „Kolben“ bereits die untersten Enden, die „Augensprossen“ zeigen. Selten bekommt man während der Kolbenzeit solch einen alten Herrn zu Gesicht. Die Gräser und Kräutchen des Dickichts sowie die frischen, noch weichen und saftreichen Blätter der Gesträuche bieten ihnen vorerst genügende Aesung – und sie scheuen um diese Zeit jede andauernde und flüchtige Bewegung, da der weiche Kolben mit seinen zarten, von Blut zum Strotzen geschwellten Geweben gegen alle Berührung ungemein empfindlich ist. Erst gegen Mitte Juli, wenn die Verfärbung vollzogen und die Geweihbildung ihrer Vollendung nahe ist, beginnen die guten Hirsche allabendlich mit Einbruch der Dämmerung ihren regelmäßigen „Auszug“ auf die weiten, lichten Schläge zu halten, um durch die reiche, kräftige Aesung, die sie hier finden, tüchtig „Feist“ unter die „Decke“ zu bringen. Ein paar Wochen noch, dann sind die Enden ausgeschoben und stattlich prangt die zackige Krone. Aber je mehr das Geweih sich verhärtet und der dasselbe umkleidende „Bast“ ins Trocknen und Welken geräth, desto scheuer und vorsichtiger werden die Hirsche, desto mehr verspätet sich mit jedem Abend [379] ihr Auszug, desto früher ziehen sie bei grauendem Morgen wieder zu Holze – gleichsam als wüßten sie, daß die Vollendung ihres Hauptschmuckes den Beginn der ihnen drohenden Gefahr bezeichnet.

Wenn dann der Jäger am frühen Morgen von der Hütte aus sein Revier begeht, findet er nur noch die frischen, alle Wege kreuzenden Fährten. Lauschend und spähend zieht er weiter; da geräth es ihm wohl manchmal, daß er aus dem nahen Dickicht ein gedämpftes Rascheln und Klappern vernimmt, das er leicht zu deuten weiß; und einmal steht er plötzlich stille, ein vergnügliches Schmunzeln auf dem sonnengebräunten Gesichte – er steht vor dem ersten, frischen „B’schlachter“, vor einem niederen Fichten- oder Lärchenstämmchen, an welchem in der Nacht ein Hirsch „geschlagen“ – und dazu noch „a ganz a guter“ – das deuten die hochgebrochenen Zweige an, das verräth an dem Stämmchen die Höhe und Länge der Stelle, von welcher in Fetzen die zerfegte Rinde niederhängt, während Schweiß und Basthaare an dem kahlen Holze kleben.

Die Fegezeit ist im vollsten Gange – mit dieser Meldung steigt der Jäger ins Thal. Und nun beginnt die Jagd auf den Sommerhirsch, auf den richtigen Feisthirsch.

Diese Jagd wird selten mit Treibern geübt, da der Hirsch in der Feistzeit leicht „vergrämt“ ist und durch jede allzulaute Beunruhigung veranlaßt wird, seinen Standort zu verlassen und auf lange Wochen zu verschwinden – der Kuckuck weiß, wohin. Nur ausnahmsweise, wenn etwa der Jagdherr selbst oder ein hoher, mit besonderen Privilegien ausgestatteter Jagdgast im Bezirke weilt, werden kleinere, isolirt liegende Bestände „geriegelt“. Während der Jäger, zumeist allein oder in Begleitung nur weniger Treiber, mit schlechtem Winde, d. h. bei solchem Winde, der vom Jäger gegen den Stand des Wildes zieht, den „Bogen“ unter Vermeidung jedes lauteren Geräusches „angeht“, indem er langsam den ihm wohlbekannten Wildwegen folgt, die in der Jägersprache „Riegel“ oder „Wechsel“ heißen – während dessen hat der Schütze seinen Stand in der Nähe der Stelle, an welcher der unter bestem Winde liegende „Hauptwechsel“ aus der Dickung mündet. Da mag es dann wohl geschehen, daß der in der Dickung „bestätigte“ Hirsch, nachdem er vor dem nahenden Jäger munter geworden, ziemlich vertraut dem Schützen vor die Büchse trollt, um den tödlichen Schuß zu empfangen und nach kurzer Flucht verendet hinzustürzen in das vom quellenden Schweiße roth sich färbende Gras. Aber nur selten ist der Erfolg ein so günstiger wie bequemer. Gar häufig schlägt solch ein schlauer gewitzter Recke dem Schützen ein Schnippchen, indem er hart am Saume des Dickichts „umschlägt“ oder gleich von Anfang an den Jäger unbekümmert an sich vorüberläßt, um lautlos auf dem Rückwechsel auszukneifen. Oder es ist der Hirsch vor dem Jäger allzu „munter“ geworden; dann geht’s mit Brechen und Rauschen durch die Büsche, wie ein Husch über die schmale Lichtung – und während der Hirsch in rasender Flucht, das Geweih tief in den Nacken drückend, zwischen schützendem Gezweig verschwindet, bohrt die nachgeschickte Kugel ein schnell vernarbendes Loch ins Blaue. Ist aber die Kugel dennoch flüchtiger gewesen als die Flucht des Hirsches, dann trägt er zumeist einen schlechten Schuß davon, einen Waidwund- oder Schlegelschuß, und da setzt es nun eine langstündige, mühevolle Suche mit dem angeriemten Schweißhund oder eine den ganzen Bezirk beunruhigende Hetze, bis der Hirsch gefunden oder gestellt ist – wenn er überhaupt zur Strecke gebracht wird und nicht ungefunden in einem verlorenen Winkel des weiten Bergwalds verendet. Doch wenn auch der Erfolg ein günstiger ist, so mag bei solcher Jagd doch nie die rechte Waidmannsfreude sein.

Die waidgerechteste Jagdart zur Feistzeit ist jene, die den ruhigsten, sichersten Schuß ermöglicht: der Ansitz vor dem abendlichen Auszug, der Ansitz und die Birsche vor dem Einzug bei grauendem Morgen und die „Trapfbirsch’“ nach einem starken Gewitterregen, nach welchem sich alles Haarwild von den „trapfenden“ Büschen und Bäumen aus dem Dickicht auf die Schläge treiben läßt, um sich draußen „abzubeuteln“ und in der warmen, hell durch die Wolken brechenden Sonne das nasse Fell zu trocknen.

Der ruhigste, sicherste Schuß – das war vorerst nur vom Standpunkt des praktischen Jägers aus gesprochen. Aber auch der Naturfreund findet bei solcher Jagdart seine beste Rechnung. Ein solcher steckt ja schließlich in jedem richtigen Jäger, und so kommt es – man mag die Grammatik der Jägerei von Anfang bis zu Ende durchblättern – daß jedem edleren Wilde gegenüber jene Jagdart als die waidgerechteste gilt, welche mit der sichersten Erlegung den reichsten, mannigfaltigsten Genuß der Natur und ihres Thierlebens vereinigt.

Und welch ein Hochgenuß, so hinauszuziehen in Berg und Wald, wenn nach Sturm und Wetter sich der Himmel klärt, wenn in der Ferne dumpf die Donner verrollen, wenn der letzte Entscheidungskampf der Wolken um die Zinnen der Berge wogt, wenn ein kräftiger Erdgeruch vermischt mit süßem Blumenduft die Lüfte füllt, wenn die ganze Natur so recht von Herzen aufzuathmen scheint in Erquickung und Frische! Oder vor Anbruch des Tages die trauliche Hütte zu verlassen und hineinzuschreiten in die stille Dämmerung, wenn fern über den westlichen Bergen die letzten Sterne erlöschen, wenn im Osten das gebrochene Frühlicht der nahenden Sonne in farbigen Bändern emporschwimmt über den Himmel, wenn der Thau wie ein grauer, seidenartig schimmernder Schleier über allem Grunde liegt, wenn die steigende Helle in den zahllosen Tropfen, unter denen sich die schlanken Gräser tief zur Erde neigen, ein buntes Glühen und Blitzen weckt, wenn aus Bäumen und Büschen sich die ersten schüchternen Vogelstimmen hören lassen, und wenn der volle Tag erwacht in seiner ganzen leuchtenden Glorie! Und welchen Reichthum an stillen Reizen bietet erst am Abend das stundenlange Verweilen an einer Stelle, zu deren Häupten sich die wildzerrissenen Felsen über den Bergwald thürmen, während ihr zu Füßen das tiefe Thal gebettet liegt in sanfter Schönheit! Dieser Reichthum erschöpft sich nicht – er wird nicht ausgenossen, da er mit jedem Abend sich neu erzeugt in neuer Form. Jeder einzelne Abend hat seinen eigenen Reiz, jeder andere ein anderes Gesicht.

