Das alte Pfarrhaus in Pömmelte

Textdaten
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Autor: Clara Uhlich
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Titel: Das alte Pfarrhaus in Pömmelte
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aus: Die Gartenlaube, Heft 22, S. 362–365
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1873
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[362]
Das alte Pfarrhaus in Pömmelte.[1]
Erinnerungen einer Pfarrtochter.


Es ist etwas Eigenes um Kindheitserinnerungen. Mögen sie noch so einfach sein, ein poetischer Duft ruht auf ihnen, den die prosaische Wirklichkeit nicht verwischen kann. So steht das alte baufällige Haus, von dem längst kein Stein mehr auf dem andern liegt, vor meinen Augen, verklärt durch die Erinnerungen aus den Tagen der Kindheit. Und wie sollte es auch nicht? Ist es doch dasselbe alte Pfarrhaus, in welchem meine Eltern zufrieden und glücklich gelebt haben, in welchem wir Geschwister, bis auf die Jüngste, geboren sind, das Haus, in welchem „Vater Uhlich“ achtzehn Jahre gelebt und gewirkt hat: das Pfarrhaus zu Pömmelte, einem preußischen Dorfe des Kreises Calbe in der Provinz Sachsen.

Sieben Hügel auf dem kleinen Dorfkirchhofe erzählen von dem Herzeleid, das meine Eltern betroffen, denn außer fünf Kindern in zartem Alter liegen meine lieben Großeltern Uhlich dort begraben, die ihren Lebensabend bei ihrem einzigen Kinde beschließen wollten. Dennoch barg das Pfarrhaus glückliche Menschen unter seinem Strohdache.

Ein absonderlich Bauwerk war es freilich, das alte Pfarrhaus. Seine Vorderseite, nach Norden gekehrt, wo des Dorfes Hauptstraße vorüberführte, der unschönen Kirche mit dem taubenschlagähnlichen Kirchthurme gegenüber, präsentirt sich wunderlich genug. Theils massiv, theils aus Lehmfachwerk erbaut, lehnt sich an den westlichen Giebel ein Anbau mit schiefem Ziegeldache. Die Fensterläden des Parterre sind hier ziegelrot, dort aschfarben angestrichen, sogar die Schornsteine sind, der eine mit Kalk beworfen, der andere die rothen Mauersteine zeigend, ein Abbild der Unregelmäßigkeit. Die Fenster selbst, wie verschieden! Hier [363] die Stellung eine regelrechte, dort Schwalbennestern gleich unter dem Dache, hier große helle Scheiben, dort vor Alter in allen Regenbogenfarben prangend. Und das ist des Hauses stattlichstes Bild! Die nach dem Hofe hingekehrte Südfronte ist ein wahres Chaos von Ursprünglichkeit und jüngerem Flickwerke mit schrägen Kammern und Fenstern aus unzähligen runden bleigefaßten Scheiben, an denen wir Geschwister, beiläufig bemerkt, Gelegenheit hatten, das Gesetz des Brennspiegels im verjüngtem Maßstabe zu studiren.

Aber, wie gesagt, glückliche Menschen barg das Pfarrhaus trotz seines lückenhaften Strohdaches, das der Sonne wie dem Regen freien Einzug gestattete. Vielleicht lebt der Herr Cantor P. noch, der einst, auf dem Heimwege nach seinem Dörfchen von einem heftigen Gewitter überrascht, ein willkommenes Nachtquartier bei uns fand. Ich glaube, der arme Mann hat in jener Nacht wenig geschlafen; wenigstens kam unsere Magd, der das Reinigen der Zimmer oblag, mit der überraschenden Kunde zurück: „Frau Pastern, da oben schwimmt Allens, un dat ganze Bedde is ok natt worrn.“

Das spitzige hohe Strohdach überragte zwei Böden; das hinderte aber keineswegs, daß bei heftigen Regengüssen auch im Erdgeschosse die Wasserspuren sichtbar wurden, zum höchsten Jubel für uns Kinder, denen das Tröpfeln von der Decke auf die Schulbücher, oder gelegentlich in die Suppenschüssel zu Mittag, nur eine lustige Unterbrechung des dörflichen Alltagslebens bot.

