Ist die Sterblichkeit des Menschengeschlechts gegenwärtig ungleich geringer als in früherer Zeit?

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Titel: Ist die Sterblichkeit des Menschengeschlechts gegenwärtig ungleich geringer als in früherer Zeit?
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aus: Die Gartenlaube, Heft 15, S. 199–200
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Erscheinungsdatum: 1855
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Ist die Sterblichkeit des Menschengeschlechts
gegenwärtig ungleich geringer als in früherer Zeit?

Diese in der That wichtige Frage ist sehr oft aufgeworfen und wohl meistens bejahend beantwortet worden. Wir wollen einige Betrachtungen darüber anstellen, ob und mit welcher Zuverlässigkeit eine Antwort darauf möglich ist.

Von der theoretischen Seite ist eine Veränderung der Sterblichkeit außer allem Zweifel. Eine große Zahl von Ursachen muß darauf hinwirken, wie z. B. epidemische Krankheit, die oft unerwartet erscheinen und ebenso wieder den Schauplatz verlassen, das Herrschendwerden gewisser wirklicher oder vermeintlicher Nahrungsmittel, der Kulturzustand im weitesten Sinne genommen und andere mehr. Wenn wir aber in der Natur von Veränderungen sprechen, müssen wir zwei ganz verschiedene Arten derselben wohl auseinander halten, nämlich ununterbrochen nach einer Seite hin andauernde und periodische d. h. solche, die bald nach der einen, bald nach der entgegengesetzten Seite hin wirken und sich daher nicht summiren, sondern im Laufe der Zeit wieder aufheben.

Die schlagendsten Beispiele für beide Arten der Veränderungen bietet die Astronomie dar. Die ganze Anlage unseres Planetensystems hat die Natur so getroffen, daß, wenn nicht durch ganz fremdartige Einflüsse eine Zerstörung desselben herbeigeführt wird, es in sich selbst nicht den Keim der Auflösung, vielmehr den der ewigen Dauer trägt; und zwar ist das Mittel dazu ein höchst einfaches. Daß die anziehenden Kräfte sich umgekehrt wie die Quadrate der Entfernung verhalten, bewirkt diese Stabilität, d. h. wenn ein Körper doppelt so weit von der Sonne entfernt ist als ein anderer, so zieht ihn die Sonne 2x2 oder 4mal schwächer an, ist er 3 mal weiter entfernt, 3x3 oder 9 mal schwächer, ist er 4 mal weiter entfernt, 4x4 oder 16 mal schwächer u. s. w. (Wenn eine Zahl mit sich selbst multiplicirt wird, so nennt man das Produkt ihr Quadrat.) Jedes andere Gesetz der anziehenden Kräfte würde ohne Ausnahme den Keim der Selbstzerstörung in das System hineintragen. Gleichwohl sehen wir ununterbrochene Aenderungen aller Elemente des Systems und auch da vor sich gehen, wo ein Vorwärtsschreiten nach derselben Seite hin unausbleiblich, wenn auch meist erst nach langer Frist den Untergang der bestehenden Ordnung herbeiführen müßte. In allen solchen Fällen läßt sich aber beweisen, daß die Aenderung eine periodische ist. So ist z. B. die Neigung der Ebene des Erdäquators gegen die Ebene der Erdbahn, wovon der Wechsel der Jahreszeiten abhängt, im Abnehmen begriffen und geschähe das ununterbrochen nach derselben Seite, so würde es eine Zerstörung der gegenwärtigen Ordnung im organischen Leben auf der Erde nach sich ziehen. Es läßt sich aber zeigen, daß diese Aenderung eine in sehr engen Grenzen eingeschlossene periodische Aenderung ist, wobei noch außerdem die Dauer der Periode viele Jahrtausende umfaßt. Die Lage der Durchschnittslinie der obengenannten Ebenen zeigt sich ebenfalls veränderlich, aber ihre Aenderung zieht keine Zerstörung irgend eines Theils des Sonnensystems nach sich; in der That ist die Lagenänderung dieser Durchschnittslinie auch keine periodische, sondern eine in demselben Sinne ununterbrochen fortschreitende. Die Planeten bewegen sich in Bahnen, welche sehr wenig vom Kreise abweichen. Die Größe dieser Abweichung ist aber kleinen Aenderungen unterworfen, welche bei Andauer nach derselben Seite hin die Planetenbahn endlich in eine langegestreckte Cometenbahn verwandeln und zuletzt ein nicht wieder Zurückkehren des Planeten zur Sonne zur Folge haben würden. Allein diese Aenderung ist ebenfalls eine in sehr engen Grenzen eingeschlossene periodische, und die Dauer der Periode umfaßt eine undenklich lange Zeit.