Da wäre es auch ein vergebenes Unterfangen, den wechselnden Reiz solcher Abende in ein typisches Gemälde fassen zu wollen. Ich muß an einen bestimmten Abend denken – etwa an den letzten, den ich droben in den Bergen verbrachte.

Ich weilte damals seit einer Woche auf der „Herrenroint-Hütte“, die auf einem weit in das Königsseeer Thal hinaus gebauten Vorberg des Watzmann gelegen ist. Abend für Abend hatte ich vergeblich des guten Hirsches gewartet, der über dem „Kaltenkeller-Schlag“ in einer steilen Dickung seinen Standort hatte. Nun war’s am 10. August. Während des Vormittags war ein Gewitter über die Berge hingegangen, ohne recht zum Ausbruch zu kommen. Aus den im Kreise treibenden Wolken rieselte den ganzen Tag hindurch ein dünner Regen nieder. Schon gab ich den Abend für verloren; doch unerwartet, gegen sechs Uhr, ließ der Regen nach, die Wolken klüfteten sich, und mit goldigen Strahlen spielte die sinkende Sonne über den Berghang. In rosigster Laune und in dem sicheren Erwarten, daß die Eigenart des Abends den Hirsch für heute zu zeitlicherem Auszug veranlassen würde, suchte ich gegen sieben Uhr auf dem nur wenige Minuten von der Hütte entfernten Schlage mein altes Plätzchen auf. Das lag auf dem Abhang eines kleinen, den weiten Schlag beherrschenden Hügels. Eine weiche Moosplatte diente mir zum Sitze, während ein schräger Felsblock eine bequeme Lehne bot. Hoch emporgeschossene Gräser, ein junges Fichtenböschlein und niedere, schwach belaubte Ahornstämmchen, die mir zu Füßen aus dem steinigen Grunde stiegen, gaben mir gute Deckung, ohne den Ausblick zu hemmen. Auch der Wind ließ nichts zu wünschen übrig – scharf zog er über die steile Dickung nieder. Mit sachten Bewegungen richtete ich mich in jägermäßigem Sinne häuslich ein. Ich zog das Fernrohr auf und lehnte es wider den Felsblock; den Bergstock schob ich senkrecht vor mir in die Steine, um ihn als Stütze des Fernrohrs gleich parat zu haben; das kleine Doppelglas, das in der Dämmerung, wenn dem Fernrohr das Licht schon ausgegangen, noch gute Dienste thut, steckte ich lose in die rechte Joppentasche und legte die Büchse in Bereitschaft über die Kniee. Dann kreuzte ich die Arme und schickte die Augen auf die Reise.

Tiefer Schatten lag schon über dem weiten Schlag und der steilen Dickung, über deren höchste Wipfel der schroffe Riesenzacken des Watzmann, noch sonnenbeschienen, majestätisch niederblickte. Graue, vielgestaltige Schattenbilder überhuschten seine Wände, wenn die leichten Nebel oder die schweren, von goldenen Tönen behauchten Wolken im Winde über seine Zinne trieben. In jagender Eile überflog das zerrissene Gewölk den mir zur Rechten in unsichtbarer Tiefe liegenden Königssee und mischte sich in die wogenden Nebelmassen, die alle Kuppen der jenseitigen Berge [380] noch verschleiert hielten. Aber mehr und mehr mit jeder Sekunde hob sich da drüben der Nebel, weiter und weiter wuchs am Himmel das Blau, und bald lag wolkenlos und in sonniger Pracht jene ganze herrliche Felsenkette vor meinen Augen gebreitet, von dem gezahnten Grat des hohen Göhls bis zu den plumpen Felskolossen der Fundensee-Tauern, hinter welchen in hoher Ferne die scharfen Spitzen der Teufelshörner aufwärts stachen über das blendend weiße Schneemeer der Uebergossenen Alm.

Nur ungern trennte sich mein Blick von dem leuchtenden Bilde, am zurückzukehren auf den schattendunklen Grund zu meinen Füßen. Und da bekam ich denn gleich eine Mahnung, daß es bereits an der Zeit wäre, die Augen bei der Sache zu halten. Kaum hundert Schritte unter mir war eine Rehgais mit ihrem Kitz auf den schmalen Wiesenfleck getreten, mit dem sich der Schlag zu meiner Linken in die Dickung spitzte. Fleißig äsend zog das Kitzlein über das Gras; die Gais aber stand mit erhobenem „Grind“ und hielt die großen dunklen „Lichter“ unverwandt auf mich gerichtet. Halb die Augen schließend, saß ich regungslos – und da schüttelte sie endlich die „Lauscher“ und begann zu äsen. Die Sache mochte ihr aber doch nicht ganz geheuer dünken, denn wieder warf sie windend den „Grind“ in die Höhe, um dann plötzlich mit kurzen Fluchten in das Dickicht zu verschwinden, wohin ihr das Kitzlein nach einigem Zögern in sichtlicher Verwunderung folgte.

Lächelnd athmete ich auf und ließ die Blicke nach allen Winkeln des weiten Schlages streifen, über dessen üppigen dunkelgrünen Kräuterwuchs in wirrem Wechsel die braunen Baumstöcke und Wurzelknorren, die moosigen Felsblöcke und die weißen Steine ragten. Weit drüben senkte sich der Schlag über einen lang gezogenen Rücken einem Dickicht zu, von dem ich nur die höchsten Wipfel gewahren konnte. Kleine Tannengebüsche hielten diesen Rücken besetzt, und zu oberst auf ihm erhob sich ein riesiger Felsblock, auf dessen Platte einzelne halbgewachsene, meist dürre Bäumchen schief durch einander hingen. In der Mulde, welche die Höhe da drüben von meinem Sitze trennte, rann mit Murmeln und Gurgeln ein unter Kräutern und Farren verstecktes Bächlein. Zu dem melancholischen Geplauder dieses Wassers gesellten sich die pispernden Stimmen der Meisen, die zwischen Büschen und Steinen so eilfertig hin- und wiederflatterten, als hätten sie allerlei wichtige Dinge noch schnell zu besorgen, bevor der Tag zu Ende ging. Aus dem höheren Dickicht ließ sich der weiche Schlag einer Bergamsel hören, während vom tieferen Gehänge herauf der krächzende Schrei eines Tannenhähers und ab und zu das hastige Pochen eines Spechtes klang. Weit über den See einher scholl manchmal, durch die Ferne gedämpft, das Brüllen der auf den Almen weidenden Rinder und das matt vernehmbare Läuten ihrer tieftönenden Glocken.

Einmal auch hörte ich fauchende Flügelschläge über mir, und als ich zur Höhe blickte, gewahrte ich einen der grossen Bergraben, der durch die gelbleuchtende Abendluft seinem Horst entgegen strich. Während ich dem Zug des Raben folgte, trafen meine Augen auf den steilen Lahnstreif, welcher hoch über mir das Dickicht aus einander theilte. Da meinte ich „Roth“ zu sehen. Langsam richtete ich das Fernrohr. Ein Gabelhirsch und zwei „Kälberstücke“ mit ihren Kälbern erschienen mir im Glase. Befriedigt legte ich das Fernrohr bei Seite – der frühe Auszug dieses Rudels weckte gute Hoffnung in mir.