Einige der inneren Räume des alten Pfarrhauses stehen noch ganz besonders vor meiner Seele. Da ist eine große dreifenstrige Stube des oberen Geschosses, das eine Fenster, auf der Zeichnung nicht sichtbar, im östlichen Giebel, die beiden anderen, wie unser Bildchen zeigt, dicht unter dem Dache. Dies war der geräumigen Pfarre freundlichster Raum; darum hatten meine Eltern ihn als Wohnstube eingerichtet. Von hier aus gab es durch das Giebelfenster eine hübsche Aussicht nach dem Landstädtchen Barby, das eine kleine Stunde, und nach einer Windmühle, die eine Viertelstunde entfernt lag. Sie brannte in einer stillen Nacht ab, ein unverwischbares Schauerbild der Erinnerung.

Treuer noch als die Wohnstube haftet das darunter gelegene große Zimmer in meinem Gedächtniß.

In diesem Zimmer, also im Erdgeschoß, mit seinen zwei nach der Straße gehenden Fenstern, studirte mein Vater, hier gab er den Confirmandenunterricht, hier hielt er mit den verheiratheten Männern des Dorfes Abendversammlungen und übte mit Hülfe seines Cantors den jungen Burschen des Dorfes die schweren und weniger gangbaren Kirchenmelodien ein; hier fanden auch die von ihm selbst im Ausgange der dreißiger Jahre in’s Leben gerufenen Lehrerversammlungen statt.

Ich sagte eben: hier studirte mein Vater. Wollte er aber von allem Außenleben unberührt bleiben, dann zog er sich in ein kleines dahinter gelegenes Stübchen zurück, in dem ein unansehnliches fichtenes, einfach braun gebeiztes Stehpult, das noch aus seiner späteren Schulzeit stammte, seine sauber geschriebenen Schulhefte, seine studentischen Arbeiten nebst den niedergeschriebenen Predigten barg. In diesem Zimmer durften wir meinen Vater niemals stören; sämmtliche Hausbewohner kannten und respectirten denn auch dieses Gebot gewissenhaft.

Alles in Allem gerechnet war die Zeit unter dem moosigen Strohdache, für uns Geschwister wenigstens, die köstlichste unseres Lebens. Das Haus galt auch in Pömmelte für ein solches, unter dessen Dache sich angenehme Stunden verleben ließen. Darum sahen wir oft Gäste bei uns, die sich aus der Altersschwäche des Hauses nichts zu machen schienen. Man spöttelte über das lückenhafte Strohdach und saß wohlgemuth unter seinem Schutze. Desto mehr rühmte man unsern Keller, in dem sich die Milch so gut erhielt und in dem die Butter so köstlich frisch blieb. Von den Mäusen, die zuweilen in die Milch fielen, oder die sich in einem Brode eingenistet hatten, bekamen die Gäste nichts zu sehen.

Von Anbeginn seiner Amtsthätigkeit hatte mein Vater sich die persönliche Theilnahme am Schulunterricht vorbehalten; auch war es ihm Herzenssache, mit den Schullehrern der Umgegend in lebendigem Verkehr zu sein; daher rief er zu Ende der dreißiger Jahre die Schullehrerconferenzen in’s Leben, die in Pausen von halben Monaten Sonnabends bei uns stattfanden. Aus der stets wachsenden Theilnahme, der sich diese Conferenzen erfreuten, läßt sich am besten schließen, wie gern man kam. Bedenkt man die oft grundlosen Verbindungswege auf dem platten Lande in schlimmer Jahreszeit, die doch nicht vom Besuch der Versammlungen abschrecken konnten, so ist das gewiß ein Beweis von der Wichtigkeit, die von den Lehrern selbst diesen Zusammenkünften beigemessen wurde. Es versteht sich von selbst, daß mein Vater auch bedacht war, die Lehrer mit guter Lectüre zu versorgen, und gewiß giebt es heute noch manchen Schullehrer, der sich freudig seines früheren Zusammenwirkens mit Uhlich erinnert.[2]