Es ist sehr wahrscheinlich, daß die Sterblichkeit des Menschengeschlechts ebenfalls periodischen, und ganz gewiß in sehr engen Grenzen eingeschlossenen Aenderungen unterworfen ist, wodurch eine ununterbrochene Dauer desselben möglich gemacht würde. Es ist aber aus anderen Gründen sehr wahrscheinlich, daß der ewigen Dauer des Menschengeschlechtes eben so gut wie den anderen Thiergeschlechtern durch uns unbekannte Ursachen einst eine Grenze gesetzt werden wird.

Sonach wäre die Möglichkeit einer vielleicht schon Jahrhunderte hindurch andauernden Abnahme der Sterblichkeit durchaus nicht ausgeschlossen; es bleibt blos noch übrig, diese unserm gegenwärtigen Kulturzustande schmeichelnde Hypothese durch statistische Beobachtungen zu beweisen. Das läßt sich aber leider nicht machen.

Man hat es allerdings zu beweisen versucht, und es ist diese Meinung selbst von den ersten Statistikern aber immerhin mit Vorsicht ausgesprochen worden. So sagt z. B. Quetelet in seinem bekannten Werke „sur l’homme“: „Es scheint als eine ausgemachte Thatsache betrachtet werden zu können, daß in denjenigen Ländern, wo die Civilisation die bedeutendsten Fortschritte macht, zugleich die größte Abnahme der Sterblichkeit beobachtet wird. Indessen darf man diese Vortheile nicht übertreiben, wie man es in Betreff einzelner Länder gethan hat; je mehr die statistischen Urkunden an Genauigkeit gewinnen, um so mehr entdecken wir in dieser Beziehung mit jedem Tage neue Vorurtheile.“

Man hat den in Rede stehenden Satz einmal dadurch zu beweisen versucht, daß man das Verhältniß der Todten zu der ganzen Bevölkerung bestimmte, d. h. auf wie viel Personen von der Bevölkerung eines Landes ein Todter kommt; ferner dadurch, daß man die mittlere Lebensdauer ermittelte, und dann diese Zahlen aus früheren Jahren mit denen der Gegenwart verglich. Hierdurch zeigte sich allerdings eine ganz gewaltige Abnahme der Sterblichkeit. Aber schon diese gewaltige Abnahme wird denen verdächtig vorkommen, welche mit solchen Sachen vertraut sind.

Nun wollen wir uns aber fragen, wie weit solche Zahlenangaben aus früherer Zeit, und man ist bis zu Anfang des vorigen Jahrhunderts hinaufgegangen, Glauben verdienen. Diese Glaubwürdigkeit sinkt zu einem Minimum herab, wenn wir sehen, wie sehr heutigen Tages noch in einigen Ländern Volkszählungen und Angaben der Gestorbenen mangelhaft sind. Hierzu kommt noch, daß in früherer Zeit Volkszählungen aus ganz anderen Gründen vorgenommen wurden, als heut zu Tage, und daß die Aufzeichnung der Todten Personen oblag und zum größten Theile noch obliegt, nämlich der Geistlichkeit, welche sich in von religiösem Fanatismus bewegten Zeiten vielfache Ungenauigkeiten bei solchen Aufzeichnungen zu Schulden kommen lassen, indem sie anders Denkende gar nicht als Menschen betrachten. Bei Volkszählungen schrieb man meist nur die Steuerpflichtigen auf und überschlug die Anzahl der Uebrigen in Bausch und Bogen, und hierbei fanden noch gar Viele Gelegenheit, sich der Registration zu entziehen. Ganze Klassen der Bevölkerung beachtete man gar nicht. Ein Interesse an der Sache selbst wie heut zu Tage kannte man im vorigen Jahrhundert wenigstens von Seiten der Regierungen noch nicht. Es ist leicht einzusehen, daß man unter solchen Umständen das Verhältniß der Todten zur ganzen Bevölkerung sehr ungenau und meist so erhalten muß, daß die Sterblichkeit viel größer erscheint, als sie wirklich war.