Rasch warf ich noch einen Blick auf die Uhr – ein Viertel vor acht, der Beginn der „besten Zeit“; dann ließ ich meine Augen mit gesteigerter Emsigkeit über den Saum der Dickung auf- und niedergleiten Im scharfen Spähen mußte ich schon die Brauen furchen, denn die Schatten begannen sich bereits zu vertiefen, und allmählich dämpfte sich der grelle Schein des Himmels. Es wurde stiller und stiller um mich her, in der Ferne verstummte das Brüllen und Läuten der Rinder, die Vogelstimmen klangen sanfter und seltener, und bald vernahm ich nur noch das Murmeln des kleinen Baches. Aber auch dieses schien mit jeder Sekunde leiser und leiser zu werden – einmal noch, kurz vor Einbruch der eigentlichen Dämmerung, ließen sich mehrere Vogelstimmen zugleich vernehmen – dann plötzlich schien der Bergwald wie ausgestorben – und nun begann es in meinen Ohren allmählich anzuklingen , jenes seltsame, unbeschreibliche Geräusch, das jeder Waidmann kennen wird, der zur Sommerszeit auf dem abendlichen Ansitz auch noch auf andere Dinge merkt, als nur auf das Brechen des Wildes im Dickicht. Das ist wie ein Singen und Zirpen zahlloser Thierchen, wie ein Zwitschern von tausend Vöglein, wie ein Brummen und Summen von Hummeln und Bienen, aber unendlich leise, nur eben noch vernehmbar. Bald scheint es in der Luft zu liegen, bald wieder aus der Erde zu quellen - und man fragt sich, ob man es wirklich hört oder ob es nur eine akustische Täuschung ist, eine Folge des stundenlangen angestrengten Lauschens.

Wieder einmal, wie schon so häufig, legte ich mir im Stillen diese Frage vor, als mich ein fiepender Laut aus meinem Sinnen weckte. Tief aus dem Dickicht scholl das „Blatten“ einer Rehgais. Kaum hatte ich den Laut vernommen, da hörte ich vom Schlag herüber das Brechen dürrer Zweige – und als ich hastig die Augen wandte, sah ich ein Reh mit rasender Flucht im Dickicht verschwinden. Das mußte ein Rehbock gewesen sein, der in brünstigem Eifer den lockenden Liebeslauten folgte. Woher war er gekommen? Hatte er auf dem Schlage gestanden, ohne daß ich ihn bemerkt hatte?

Unter der ärgerlichen Befürchtung, daß mir der liebestolle Bursche durch seinen lauten Eifer den Hirsch vergrämt haben könnte, der, wenn er überhaupt ans Kommen dachte, schon im Auszug begriffen war – unter solcher Befürchtung blickte ich unwillkürlich nach den tieferen Gehängen des Schlages, von denen der Störenfried gekommen sein mußte. Doch unerwartet zog ein wundervolles Schauspiel meine Augen über das Seethal nach den fernen Bergen. Dort waren die grauen Schatten schon emporgestiegen über Wald und Almen bis zu den kahlen Felsen; doch über diesen Schatten glühten alle Wände und Schroffen in dunkelrothem Feuer, und gleich den erstarrten Flammen einer riesigen Lohe hoben sich die Zacken und Spitzen von dem tiefblauen Himmel ab, über welchen die nahende Nacht schon ihre ersten Schleier spann.

Selten hatte ich dieses Schauspiel in solcher Schönheit genossen, und unverwandt hingen meine Augen an dem herrlichen Bilde, bis plötzlich der Jäger wieder in mir rege wurde, so daß ich fast erschrocken die vergessene Nähe suchte. Doch bei dem raschen Wechsel zwischen Licht und Schatten erschien mir alles schwarz vor den Blicken. Um die Augen zu beruhigen, schloß ich für einige Sekunden die Lider – und als ich sie wieder öffnete, schoß mir jählings das Blut zum Herzen. Mitten auf dem Schlage stand der sehnsüchtig Erwartete. Ich hatte sein Kommen überhört, seinen Auszug übersehen. In stolzer Schönheit stand er da drüben und warf wie spielend mit dem „Aeser“ ein großes Blatt in die Höhe. Trotz der Dämmerung gewahrte ich deutlich das schwankende Geweih und meinte sogar, die weißen Spitzen der dreizackigen Krone zu erkennen. Ein Zittern befiel meine Hände, während ich das Doppelglas an die Augen hob, um meiner Sache noch sicherer zu werden. Das Unerwartete des Anblicks hatte mich um all meine Jägerruhe gebracht. In Unruh und Sorge begann ich die Entfernung zu schätzen. Zweihundert Schritte – wenn nicht mehr! Zu weit – nicht für die Kugel – aber zu weit für einen guten, sicheren Schuß! Mich überkam eine fiebernde Spannung. Wird er näher ziehen – und näher ziehen in den wenigen Minuten, während welcher noch Schußlicht herrscht? Oder wird er aufwärts ziehen gegen den Rücken des Schlages? Da schwellt mir ein erleichternder Seufzer die Brust – ich sehe den Hirsch mit vertrauten Schritten thalwärts trollen – er kommt mir näher – immer näher, wenn auch langsam – und nun verhält er sich äsend vor einem Tannenbusch, und da steht er mir auf etwa hundertvierzig Schritte. Tiefer und tiefer sinkt die Dämmerung, schon verschwindet mir das Geweih – aber noch immer warte ich. Nur zwanzig Schritte noch, denke ich, dann –

Doch während ich so denke, seh’ ich, daß der Hirsch den „Grind“ erhebt, wie überlegend aufwärts windet gegen den Rücken – und richtig – während ich mir diese Bewegung noch zu deuten suche, zieht er bereits äsend der Höhe zu. Nun ist’s aber höchste Zeit! Ein kalter Schauer rinnt mir über die Schultern – kaum aber halt’ ich die Büchse an der Wange, da hab’ ich meine gewohnte Ruhe wieder gefunden, und fest wie Schrauben schließen sich meine Hände um Schaft und Rohr. Ein paar Sekunden brauche ich, um vor einem weiß durch die Dämmerung leuchtenden Steine die richtige Stellung des Visiers zu fassen – dann fahr’ ich langsam auf – nun sitz’ ich mitten drin im [381] rothen „Blatt“ des Hirsches, welcher „wannenbreit“ vor der Büchse steht – und da bricht mir der Schuß.

Dumpfhallend rollte das Echo über den Bergwald, während ich durch den verwehenden Pulverdampf den Hirsch mit langen, prächtig anzuschauenden Fluchten die Höhe gewinnen sah. Dort oben hielt er plötzlich inne, drehte den Grind nach allen Seiten und verschwand dann langsam hinter dem Rücken. Was war das nun für ein „Zeichen“? Es konnte das beste sein – aber auch das schlimmste. Entweder saß ihm die Kugel in der „Kammer“ – oder er war „wurzweg“ gefehlt. Das letztere konnte ich nicht glauben – der Schuß hätte mir bester und ruhiger nicht brechen können. Das sagte ich mir ein um das andere Mal vor, und dennoch stieg mir die Erregung heiß unter die Haare, während ich mein Zeug von der Erde raffte. Ein paar Minuten – und ich hatte mich durch all den Storren- und Kräuterwust bis zum Schußplatz durchgekämpft.

Aufs Blatt getroffen.

Der tiefe „Fluchtriß“ in dem moosigen Grunde bezeichnete die Stelle. Nach Schnitthaaren zu suchen, wäre bei der herrschenden Dämmerung vergebliche Mühe gewesen. Doch wenige Schritte nur brauchte ich der Fährte zu folgen, da fand ich schon den ersten Schweiß. Wie auf dem Präsentirteller bot er sich meinen suchenden Blicken – in großen Flocken lag er auf einer weißen Felsplatte. Ich bückte mich und fand ihn durchsetzt mit schaumigen Bläschen. Ein Lungenschuß also – ein Schuß, mit dem der Hirsch gewiß keine hundert Gänge weit gekommen war. In hastigem Eifer überstieg ich den Rücken – und da flog mein Hut in die Höhe, während mein lachender Mund einen jauchzenden Juhschrei in die dämmerigen Lüfte schickte. Kaum zwanzig Schritte vor meinen Füßen lag der kapitale Herr verendet im dunklen Kraut. Und welch ein Geweih! Die Zehnerstangen weit gespannt, von lichtem Braun und übersäet mit dicken Perlen.