In den Ausgang der dreißiger Jahre fällt die Gründung des „Gustav-Adolf-Vereins“. Mein Vater wurde Mitglied desselben, und das brachte viel Leben in unser Haus. Ueberall schloß man sich dem Vereine an; bald gehörten alle Freunde des Uhlich’schen Hauses dazu. Für die größeren Versammlungen, die bald hier, bald dort stattfanden, wählten die umliegenden Ortschaften meinen Vater als Deputirten. Die erste derartige Versammlung trat in Halle zusammen, dann folgte eine andere in Berlin, darauf in Göttingen etc. Viele bedeutende Männer, deren persönliche Bekanntschaft zu machen früher meinem Vater nicht vergönnt gewesen, verkehrten jetzt in unserm Hause. Auch der Briefwechsel wurde ein so lebhafter, daß die alte Botengängerin des Dorfes, von Alt und Jung „Annemarieke“ genannt, einmal meinte: „Wenn ick dat Alles lesen müßt, denn würr ick dumm in mienen Kopp!“

Die Regierung sah scheel zu dieser Bewegung, doch geschah nichts, sie zu unterdrücken. Aber das Jahr 1840 kam und mit ihm eine ernste Wendung der Dinge. War bisher das Leben in Pömmelte im Ganzen ein ruhig dahinfließendes gewesen, so sollten nun über das Strohdach des alten Pfarrhauses auch einmal Stürme hinbrausen, denn von jetzt an gewann es jene Bedeutung, die allein den Versuch rechtfertigen kann, die Blicke der Gartenlauben-Leser auf dasselbe hinzulenken.

Die Partei, die in Sachen der Kirche „Zurück“ als Losungswort ausrief, gewann die Oberhand. Von allen Kirchen des Landes klang Todesgeläut, denn Friedrich Wilhelm der Dritte hatte die Augen geschlossen. „Was wird nun werden?“ fragte man. Die Antwort ließ nicht lange warten. Mit der Thronbesteigung Friedrich Wilhelm’s des Vierten kam Eichhorn und das neue Kirchenregiment. Von nun an wurde der Pietismus maßgebend. Der Rationalismus wurde verdächtigt, angefeindet, gemaßregelt. Wer aber hätte ahnen können, daß das Erscheinen eines Bildes eine Brandfackel in die Gemüther zu schleudern vermöchte? Und doch geschah es. Das Bild hatte einen frommen Gegenstand zum Vorwurf. Eine betende Bauernfamilie, darunter eine blinde Mutter, liegt auf den Knieen vor einem Muttergottesbilde mit dem Jesusknaben. Also ein katholisches Bild? – Mit Nichten, lieber Leser. Ein Gedicht in der „Magdeburgischen Zeitung“ brachte die überraschende Erläuterung, daß das Anbeten des Jesusknaben auf den Mutterarmen auch nach evangelischer Auffassung wohlberechtigt sei, indem dieser, die zweite Person der Dreieinigkeit, hier die Vermittlerrolle gespielt, denn auf seine Fürbitte sei die Blinde genesen.

Sintenis, Prediger an der Heiligen Geistkirche in Magdeburg, antwortete auf dieses Gedicht in einer spätern Nummer desselben Blattes in derber und schonungsloser Weise. Er sprach das famose Wort: „Sie wollen sogar unsern Herrgott auf das Altentheil setzen.“ Diesen Ausspruch, dem ich zwar in den vielen aus jener Zeit stammenden Flugblättern nicht begegnet bin, schreibe ich doch unbedenklich nieder, da mein Vater, der in seinen Behauptungen äußerst vorsichtig zu Werke zu gehen pflegte, sich in seinem letzten Werke, „Leberecht Uhlich, sein Leben von ihm selbst beschrieben“ (Gera, bei Paul Strebel, 1872), Seite 28, selbst darauf bezieht. Das Consistorium, voran Bischof Dräseke, forderte Widerruf seines Ausspruches und drohete bei seiner Weigerung mit Amtsentsetzung. Er aber, eine ehrliche, unerschrockene Natur, widerrief nicht, zumal da seine Gemeinde wie Ein Mann für ihn einstand. Es gab nun einen heftigen polemischen

[364] Schriftenwechsel; aber Sintenis blieb im Amte. Man schien selbst in maßgebenden Kreisen das Aeußerste vermeiden zu wollen.