Solche Ungenauigkeiten kommen gegenwärtig noch vor; so berechnet z. B. Joseph Hain in seiner Statistik des österreichischen Kaiserstaates (1852 erschienen) aus Beobachtungen von 1820 bis 1847 für die verschiedenen Theile der Monarchie so verschiedene Sterblichkeitsverhältnisse, daß man nothwendig die Ursache in der Mangelhaftigkeit der Beobachtungen suchen muß, was auch der genannte Statistiker selbst bemerkt hat. Diese Verhältnisse schwanken innerhalb der Grenzen von 1 : 26 und 1 : 45; d. h. es stirbt 1 von 26 bis 45 Personen.

Der Beweis also des Satzes, daß die Sterblichkeit gegenwärtig kleiner ist als früher, durch das Verhältniß der Todten zur ganzen Bevölkerung geführt, beruht auf in hohem Grade fehlerhaften Zahlen, d. h., es kann nichts bewiesen werden.

Nicht minder unzuverlässig ist der andere Beweis aus der mittleren Lebensdauer, welche allerdings ebenfalls scheinbar früher viel kleiner gewesen ist, als heut zu Tage. Um die mittlere Lebensdauer zu bestimmen, muß man aber viel mehr statistische Unterlagen haben, als zur Bestimmung des eben erwähnten Sterblichkeitsverhältnisses, und deshalb sind die hierauf gestützten Beweise allermeist aus Beobachtungen in diesem Jahrhunderte geführt worden. Man muß nämlich wissen, wie viel für jedes Altersjahr die Wahrscheinlichkeit beträgt, im Laufe des nächsten Jahres zu sterben. Diese Wahrscheinlichkeit ist so zu ermitteln, daß man von jedem [200] Altersjahr für eine große Menge von Personen beobachtet, wie viel im Laufe des nächsten Jahres davon sterben. Findet man z. B., daß von 1000 30jährigen Personen in einem Jahre 10 gestorben sind, so ist die Wahrscheinlichkeit eines 30jährigen im Laufe des nächsten Jahres zu sterben 10/1000 oder 1/100. Diese Brüche müssen für jedes Alter von der Geburt bis zum höchsten bestimmt werden, wenn man die mittlere Lebensdauer eines Menschen überhaupt berechnen will.

Man sieht aber leicht ein, daß dazu genaue nach dem Alter geordnete Bevölkerungs- und Todtenlisten nöthig sind, welche derselben Zeit angehören müssen.

Die ersteren, nämlich die Bevölkerungslisten, sind aber in früherer Zeit gar nicht vorhanden, während es Todtenlisten schon im vorigen Jahrhundert gab. Erst in der allerneuesten Zeit hat man angefangen, solche nach dem Alter geordnete Bevölkerungslisten entwerfen zu lassen und zwar am Vorzüglichsten in Belgien, wie denn überhaupt in diesem Lande fast nur allein brauchbares Material für die Lebensstatistik zu finden ist. England und unser kleines Sachsen sind nächstdem zu nennen. In allen andern Ländern ist nichts dafür geschehen, oder wenigstens nichts veröffentlicht worden; was im Staub der Archive unter Schloß und Riegel liegt, nützt keinem Menschen etwas.

Nun brauchte man aber zur Lösung vieler volkswirthschaftlicher Fragen, namentlich der, welche bei Renten- und Lebensversicherungsanstalten vorkommen, für jedes Alter die Wahrscheinlichkeiten im Laufe des nächsten Jahres zu sterben, und da es am nöthigen Material dazu fehlte, leitete man sie einseitig nur aus den nach dem Alter geordneten Todtenlisten ab. Hierdurch erhielt man aber ganz falsche und allermeist viel zu große Zahlen, weil man die mangelnden Bevölkerungslisten durch eine unrichtige Hypothese, nämlich der einer stationären Bevölkerung, ersetzen mußte. So kam es denn auch, daß die aus solchen Zahlen bestimmte mittlere Lebensdauer viel zu klein gefunden wurde. Als man nun in der neuesten Zeit, nachdem man Bevölkerungslisten erhalten hatte, dasselbe auf richtigem Wege bestimmte, fand man auch die mittlere Lebensdauer viel größer. Daraus kann aber keineswegs geschlossen werden, daß die Sterblichkeit abgenommen hat, denn es sind wiederum falsche Zahlen dazu benutzt worden. Diese Frage, ob gegenwärtig die Sterblichkeit im Abnehmen begriffen ist, werden einst unsere Nachkommen beantworten. Man wird dann wahrscheinlich auch sehen, daß nach Eintritt eines Minimums wiederum ein Zunehmen stattfinden wird und sofort periodisch, bis endlich andere Ursachen dem Menschengeschlechte ein Ende machen werden.