Während ich vor dem Hirsche knieete, um die „Granen“ aus seinem Aeser zu schneiden, kam der Jagdgehilfe, den mein Schuß aus der Hütte gerufen – und an mein Waidwerk schloß sich nun das Handwerk des Jägers. Bis der Hirsch aufgebrochen, ins nahe Dickicht geschleift und mit Fichtenzweigen überdeckt worden war, hatte sich die Dämmerung zur Nacht gewandelt. Und während wir plaudernd heimwärts schritten zur Hütte, blitzten vom schwarzen Himmel nieder schon die Sterne in zahlloser Schar.

Als ich mich dann nach lustigen Stunden, in denen der steinerne Krug gar häufig den Weg zwischen Tisch und Faß gemacht, zur Ruhe streckte, vergaß ich ganz, das zerlegene Heu wie sonst frisch aufzuschütten. Und dennoch hab’ ich selten so gut geschlafen wie in dieser Nacht.



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Zur Zeit der Hirschbrunft im Hochgebirge.
Nach dem Gemälde von A. Thiele.
Photographie im Verlag von V. Angerer in Wien.

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4. Hirschbrunft.

Er war kein Jäger, mein Freund, aber was ich ihm so ab und zu von all dem schönen Leben zwischen Wald und Felsen erzählte, machte ihn lüstern, und da war es einer seiner Lieblingswünsche, einmal einen Hirsch im Bergwald .„schreien“ zu hören. Nun traf es sich gut, daß er mich gerade während der ersten Oktoberwoche in meinem stillen Bergsitz besuchte. Seit acht Tagen schon war droben die Brunft in Gang, und die Hirsche schrieen allnächtlich mit orgelnden Stimmen. Es war einer der klaren, lauen, leuchtenden, von bläulichem Dunst erfüllten Oktobertage, wie sie der Herbst nur in den Bergen spendet. Einige Stunden nach Mittag schickten wir uns zum Aufstieg an; den Träger mit Zeug und Proviant hatten wir bereits am Morgen vorausgeschickt zur Hütte, damit wir uns bei ungestörtem Plaudern und Schauen des herrlichen Weges freuen konnten. Auf schmalem Pfade ging es empor durch steilen Laubwald, welcher vielfach mit Tannen und Lärchen untermischt und an manchen Stellen von schroffen, moosbehangenen Felswänden durchrissen war. Auf halbem Wege, unter einer mächtigen Buche streckten wir uns zu kurzer Ruhe in das raschelnde Laub, welches handhoch schon die Erde deckte.

Unter uns in dem von duftübersponnenen Bergen umschlossenen Thal lag schon der Schatten; hier oben aber schien noch die Nachtmittagssonne warm und golden durch das Laubwerk, in welchem der sachte Wind sein Flüstern und Wispern trieb. Zu keiner Zeit – vielleicht nur eine mondhelle Winternacht ausgenommen – ist der Bergwald so zaubervoll schön wie im Herbste. Da giebt es in der Welt keine Farbe, die er nicht zeigt, sei es an seinen hundertfältigen Moosen und Flechten oder an seinen hundertfarbigen Steinen, sei es an seinen welkenden Blumen oder an seinen gereiften und reifenden Beeren, sei es an den knorrigen Rinden und immergrünen Nadeln seiner Fichten und Föhren, oder sei es an den weiß und grau erglänzenden Stämmen seiner Buchen und Ahorne, deren Blätterfarbe von dem lang bewahrten Grün hinüberspielt in brennendes Gelb und in das tiefste Roth. Und mit der einzigen Farbe, die dem Bergwald mangelt, mit dem lichten lachenden Blau, überdacht der klare, wolkenreine Himmel das zahllose Volk seiner Bäume und Steine. Freilich ist das eine Herrlichkeit, die auf zitternden Füßen steht. Eine einzige Nacht – und dichte Wolken wallen um alle Gipfel und greifen mit ihren gaukelnden Nebelarmen nieder über Wald und Wände, schwere Regenschauer verfinstern die Luft und zeugen rauschende Wasserstürze in jeder Schlucht und Rinne, mit gigantischer Wildheit braust der kalte Herbststurm über die Berge, in gelben Wolken wirbeln die welken Blätter durch die Lüfte, von den Dächern der verlassenen Sennhütten fliegen die grauen Schindeln, mit Krachen stürzen die Tannen, und durch den weiten Bergwald geht ein dumpfes Stöhnen, als seufze die sterbende Natur durch die ächzende Stimme ihrer Bäume …

Wir aber saßen ja noch in goldigem Sonnenschein und lugten mit nimmersatten Augen in die noch währende Pracht.

„Wie schön, wie wunderschön!“ staunte mein Freund und dehnte sich behaglich in der lauen Sonne.

„Ja, warte nur, morgen um Tagesgrauen wirst Du zittern und schnattern vor Kälte und wirst vielleicht sagen: pfui, wie ungemüthlich! Wir steigen nicht nur der Höhe, wir steigen auch dem Winter entgegen.“

Als der vom Thal emporschleichende Schatten uns überholen wollte, machten wir uns wieder auf die Füße. Kaum waren wir eine Strecke weit gegangen, da hob mein Freund mit Lauschen den Kopf – er hatte ein durch die Ferne gedämpftes, langgezogenes Brüllen vernommen.

„War das ein Hirsch?“

„Ein Hirsch?“ lachte ich. „Wenn Du nichts dagegen hast, so war das eine Kuh, die irgendwo auf dem jenseitigen Berghang weidet – und wenn Du die Ohren ein wenig spitzen willst, so kannst Du auch ganz leise noch ihre Glocke hören.“

Er stellte sich etwas beschämt, wollte aber nun wissen, wie denn der Schrei eines Hirsches eigentlich klänge. Ich schaute zur Seite, damit mein Schmunzeln mich nicht verriethe, ahmte das Meckern eines an Heiserkeit leidenden Ziegenbockes nach und erklärte, so ähnlich, nur ein ganz klein bißchen anders wäre der Schrei eines Brunfthirsches wohl anzuhören.

„Merkwürdig,“ meinte er. „Und da scheint mir, daß Hieronymus Lorm auch niemals einen Hirsch hat schreien hören, sonst hätte er dieses nicht sehr poetische Gekrächze schwerlich zum Vergleich für seine lechzende Sehnsucht genommen:

‚Ich rufe wie die Wachtel im Getreid,
Ich schreie, wie der Hirsch nach Wasser schreit.‘“

„Da magst Du wohl recht haben. Uebrigens, der Vergleich hinkt auch noch auf einem anderen Fuße. Die Hirsche schreien nicht nach Wasser. Es läßt der Hirsch seine Stimme alljährlich nur durch einige Tage hören, nur in der Brunftzeit, wenn ihm ‚das Herz in Liebe schlägt‘. Nach Wasser braucht er nicht zu 'schreien, denn wenn er auch weder Teich noch Quelle findet, er löscht ja seinen Durst beim Aesen des thaunassen Grases.“