Mein Vater war Rationalist, ja, er war noch mehr: er war Einer von Denen, die man am richtigsten als Gefühlsfromme bezeichnen könnte. Seine Auffassung der Person Jesu entsprang dieser Frömmigkeit des Gemüthes. Für ihn bedurfte es keiner Machtstellung des Heilandes, sei es auch die des Fürsprechers an Gottes Thron. Denke man sich nun den Eindruck, den das Urtheil des Bischofs Dräseke über Sintenis auf ihn machen mußte, gerade wegen seiner Auffassung der Person Jesu. Der vielfache Verkehr mit gleichgesinnten Amtsgenossen ließ meinen Vater den Gedanken fassen, mit ihnen in noch engere Verbindung zur Abwehr frommer Uebergriffe zu treten und zugleich zwischen ihnen da eine Verständigung herbeizuführen, wo in einzelnen dogmatischen Punkten ihre Meinungen auseinanderwichen.

So ging denn aus dem alten Pömmelter Pfarrhause der Aufruf hervor zu dem so wichtig gewordenen Tage von Gnadau. Am 29. Juni 1841 kamen dort sechszehn Geistliche aus Magdeburg, Köthen und einigen Orten in Pömmeltes nächster Umgebung zusammen. Diese Sechszehn nun verständigten sich laut der 1842 gegründeten „Mittheilungen für protestantische Freunde“, Nr. 1, dort über den Grund ihrer Opposition und über Das, was anstatt des Verworfenen das echte Christenthum sei. Zwei Grundgedanken waren es, die sie für sich aufstellten: „Abwehr alles Dessen, was der freien Entwickelung auf kirchlichem Boden hemmend entgegentritt“ und „Ausbau des Christenthums oder“ (wie sie selbst sagten) „das Reich Gottes mit vereinten Kräften, ohne die Freiheit des Einzelnen zu beschränken.“

Die nächste Versammlung war für Halle bestimmt worden, und dort waren es schon sechsundfünfzig Freunde der Wahrheit, die am 28. September zusammentrafen, diesmal auch Nichtgeistliche. Hier wurden jenen zwei in Gnadau aufgestellten „Grundgedanken“ einige Sätze beigefügt, später bekannt unter dem allgemeinen Namen „Halle’sche Sätze“. Der bedeutendste unter ihnen ist: „Bei der Entwickelung der christlichen Lehre ist Wahrhaftigkeit unerläßliche Bedingung. Was man nicht mit der vollsten Ueberzeugung von seiner Wahrheit und mit dem reinsten Bewußtsein eigener Wahrhaftigkeit sagen kann, das bleibe ungesagt. Eine besondere Lehre für den Geistlichen und eine besondere Lehre für das Volk nehmen wir nicht an.“ Die Versammlung gab sich selbst den Namen „Protestantische Freunde“, der sich bald im Volksmunde in das kürzere „Lichtfreunde“ verwandelte, gegenüber der insgeheim wühlenden Jesuitenpartei, die schlechthin als „Dunkelmänner“ bezeichnet wurden.

