Instinct oder Ueberlegung? (Gartenlaube 1873/22)

Textdaten
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Autor: Selmar Schneidewind
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Titel: Instinct oder Ueberlegung?
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 22, S. 365–366
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1873
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[365] Instinct oder Ueberlegung. Da in unserer Gegend die Staare noch nicht recht heimisch sind, wenigstens noch nicht in den Nistkästchen brüten wollen, so zog ich ein Paar junge Staare auf und ließ sie im Frühjahr 1871 in meinem Garten fliegen. Es dauerte nicht lange, so nahmen dieselben einen Nistkasten in Besitz und brüteten darin. Es war interessant zu sehen, mit welchem Eifer die Thierchen, die so zahm geworden waren, daß sie den Garten nicht verließen und nur in ihm ihre Nahrung suchten, alle Würmer und Insecten auflasen, die beim Graben und Hacken zum Vorschein kamen.

Eines Tages, als beide Staare gerade bei dieser Arbeit beschäftigt waren, stieß ein Lerchenfalke nieder, erfaßte das Weibchen fast vor meinen Füßen, und nahm es mit fort. Glücklicherweise jedoch wurde der Räuber durch Arbeiter erschreckt und gab die noch unbeschädigte Beute wieder frei. Aber, o Schrecken! kaum einige Tage darauf nahm derselbe Raubvogel das Männchen vor meinen Augen weg und flog mit demselben in einen entfernten Garten, um es dort in Ruhe zu verzehren; durch das überaus klägliche Geschrei des armen Staares wurde es indeß auch diesmal möglich, den frechen Räuber zu verfolgen. Durch einen glücklichen Steinwurf gelang es, den kleinen Gefangenen zu befreien. Leider aber war derselbe durch dieses Unglück so verletzt worden, daß er weder im Stande war zu fliegen noch sich auf seine Füße zu verlassen, deren einer ganz gelähmt war. Nach mehreren Tagen, während welcher ich den Staar in der Stube gepflegt und gefüttert hatte, war derselbe wieder so weit hergestellt, daß er sich nothdürftig fortbewegen konnte. Hierauf ließ ich ihn wieder in den Garten, und kaum war er im Freien, als er auch schon mit großer Mühe den Baum erkletterte, auf dem sich seine Jungen befanden, um einen Einblick in den Kasten zu thun. Von dieser Zeit an holte er sich unermüdlich seine Nahrung, welche aus frischen Ameiseneiern bestand, bei mir selbst, fütterte die Jungen damit groß und zog endlich im Herbst, da er sich bis auf eine kleine Lähmung wieder völlig erholt hatte, mit seiner ganzen Familie ordnungsgemäß nach dem Süden.

Sehr gespannt war ich im Frühjahr 1872, ob sich die Staare wieder in meinem Garten einfinden würden. Schon hatte ich die Hoffnung aufgegeben, da in den benachbarten Hölzern die Staare längst eingezogen waren, als in den ersten Tagen des April ein Paar Staare in den Garten kamen und denselben von einer hohen Fichte aus genau betrachteten. Sobald mich der eine Vogel bemerkte, kam er auf mich zugeflogen, schlug mit den Flügeln und fing in seiner Freude einen ganz merkwürdigen Gesang an, als wolle er mir die Erlebnisse seiner Reise erzählen. Dabei lief er mir häufig sogar durch die Füße, so daß ich mich sehr in Acht nehmen mußte, ihn nicht zu treten. Von nun an verließ mich der Staar während des ganzen Tags nicht wieder; er ging mit mir in’s Haus, ließ sich dort Leckerbissen [366] geben und las beim Hacken der Gartenpflanzen sorgfältig neben mir die Würmer auf. Hierbei hatte er sein mitgebrachtes Weibchen, einen sehr scheuen Vogel – das alte war jedenfalls auf der Reise verloren gegangen – ganz vergessen, weshalb er andern Tags eine große Tour machen mußte, um es wieder aufzusuchen. Da sich indessen das Weibchen durchaus nicht an die Nähe der Menschen gewöhnen wollte und der zahme Staar somit seine Touren täglich wiederholen mußte, so entschloß ich mich, ihm ein anderes und zwar ein zahmes Weibchen zu geben. Nach einigen Tagen, während welcher sich beide Vögel im Zimmer aneinander gewöhnt hatten, that ich sie in den Garten, woselbst sie auch sogleich ihr Nest bauten (das wilde Weibchen war inzwischen für immer abgezogen) und nach kurzer Zeit auch brüteten.

Der alte Staar machte sich die Fütterung der Brut dadurch sehr leicht, daß er zu mir kam, sein Lied sang und den dafür erhaltenen Lohn seinen Jungen zutrug. Bei solcher Fütterung kam es indessen plötzlich zwischen den beiden Alten zu einem heftigen Streit. Das Männchen, welches noch immer am Fuße etwas lahm war, hatte beim Einsteigen in den Nistkasten das Nest etwas verletzt, worüber das Weibchen so ungehalten wurde, daß es dem Herrn Gemahl einige Schläge mit den Flügeln gab. Nach diesem Streite verschwand ganz plötzlich mein treuer Gefährte, und da er nach acht Tagen noch nicht wieder zurückgekehrt war, so hielt ich ihn für verunglückt. Wie groß aber war meine Freude, als sich plötzlich der Schwergekränkte wieder einfand, ohne freilich vom Weibchen und von den Jungen Notiz zu nehmen. Da mir der traurige, einsame Vater leid that, so nahm ich die jungen Vögel dem Weibchen ganz weg und gab sie dem Vater zur Pflege, worüber sich dieser so freute, daß er, zum erstenmale nach dem Streit, sogleich wieder zu singen anfing und die Jungen sodann mit wahrhaft väterlicher Sorgfalt großzog. Das Weibchen durfte aber nicht in seine Nähe kommen und noch jetzt ist die Spannung mit demselben nicht ganz überwunden.

Damit dieser merkwürdige Staar nicht etwa auf dem Zuge nach dem Süden, wo leider noch so viele durch Menschenhände ihren Tod finden, verunglücken möchte, behielt ich ihn mit seiner kleinen Xanthippe in meiner Stube zurück, wo er mich durch seinen mannigfaltigen, auf Commando zum Besten gegebenen Gesang, der aus der Nachahmung des Pirols, des Frosches, der Ziege und vieler anderer Thiere besteht; sehr angenehm unterhält.

Diese schmucklos geschilderte Episode aus dem Leben eines Staars zeigt zur Genüge, wie reich bewegt durch Schicksale und Affecte der verschiedensten Art selbst das Leben eines so winzigen Geschöpfs zu sein vermag, wobei wir noch immer bedenken müssen, daß wir doch nur einen sehr kleinen Theil der thierischen Empfindungen zu belauschen vermögen. Könnten wir es fassen, was in der Gemüthswelt der kleinen befiederten Freunde vorgehen mag, wenn jene dunkle, geheimnißvolle Wanderlust, die unwiderstehliche Sehnsucht nach Licht und Wärme, sich geltend macht, und könnten wir sie dann auf jener gefahrvollen Reise beobachten – was gäbe es dann erst zu erzählen!

Clingen.
S. Schneidewind, Oberamtmann.