So plauderten wir im Steigen weiter, wobei uns allmählich die Dämmerung des kühlen Abends überfiel. Nahe der Jagdhütte hatten wir die Höhe einer sanft abfallenden Lichtung zu passiren. Ein geringer Sechserhirsch, der aus dem Dickicht getreten sein mußte, an welchem wir vorüber sollten, zog vertraut über den mit dürren Storren und welkendem Kräuterwerk bedeckten Schlag dem tieferen Grunde zu. Um den harmlosen Schneider nicht zu vergrämen, drückten wir uns am Saum der Dickung hinter ein Fichtenböschlein. Da plötzlich tönte kaum zwanzig Schritte lauter uns der tiefe, rauhe, weithin hallende Brunftschrei eines starken Hirsches. Mir schlug das Herz; aber trotz aller Jagdlust, die mich packte, schielte ich nach dem Gesichte meines Freundes, der erblaßt und erschrocken aufgesprungen war, als hätte er dicht hinter seinem Nacken das Brüllen eines hungrigen Bären vernommen. Doch war auch ein anderer noch erschrocken: der Schneider auf der Lichtung drunten; der mochte wohl mit dem bösen Herrn im Dickicht schon unbehagliche Bekanntschaft gemacht haben, denn in scheuer Flucht, daß unter ihm die dürren Aeste krachten, segelte er dem dunkeln Walde zu. Der andere im Dickicht schien das Brechen der Aeste richtig zu deuten; es rauschten hinter uns die Büsche, und da stand er nun, kaum einige Bergstocklängen vor uns, frei auf dem Steige – an prachtvoller Anblick. Fast schwarz erschien im bereits vollendeten Winterkleide der mächtige Körper mit dem dicken, zottig behaarten Brunfthals. Weiße Schaumflocken am Aeser, den Grind (Kopf) mit den vor Leidenschaft funkelnden Lichtern windend vorgestreckt, das Geweih, dessen gefegte Enden trotz der Dämmerung gleich weißem Silber blinkten, gegen den Nacken drückend, so stand er vor uns in seinem Stolze, in seiner Kraft und Wildheit. Allerdings genossen wir diesen Anblick nur wenige Sekunden; auf eine [660] unvorsichtige Bewegung meines Begleiters stutzte der Hirsch, und da schlug er auch schon um wie der Wind und verschwand im schützenden Dickicht, ohne daß es mir gelang, einen Schuß anzubringen.

Mit großen Augen schaute mein Freund mich an und meinte mit kleinlauter, schwankender Stimme: „Du, mir scheint, Du hast mich aufsitzen lassen – mit Deinem Gemecker!“

„Ja, scheint mir auch,“ brummte ich ärgerlich, „aber derjenige, der am meisten dabei aufgesessen ist, bin ich. Hätt’ ich Dich richtig vorbereitet, so wärst Du ruhig an meiner Seite geblieben, wärst nicht erschrocken aufgesprungen und hättest Dich nicht als wackelnde Kugelwehr mitten zwischen den Hirsch und meine Büchse gestellt. So geht’s mit der Bosheit – ich habe den Schaden davon und Du den Schrecken.“

„Schrecken? Das heißt …“

„Laß nur gut sein, Du brauchst Dich nicht zu schämen, denn vor dem ,Hirschfieber‘ ist der älteste Jäger nicht sicher.“

„In der That, so ein schwarzer Bursche hat etwas an sich, was einem das Herz klopfen macht. Wenn den die Lust angewandelt hätte, mit seinem Geweih ein klein wenig nach uns zu stochern …“

„So gefährlich ist die Sache nun doch nicht. Die Berghirsche sind scheu, auch in der Brunftzeit, und ich wüßte mich keines Falles zu erinnern, daß ein gesunder Berghirsch, wie es von brunftigen Parkhirschen häufig erzählt wird, einen Menschen ‚angenommen‘ hätte. Etwas anderes ist es mit einem angeschossenen oder mit einem bei der Treibjagd in die Enge getriebenen Hirsche. Von solch einem verzweifelten oder vor Schmerz rasenden Thiere ist manch ein Treiber und Jäger schon übel zugerichtet oder gar zu Tod ,geforkelt‘ worden.“

„Und das soll an Vergnügen sein? Ich danke für solche Jagd.“

Ich lachte. „Spür es nur einmal selbst, wie Dir in unnennbarer Freude das Herz schlägt, wenn der geweihte Recke im Feuer stürzt und wenn Du mitten im Zauber der Natur als Herr und Meister stehst – dann wirst Du anders reden!“

Wir hatten die Jagdhütte erreicht und streckten uns nach einem bescheidenen Abendbrot und einer behaglich verplauderten Stunde aufs duftende Heu zur Ruhe – allerdings zu einer recht zweifelhaften Ruhe. Meinen Freund ließ das ungewohnte Lager und die herbstliche Kälte der Nacht nicht schlafen; mich aber hielten die Hirsche wach, die es toll trieben die ganze Nacht und bald das träge „Grohnen“ und „Trenzen“, bald den vollen, gedehnten Orgelton, bald wieder den kurzen, rauh tönenden Kampfschrei vernehmen ließen. Immer wieder erhob ich mich, lauschte und spähte hinaus in das Dunkel, und wenn ich einen Hirsch ganz in der Nähe der Hütte schreien hörte oder im matten Sternenschein einen Schatten huschen sah, dachte ich mit stillem Neide jener Glückspilze, die schon manch einen schreienden Hirsch bei hellem Mondschein von Hüttenfenster aus geschossen. Daneben quälte mich die Sorge, daß sich die Hirsche, da sie fast die ganze Nacht hindurch munter waren, am Morgen desto schlechter „melden“ würden.

Diese Ahnung bestätigte sich leider; als wir um die fünfte Morgenstunde aus der Hütte traten, war weit und breit nicht der leiseste Grohner zu vernehmen. Verwundert schüttelte der Jäger den Kopf: „Was sagst jetzt da dazu. Heut’ Nacht wie narrisch – und jetzt net an einzigen Röhren! Wann die Teufeln mit ei’m solchenen Morgen nimmer z’frieden sind, nachher weiß ich bald nimmer was!“

Das war auch wirklich ein Brunftmorgen, wie ihn die Hirsche (und auch die Jäger) sich schöner nicht hätten wünschen können. Kein Wölklein am Himmel, an welchem die Sterne noch glänzten mit falbem Schein, indessen die östliche Ferne sich schon zu lichten begann; auf Gras und Büschen der weiße Reif; eine Kälte, daß der Athem gerann, und dazu ein Wind, welcher schnurgerad’ von den mattschimmernden Felswänden niederzog über den Wald. Und dennoch kein Laut in der weiten Runde. So alt und erfahren die Jägerei auch ist, so hat sie aber manche Dinge doch nur ein Fragezeichen zu machen.

Zahllose Hypothesen sind schon über die fraglichen Ursachen aufgestellt worden, welche eine mehr oder minder lebhafte Brunft veranlassen; aber jede dieser Hypothesen paßt nur immer für gewisse Verhältnisse, keine klappt für alle Fälle. Natürlich ist es, daß die Brunft um so lebhafter sein wird, je größer der Stand an Hirschen ist; da giebt ihnen schon die Eifersucht eine fleißige Kehle. Auch trifft es allgemein zu, daß die Brunft sich besonders lustig und energisch in jenen Gegenden gestaltet, in denen die Hirsche die stärkeren Geweihe tragen, in denen ein milder Winter und ein schönes Frühjahr mit reichlicher Aesung eine kräftige Entwicklung des Wildes begünstigte. Weshalb aber bei gleichem Wildstand und gleichen klimatischen Voraussetzungen der eine Herbst eine frische Brunft, der andere eine träge bringt, weshalb die Hirsche oft durch mehrere Tage unermüdlich orgeln, um dann jählings zu verstummen, weshalb sie das einemal lieber bei Nacht, das anderemal lieber am hellen Tage, das einemal lieber bei lauer Witterung, das anderemal lieber bei scharfem Frost und frühem Schneefall schreien, darüber sind die Gelehrten unter den Jägern noch immer nicht einig. Die Liebe bleibt eben unter allen Umständen eine eigene Sache, und auch das Herz der Thiere ist ein kapriziöses Ding.