In meines Vaters Wesen lag es nicht, sich vorzudrängen; da aber seine Freunde in ihm ein gewisses parlamentarisches Talent zu erkennen glaubten, machte es sich eigentlich von selbst, daß man ihn bei den immer häufiger wiederkehrenden Versammlungen zum Vorsitzenden, nach damaligem Ausdruck zum „Ordner“ wählte. Im Mai 1842 tagte eine über dreihundert Köpfe starke Versammlung in Leipzig. Hier ward zuerst der Beschluß gefaßt, ein eigenes Organ zu gründen; das war das Wochenblatt, das von nun an unter dem Titel „Blätter für christliche Erbauung von protestantischen Freunden“ erschien. Hauptmitarbeiter war mein Vater. Auch Dr. Rudolph Fischer (Archidiaconus an der Nicolaikirche zu Leipzig) sandte zuweilen Artikel ein, die Hauptarbeit aber blieb Jenem vorbehalten.[3]

Es ist allbekannt, wie rasch sich diese Bewegung verbreitete, daß sich viele Zweigvereine bildeten und die halbjährlich wiederkehrenden Hauptversammlungen in Köthen ihre Theilnehmer bald nach Tausenden zählten. Die Pfingstversammlung 1843 war eine besonders bewegte. In ihr hielt Wislicenus aus Halle seinen zündenden Vortrag: „Ob Schrift, ob Geist.“ Der Rationalismus sagte: „Nicht Alles in der Bibel ist Gottes Wort; aber neben vielem arg Menschlichen findet sich das wahre Gotteswort.“ Nun kam Wislicenus mit jener Frage, die er selbst dahin beantwortete: „Die Bibel ist uns nicht Autorität; sie ist uns nicht absolutes Gotteswort. Wir haben eine andere höchste Autorität; die ist der in uns lebendige Geist. Eine besondere Norm erkennen wir nicht an.“ Das wurde ausgesprochen vor Tausenden, trotz des herrschenden Symbolzwanges, trotz des an höchster Stelle protegirten Offenbarungsglaubens. Und dieser wichtige Tag ist es, dessen dreißigjähriges Gedächtniß wir mit diesem Artikel erneuern wollen.

Von da an wurden die protestantischen Freunde überschüttet mit Schmähschriften. Natürlich warf man auch dem „einfachen Landgeistlichen in Pömmelte den Fehdehandschuh hin. Weil ihm in den Versammlungen das Ordneramt zuerkannt wurde, wies ihm die große Zahl der Gegner die ehrende Stellung des Hauptes der Bewegung zu. Dabei wurde auf die hämischste Weise verfahren, indem man ihm Spottbilder und Schandbriefe gemeinsten Inhalts, einen sogar, und zwar unfrankirt und damals sehr theuer, aus Constantinopel zusandte. Endlich griff A. R. Findeis, Prediger der Zwangsarbeitsanstalt in Groß-Salza, meinen Vater in einem „offenen Sendschreiben“ in einer Weise an, welche die Reinheit seines Charakters beschmutzen sollte.

Dagegen mußte mein Vater auftreten, und er that es in seinen „Bekenntnissen“ (Leipzig, Friedlein und Hirsch, 1844), einer Broschüre, in welcher er in allgemein verständlicher Sprache die Angriffe zurückschlug, und in welcher er zugleich seine Auffassung des Christenthums und der Person Jesu offen darlegte, eine Schrift, die eine Menge von Auflagen erlebte, deren letzte ebenso rasch vergriffen war, als die erste.

Auf der großen Maiversammlung 1845 in Köthen, die im Freien tagte, weil kein Saal die mehr als dreitausend große Menge fassen konnte, kam auf Uhlich’s Betrieb für Wislicenus, der eben von einem über ihn verhängten Ketzergericht aus Wittenberg zurückkehrte, trotz mancher verschiedenen Ansichten unter den Gesinnungsgenossen, die Erklärung zu Stande, daß jene Versammlung im Princip mit Wislicenus einverstanden sei, unterzeichnet von fünfundvierzig Geistlichen und vierhundertfünfzig Nichtgeistlichen. Dieser Versammlung folgten viele größere und kleinere in ganz Norddeutschland. Ueberall hin verlangte man Uhlich, in dessen Hände man trotz seiner Bitte, auch Andere damit zu betrauen, das Ordneramt legte. „Keiner versteht das so gut wie Du,“ hieß es von allen Seiten. Die größte Versammlung fand in Breslau auf dem Schießwerder den 30. Juni 1845 statt; sie zählte fast sechstausend Köpfe. Der alte freisinnige Professor David Schulz umarmte meinen Vater mit Thränen im Auge, sich glücklich preisend, das erlebt zu haben. Todtschweigen konnte man diese Bewegung nicht – so verbot man sie denn. Eine Zusammenkunft Friedrich Wilhelm’s des Vierten mit Metternich hatte jenes Verbot zur unmittelbaren Folge.

Neben den Versammlungen der protestantischen Freunde waren zugleich andere Versammlungen entstanden, die zum Versprechungsgegenstande die bürgerlichen Verhältnisse wählten. Ueber ihre Entstehung findet sich Näheres in „Leberecht Uhlich, sein Leben von ihm selbst beschrieben“, S. 31. Auch diese „Volksversammlungen“ wurden als „gemeingefährlich“ verboten.

Welche Bewegung hatte sich in dem kurzen Zeitraume weniger Jahre entfaltet! Der „Bauernpastor“ war eine weit gekannte, viel genannte Persönlichkeit geworden. Durch die Verbote der Versammlungen mehrten sich natürlich die Zeichen der Zustimmung von allen Seiten. Ein ganz besonders hohes Pömmelter Pfarrhaus-Fest war stets der 27. Februar, als Uhlich’s bald in ganz Deutschland bekannter Geburtstag. Da kamen, oft von weit her, Deputationen, Sängerchöre aus den umliegenden Orten, zahllose Briefe und Zuschriften. Mein Vater mochte wehren wie er wollte, die protestantischen Freunde selber betrachteten ihn als ihr Haupt, und der Geburtstag schien ihnen der schickliche Tag, das auch durch Aeußerlichkeiten zu documentiren.

Es versteht sich von selbst, daß hierzu die Kehrseite nicht fehlte. Im Sommer 1844 schickte ein Anonymus zwei Nummern des frommen „Volksblattes für Stadt und Land“, herausgegeben von dem in diesem Sommer gestorbenen Nathusius, an die Gemeinde zu Pömmelte, in welchem mein Vater durch den Brief eines angeblichen Schulzen Gottlieb als Lügner und Heuchler [365] dargestellt wurde. Die Blätter wanderten von Haus zu Haus, und es ist eine schmerzliche Thatsache, daß die Gemeinde Pömmelte ihrem treuen Prediger den Kummer machte, sich zu Zweifeln an der Reinheit und Ehrlichkeit seines Charakters hinreißen zu lassen. Es gehörte eben Uhlich’s Persönlichkeit dazu, sie zu bekehren, und zuletzt baten die Männer selber treuherzig ihren Freund, ihnen zu verzeihen.

Die Lage Pömmeltes in der Nähe der Elbe und Saale verhängte im Frühjahr 1845 eine schwere Wassersnoth über uns. Alles, was niedrig lag, ward überschwemmt; einige Häuser stürzten zusammen, in andern flüchteten sich die erschrockenen Bewohner auf den Boden, um nachher durch die Dachluken gerettet zu werden, denn schnell stieg das Wasser haushoch. Wenige hochgelegene Orte mußten Menschen und Vieh zum Aufenthalt dienen. Dazu gehörte Kirche, Schule und Pfarrhaus. Und nur ein Kahn zum Retten! Man wußte sich zu helfen. Alle möglichen größeren Waschgefäße, Thorwegflügel wurden unsere Rettungsboote und unsere untere große Stube diente vielen Obdachlosen als einstweilige Unterkunft.

Uhlich’s ehemalige Pfarrwohnung in Pömmelte.