Das alles plauderte ich mit leisen Worten meinem Freunde vor, während wir achtsamen Schrittes dem thalwärts führenden Steige folgten. Gleich vor der Jagdhütte hatte der Jäger sich von uns getrennt, um bergwärts zu steigen und den Einzug des Wildbrets auf einer großen, steilen Almlichtung zu beobachten, mich aber reizte der Versuch, ob es mir nicht gelingen möchte, noch einmal mit jenem schwarzen Herrn aus dem Dickicht aneinander zu gerathen. In weitem Bogen umgingen wir den Schlag, und ungefähr an jener Stelle, an welcher das Sechserhirschlein im tieferen Gehölze verschwunden war, kamen wir aus dem Walde. Ueber dem Schlage lag das schwache Grauen des nahenden Morgens, und schon auf den ersten Blick gewahrte ich inmitten der Rodung den Hirsch, freilich nur als schwarzen Schatten mit trüben Umrissen. Er hatte drei Stück Wildbret bei sich, die er langsam umkreiste und immer mehr gegen die Dickung emportrieb. Er schien die Gefahr zu ahnen, die ihm mit dem steigenden Lichte drohte, und suchte vor Einbruch desselben seinen kleinen Harem und sich selbst in Sicherheit zu bringen. Ich schaute mir fast die Augen aus dem Kopfe, aber bei der herrschenden Dämmerung war es unmöglich, richtig und sicher zu visiren – ich mußte zu meinem Aerger den Hirsch ziehen lassen ohne Schuß.

Zwischen moosigen Steinblöcken richteten wir uns häuslich ein. Das Verschwinden des Hirsches nahm mir noch immer nicht alle Hoffnung. Trotz ihres zottigen Winterkleides spüren auch die Hirsche die Kälte der Nacht, und da ziehen sie nicht ungerne ein zweites Mal aus, wenn die warme Morgensonne den Reif von den Kräutern schmilzt. Es konnte ja auch sonst der Zufall einen „suchenden“ Hirsch des Weges führen. Auch der König der Bergwälder folgt nach Schillerschem Rezepte „ihren Spuren“, wenn auch nicht „erröthend“. Von Beginn der Brunftzeit ist das

„Ein ewiges Suchen und Wandern …“

bei allen schwächeren Hirschen, besonders bei jenen, die der tyrannische „Platzhirsch“ vom Rudel abgekämpft hat. Dieses Wandern der Hirsche beginnt in den Bergen gegen Ende September. „Um Aegidi“ (1. Sept.), sagt wohl ein alter Jägerspruch, „tritt der edle Hirsch in die Brunft“, und die sittsam erzogenen Parkhirsche mögen auch halbwegs diesem Spruche folgen; der freie Berghirsch hört aber nun einmal mehr auf die Stimme der Natur als auf die Mahnung des alten Jägerkalenders. Dann aber sind sie unermüdlich, die verliebten Herren, dann wandern sie bergaus und bergein, am gleichen Tag oft zwei und drei aneinander stoßende Reviere kreuzend, bis sie finden, „was ihr Herz begehrt.“

Geduldig saßen wir, es kam der Morgen mit seinem fahlen Himmel und seinen aus dem schmelzenden Reif erdampfenden Nebeln, welche sich langsam aufwärts kräuselten in die Luft und wieder in nichts zerrannen. Es stieg das leuchtende Gestirn empor über die Berge und goß sein lautres Gold über Wald und Rodung. Die wenigen Vögel, welche mit dem Herbste in dieser Höhe noch ausgeharrt hatten, wurden munter, flatterten pfeifend über die kalten Steine und sträubten das Gefieder. Ich hatte fleißig zu thun mit Augen und Ohren, und der Jagdeifer hielt mich warm, mein Freund aber, der meiner Prophezeiung gemäß die Sache längst schon „ungemüthlich“ fand, klapperte in dem frostigen Schatten, darin wir saßen, zu seiner einzigen Unterhaltung leise mit den Zähnen. Stunde um Stunde verrann, keiner der ersehnten Wanderer ließ sich blicken, und auch der „schwarze Bursche“ erschien nicht wieder, der hatte sich irgendwo im Dickicht [662] zur Ruhe gethan und ließ nur ab und zu an schläfriges Trenzen hören, bis er endlich ganz verstummte. Gegen elf Uhr – sechs Stunden hatten wir ausgehalten – erlöste ich meinen Freund aus seinem Klappern und Frösteln, um ihn der geheizten Jagdstube und der warmen Suppe zuzuführen. Bei der Ankunft in der Jagdhütte erhielt ich für meine schöne Geduldsprobe einen bitteren Lohn, denn der Jäger empfing mich mit den Worten: „Aber na, g’rad heut’ müssen S’ da ’nunter tappen! Bei mir wann S’ gewesen wären, Sie, da hätten S’ an Prügelhirsch derschossen! Am hellen Morgen is er noch draußen g’standen mitten auf der Almlichten – und a Zwölferg’weih hat er droben g’habt – a Staat und a Pracht! Aber warten S’ nur, der rumpelt uns schon an heut’ abends!“

So sehr ich mich nun über meinen Eigensinn ärgerte, so gaben mir die Worte des Jägers doch wieder gute Hoffnung für die Abendbirsche.

Um drei Uhr machten wir uns auf den Weg, da wir gut anderthalb Stunden zu steigen hatten, um die entlegene Alm zu erreichen. Die hohen, von gelbem Sonnenlicht umflammten Felsenhäupter warfen bereits ihre Schatten über den Bergwald und es frischte schon in der Luft, so daß ein kalter Wind zu erwarten stand. Auf einem kleinen Wiesenflecke stand ein Schmalreh sorglos und vertraut, wie wenn es wüßte, daß es von uns keine Gefahr zu fürchten hatte. Durch das braune Heidelbeerfeld, an welchem wir vorüberkamen, glitt unsichtbar eine Auerhenne mit näselndem „gnäk, gnäk“, und hoch über den Almen, auf einem leicht beschneiten Grate, rodelte und grupelte ein Spielhahn so lustig, als wäre Mai und Falzzeit in den Bergen.

Und jetzt – dieser Ton, der für einen Augenblick die Hände zittern und das Blut in den Adern sieden machte! Das war der Hirsch. Wir hörten ihn schon und waren noch über eine halbe Stunde von der Alm entfernt. Der Kerl hatte eine „Lauten“ (Stimme), so dumpf und grollend, als käme sie aus einem Kanonenrohr. Vom linksseitigen Berghang antwortete ihm ein zweiter Hirsch mit schwächerer Stimme, der aber schon nach wenigen Schreien wieder verstummte. Nach einem beschleunigten Marsche, während dessen das Kanonenrohr dort oben immer fleißig weiterbrummte, erreichten wir den unteren Saum der großen Almlichtung. Mitten in dem steilen Grasgehänge stand auf einem kleinen vorspringenden Plateau die schon seit Wochen verlassene Sennhütte, welche uns einen guten Stand geboten hätte, da von ihr aus so ziemlich das ganze „Almbrett“ zu beschießen war. Doch war es nicht mehr räthlich, über den ungedeckten Hang zur Hütte emporzusteigen, da der Hirsch in dem schütteren Lärchenwalde schrie, der die Höhe des Almfeldes begrenzte. Auch war der Wind noch nicht besonders gut; er zog wohl schon im Schatten abwärts, schlug aber doch manchmal noch in rechts und links ausweichenden Halbwind um. So setzten wir uns, um nur so nichts zu verderben, am unteren Waldsaum einer breitästigen Tanne zu Füßen und deckten uns mit vorgesteckten Zweigen.

Der tiefe Baß, der über uns so fleißig übte, hatte auch meinen Freund in Aufregung gebracht, und nach seiner Meinung hätte ich stracks die Büchse spannen und kerzengerade dem orgelnden Herrn entgegenstehen müssen. Er wollte gar nicht glauben, daß der Hirsch so unliebenswürdig wäre, nicht so lange Stand zu halten, bis ich ihm aus aller Nähe die Kugel aufs Blatt gebrannt. Es mag wohl häufig und ohne besondere Mühe gelingen, einen schreienden Hirsch, der des Morgens einsam zu Holze zieht, bei gutem Winde auf Schußweite anzubirschen. Hat aber der Hirsch nur ein paar Stücklein Wildbret in seinem Gefolge, so ist er sicher vor dem Nahen des Jägers. Die braunen Damen sind zu aller Zeit gar fleißig mit „Aeugen“ und „Winden“, besonders aber während der Brunft, da steigert sich ihre Wachsamkeit auf das doppelte Maß und sie scheinen genau zu wissen, daß nun in ihrer Hut das Heil und Leben ihres Herrn und Gatten steht, den die Leidenschaft der Liebe und Eifersucht trunken und sorglos macht, blind und taub für alle Gefahr. Sie haben schon recht, wenn sie in den Bergen singen:

„Bei die Buben, bei die Deandeln,
Bei die Thierlein im Wald –
die Lieb’, die hat allweil
Den nämlichen G’walt.“

Eine Stunde verfloß; die Strahlenkronen, welche die sinkende Sonne um die Gipfel der Berge spann, erloschen allmählich, ein grauer, kalter Schatten deckte alles Gehänge, immer schärfer und frostiger wurde der Wind, und aus den feuchten Schluchten stiegen dünne Nebel, die sich in langen Streifen schlangenartig durch die Wipfel der Bäume wanden. Ueberall herrschte lautlose Stille, welche nur manchmal durch den unbehaglich grellen Ruf des Baumläufers unterbrochen wurde.

Gegen sechs Uhr hatte der Hirsch sein Schreien eingestellt. Mein Freund hatte dazu ein langes Gesicht geschnitten; ich und der Jäger aber, wir hatten uns schmunzelnd angeblickt; wir kannten dies Verstummen als ein Zeichen, daß nun das Wildbret schon im Auszug begriffen wäre. Es dauerte auch kaum eine Viertelstunde, bis in der Höhe zwischen den Lärchenboschen der emsig sichernde Kopf eines Thieres erschien. Zwei Kälberstücke mit ihren Sprößlingen traten aus dem Holze, und während die beiden Mütter sich vor einander hinpflanzten, als hätten sie geheimen Klatsch zu halten, tollten die Kälber mit lustigen Sprüngen auf und nieder über den steilen Hang und rings um die Sennhütte, ein paar gesunden Kindern vergleichbar, die den ganzen Tag in der Stube gefangen waren und nun am Abend für ein Erholungsstündlein ausgelassen wurden. Zwei Schmalthiere folgten, zu denen sich ein harmloser Spießer gesellte. Wieder kam eine kleine Familie, dann machten ein paar einzelne Stücke den Schluß. Langsam äsend zerstreute sich das Rudel über den Almenhang. Es zählte genau zwölf Köpfe – ein gutes Omen! Da mußte der Hirsch als Dreizehnter erscheinen – und Jäger sind ja immer ein wenig abergläubisch. Mit gespannten Blicken sahen wir unverwandt der Höhe zu; ruhig schlossen sich meine Hände um die Büchse, an den Schläfen aber hämmerte mir das Blut.

Und da kam er nun – durch einen tiefen Grohner meldete er sich an, kreischend schwirrte ein Tannenhäher aus den Lärchenwipfeln, Aeste knackten – jetzt sahen wir ihn zwischen den untersten Bäumen stehen, vom dunklen Abendschatten des Waldes überschleiert – eine kurze Weile zögerte er noch, dann zog er majestätischen Ganges einem vorspringenden Grashügel zu. In scharfen Umrissen hob sich hier sein wuchtiger Körper mit dem herrlichen Kronengeweih vom fahlgelben Himmel ab. Langsam streckte er den Grind, daß der zottige Hals sich blähte, und während ihm der heiße Athem vom Aeser rauchte, hallte sein dumpfer, langgezogener Orgelton in die Lüfte.

War das ein Echo? Nein – uns zur Linken, tief im Walde, meldet sich jener Hirsch, dessen Stimme wir schon einmal vernommen. Stutzend hebt der Platzhirsch den Grind, antwortet mit zornigem Schrei, und zwischen ihm und jenem andern entwickelt sich nun Ruf und Antwort ohne Ende. Dabei umkreist der Platzhirsch unablässig sein Rudel, immer enger treibt er es auf einen Knäul zusammen, und wenn ein Stücklein ausbricht, holt er es mit wilden Sprüngen ein. Bei all dieser Unruhe aber, bei all diesem Hin und Her bleibt er zu meinem Kummer immer weit außer Schußbereich.

„Halten S’ Ihnen nur stad,“ tröstet mich der Jäger, „bald der ander’ Hirsch auf d’ Almlichten ’reinschreit, nachher macht der Zwölfer schon amal an Rumpler gegen uns.“

In heißer Erregung lausche ich nun dem Walde zu, und immer höher schlägt mir das Herz, je näher der Brunftschrei des ziehenden Hirsches tönt. Jetzt sehen wir ihn aus dem Walde treten, etwa dreihundert Schritte von uns entfernt; es ist ein starker Achterhirsch, und er scheint ein muthiger Bursche zu sein; heiß mag die Liebessehnsucht in seinem Blute brennen, denn Schritt um Schritt steigt er der Höhe zu, und Schrei um Schrei schickt er in die sinkende Dämmerung. Eines der Schmalthiere zieht ihm neugierig entgegen. Die Flatterhaftigkeit dieser jungen Schönen scheint den Platzhirsch in wilden Grimm zu bringen; er läßt einen kurzen, heiser brüllenden Schrei vernehmen, dann senkt er den Grind, bohrt die Enden seines Geweihes in die Erde, reißt den Rasen auf und schleudert ihn in Stücken aus einander. Ein doppelter Schrei, und zornmuthig stürzen die beiden Kämpen einander entgegen. Regungslos steht ihnen das Rudel zur Seite; Stücke und Kälber halten die Lauscher erhoben und die Lichter unverwandt nach den Kämpfern gerichtet, deren Geweihe im Streite klirren wie helle Schwertschläge.

[663] Es wird in solchen Oktobertagen zwischen Wald und Felsen so manch ein heißer Kampf in Nacht und Dämmerung ausgefochten. Zuweilen geschieht es, daß die wilden Streiter im Kampfe die Geweihe unlösbar in einander verflechten und in solcher Umkettung einem elenden Tode sich entgegenquälen. Häufig erliegt ein schwächerer Hirsch den tödlichen Forkelstößen des stärkeren Gegners, und manchmal entspinnt sich der Kampf an abschüssigen Stellen; dann weicht unter einem der Kämpfer jählings die Erde und das Gestein, in einer Staub- und Sandlawine rollt der Stürzende über das steile Gefäll, liegt zerschmettert in der Tiefe, und wenn nicht das nachsinkende Erdreich über ihn einen schützenden Grabhügel deckt, so umschleichen ihn zur Nacht die hungernden Füchse, und am Tage kehren die scharfgeschnäbelten Bergraben und der schwingenstarke Adler auf seiner Leiche zu Gast.

So tragisch sollte nun allerdings der Kampf nicht enden, dessen Zeugen wir waren. Der Achter schien bei Zeiten die Uebermacht seines Gegners zu spüren, und so spielte er den Klügeren, welcher bekanntlich nachgiebt. Mit jähem Ruck befreite er sein Geweih, fuhr zur Seite, kam wie der „leibhaftige Teufel“ über die Almlichtung niedergeflogen und prasselte kaum zwanzig Schritt neben uns ins Tannendickicht. Der siegreiche Platzhirsch schlug mit den Läufen die Erde, schüttelte das Geweih und schrie dem Fliehenden mit zornigen Lauten nach.

„Gut is ’s, gut,“ flüsterte der Jäger an meiner Seite, „jetzt is er woltern in der Hitz’ – passen S’ auf – jetzt kriegt er den Schnecken zum Hören. Und richten S’ Ihnen nur gleich z’samm’ mit der Büchs, setzt kann’s pressiren, und über a paar Minuten wird’s aus sein mit der Schußlichten.“

Hastig zog er aus seinem Rucksack den „Schnecken“ hervor, jene große, auch unter dem Namen Kinkhorn bekannte Seemuschel, schielte flüchtig noch zu mir hinüber, ob ich fertig wäre, und ahmte dann, in die hohle Muschel rufend, täuschend den Brunftschrei des schwächeren Hirsches nach. Zornig warf der Platzhirsch, der schon als stolzer Sieger zum Rudel zurückkehren wollte, den Grind empor, ließ einen dumpfen Grohner hören, der Jäger antwortete, und da stürzte der streit- und eifersüchtige Recke in langen Sätzen niederwärts, um den vermutlichen Gegner vollends aus dem Felde zu schlagen. Auf etwa achtzig Schritte vor meiner Büchse stutzte er plötzlich – seit einer halben Stunde hatte sich der Himmel mit Nebeln zu überziehen begonnen, und schon seit einigen Minuten fackelte der Wind bedenklich hin und her – da mochte der zornmüthige Herr trotz aller Streitlust und Eifersucht von unserer gefährlichen Nähe einen „Schmecker“ bekommen haben. Ich aber ließ ihm nicht Zeit, über diese verfängliche Entdeckung länger nachzudenken; eine leichte Wendung nur wartete ich ab, bis er mir die Breitseite bot – dann krachte mein Schuß. In wilden Fluchten sah ich den Hirsch schräg abwärts in die Büsche stieben, droben auf dem Almbrett fuhr das Rudel nach allen Seiten aus einander, wie leichter Donner rollte noch das Echo meines Schusses über die dunklen Felswände hin – und lautlose Stille lag nun über dem weiten Bergwald.

Als ich mich setzt erhob, überfiel mich, glücklicherweise nach dem Schusse, das richtige Hirschfieber, und meine Hände zitterten, daß ich kaum die Patrone zu wechseln vermochte.

„Gut oder schlecht – setzt kann’s sein, wie’s mag,“ brummte der Jäger. "Wie sind’s denn abkommen?“

„Net übel, mein’ ich – schön kurz am Blatt.“

„No also, wann er an guten Schuß hat, kann’s so weit net fehlen. Ob er auf ’n Schuß a Zeichen g’macht hat, hab’ ich net sehen können, weil mir der Wind den Pulverdampf in d’ Augen ’trieben hat. Aber jetzt is allweil nix mehr z’ machen, setzt müssen wir ihm schon a Ruh lassen und müssen uns vertrösten bis auf morgen in der Fruh. A paar Vaterunser lang, und d’ Nacht is da.“

Gegen diese richtige Meinung war nichts einzuwenden. Lautlos birschte ich am Waldrand entlang und „verbrach“ an einem niederen Fichtenbäumchen die Stelle, an welcher der Hirsch das Dickicht gewonnen hatte. Dann traten wir den Heimweg an. Langsam stiegen wir thalwärts durch den finsteren Wald, und als ich meinen Freund, der schweigend an meiner Seite ging, nach einer Weile frug, wie denn der verflossene Abend mit seinen Ereignissen auf ihn gewirkt hätte, athmete er tief auf und sagte, daß er durch das herrliche, spannungsvolle Schauspiel dieses Abends zu einem verständnißvollen Freunde der Jagd bekehrt wäre, der wohl mit der Zeit ein tüchtiger Jäger werden möchte.

Dieses Geständniß machte mir Freude; trotz dieser Freude aber wurde mir, je näher wir der Hütte kämen, immer beklommener ums Jägerherz. Dichter und dichter überzog sich der Himmel mit Wolken, und ich fürchtete, daß die Nacht nicht ohne Regen vorübergehen würde. Die Regennässe mußte Fährte und Schweiß verwischen, und dann war es, wenn der Hirsch nicht schon nach kurzer Flucht zusammengebrochen, um die Nachsuche gar übel bestellt. Und meine Befürchtung wurde zu trüber Wahrheit; denn während wir noch beim Nachtmahl um das kleine Tischlein saßen, klatschte schon der Regen über das Schindeldach der Hütte. In Bangen und Sorgen verbrachte ich eine schlaflose Nacht, und es vermochte mich wenig zu trösten, als gegen die zweite Morgenstunde der Regen zu versiegen schien. Unruhig wälzte ich mich hin und her, während mein Freund zu meiner Rechten den bleiernen Schlaf des Müden schlief und mir zur Linken der im Heu vergrabene Jäger schnarchte wie ein Murmelthier. –

Als wir bei grauendem Morgen aus der Hütte traten, machten wir große Augen. Weiß, alles weiß, die Berge, der Wald und die Almen weiß von frisch gefallenem Schnee, und noch immer wirbelten die Flocken aus der grauen Höhe. Meinem Freunde gefiel das weiße Schimmerkleid, das die Berge über Nacht sich angezogen, mir aber wollte diese frische Unschuld durchaus nicht behagen, ich dachte an meinen Hirsch und schaute fragend den Jäger an.

Der zuckte die Achseln und meinte: „Au weh zwick – jetzt kann’s aber spucken!“ Und dabei blickte er mit sorglichen Augen aus den braunen Schweißhund nieder, der uns in großen Sätzen umsprang, als wüßte er schon, daß es an die Arbeit ginge.

Wir brauchten in dem zähen klebrigen Schnee zwei volle Stunden, bis wir die Alm erreichten. Auf dem hoch überschneiten Schußplatz nach Schweiß oder Schnitthaaren zu suchen, wäre vergebene Mühe gewesen. So eilte ich in brennender Ungeduld, meinen zwei Begleitern weit voraus, jenem Fichtenbäumchen zu, an welchem ich die Fluchtfährte verbrochen hatte. Da schoß eine heiße Blutwelle in meine Wangen und es lachte mir das ganze Gesicht – mochte nun meinethalben die Fährte verregnet und hoch überschneit sein! – der Hirsch hatte einen prächtigen Schuß, das deutete mir der helle Schweiß, mit welchem die über einander hängenden Zweige bespritzt waren, und zwar so reichlich, daß ihn alle Nässe nicht hatte verlöschen können. Freudig winkte ich meinen Freund und den Jäger herbei, nahm den Hund an die Leine, der den Schweiß begierig anfiel, und ließ mich von ihm ins Dickicht ziehen. In einem Bogen ging es thalwärts, wohl 150 Schritte durch dichten Bestand und noch dreihundert Schritte durch den Hochwald – dann lag er vor uns, der Herrliche, zu Füßen einer riesigen Tanne, nicht wie verendet, sondern wie in sorgloser Ruhe. Nur die Läufe waren ein wenig überschneit, und leicht zur Seite geneigt lag das braune, reichgeperlte Prachtgeweih. Er hatte die Kugel mitten auf dem Blatte sitzen, ein Schuß, mit welchem er zu anderer Zeit keine fünfzig Gänge weit gekommen wäre. Nur die zähe, gesteigerte Lebenskraft, die den Hirsch während der Brunftzeit erfüllt, hatte ihn nach einem solchen Schusse so weit noch führen können.

Nun ließ ich aber auch einen frischen Juhschrei hinaushallen in die weißdurchwirbelte Luft und steckte mir den wohlverdienten grünen Bruch aufs Hütlein. Dem Hirsch schnitt ich die schön gefärbten „Gran’ln“ aus dem Aeser und reichte sie meinem Freunde als Erinnerung an die Hirschbrunft in den Bergen.

Gegen Mittag stiegen wir thalwärts, der Jäger, um den Schlitten für den Hirsch zu holen, wir beide, um der Stadt entgegenzureisen.

Zweimal während des Niederstieges überholten wir den Schnee, doch immer wieder rückte er uns nach. Es schien, als wäre die weiße Decke ein Leichentuch, das von unsichtbaren Händen über die Berge gezogen würde, tiefer und tiefer mit jeder Stunde.

Die Hirsche hatten ausgeschrieen, und der eisbärtige Winter zog ins Land.

  1. Vergl. „Gartenlaube“ Jahrgang 1887, S. 392
  2. Bezeichnung für den gesammten Weideplatz einer Alm, besonders für die ebener liegenden Wiesen, auf denen das Gras besser und reichlicher gedeiht.