Zu unsrer größten Sorge hatte der Vater in Sachen des Gustav-Adolf-Vereins eine dreitägige Reise angetreten. Während seiner Abwesenheit kam die Noth. Gnadau war die nächste Eisenbahnstation; von daher mußte er kommen. Wir bestiegen, nach ihm ausschauend, Mittags unsern alten Kirchthurm. Richtig! da saß er lesend auf einer grasigen Erhöhung im Felde, als Sitz ein Paquet Bücher benutzend. Das war weitab vom Wege, der, wie Alles ringsum, überschwemmt war. Nur auf Umwegen konnte er dahin gelangt sein, und das stetig steigende Wasser hatte ihm jedes Fortkommen von dort unmöglich gemacht. Unser Ortsschulz, dem ein unternehmender Knabe, auf einem Thorflügel rudernd, die Nachricht brachte, wußte sich zu ihm hinzufinden. Aber erst spät Abends traf er bei uns ein. Er hatte, im untern Dorf anlangend, sofort rettende Hand angelegt, und ganz durchnäßt langte er endlich an. Der Schade, den das Dorf erlitten, wurde nachgerade überwunden. Meine Eltern halfen aus ihren Vorräthen, und auf meines Vaters Zureden halfen auch die Wohlhabenden aus dem Dorfe den weniger Bemittelten. So kam Alles wieder in’s Geleise.

Etwas anderes aber ging aus dem Geleise. Wislicenus’ inzwischen im Druck erschienene Rede hatte gewaltig die Gemüther aufgerüttelt. Die pietistische Partei erhob immer mächtiger ihr Haupt. Was sie beabsichtigte, bewies sie deutlich durch die Verhandlungen gegen Wislicenus, die diesem Amtsentsetzung in sichere Aussicht stellten. Die Verbote der Versammlungen folgten, und an meinen Vater erging das scharfe Verbot, seine Parochie nicht zu verlassen. – Man mußte nun wohl zu ihm kommen, und so wurde denn unser Haus häufig der Sammelpunkt bedeutender Männer. Das Pfarrhaus in Pömmelte hatte urplötzlich eine Berühmtheit erlangt, an die vorher schwerlich Jemand gedacht, trotzdem man über seine Altersschwäche und sonderbare Außenseite herzlich lachte.

Seit mehr als Jahresfrist war unsere Kirche Sonntags von Fremden überfüllt, die auch das ärgste Wetter nicht von diesem Kirchenbesuche abhielt. Das Himmelfahrtsfest 1845 brachte uns zwei Wagen voll Herren aus Magdeburg, Mitglieder des Kirchencollegiums zu St. Katharinen. Sie kamen im Auftrage ihrer Gemeinde, meinem Vater die zweite Predigerstelle an der Katharinenkirche anzubieten. Daß die Stelle geringer dotirt war, als die Pfarre in Pömmelte, konnte ihm kein Grund der Ablehnung sein, ihm, dessen Streben einzig und allein darauf gerichtet war, dem Allgemeinwohl zu dienen. Im October geschah die Uebersiedelung nach Magdeburg. Ich schweige von der tiefen Wehmuth, mit der wir Alle von dem traulichen Pfarrhause schieden. War es doch, als riefe aus jedem Winkel eine Stimme alle die frohen Stunden nach, die wir dort verlebt.

Der letzte Sonntag des September brachte die Abschiedspredigt meines Vaters, bei der heiße Thränen flossen. Der Abschied, als wir wirklich davon fuhren, war herzbrechend, und tief erschüttert verließen wir das Dorf. – Im April 1846 bekam ich von meinen Eltern die erbetene Erlaubniß, einige Tage in Pömmelte weilen zu dürfen. Ich ahnte das Herzeleid nicht, das mir bevorstand. Vom Fenster des Nachbarhauses aus sah ich Stein auf Stein seine gewohnte Stelle verlassen, denn – die Pfarre wurde niedergerissen. Bei meiner Abreise war nur noch ein wüster Schutthaufen vorhanden. Heute steht an derselben Stelle ein hübsches, bequem eingerichtetes Haus. In meiner Erinnerung aber lebt das alte Pfarrhaus mit seinem spitzigen Strohdach unverändert fort, darum habe ich versucht, dem Leser ein Bild davon und von dem ehemals darin herrschenden Leben vor die Seele zu führen.
Clara Uhlich.


  1. Die Pfingstwoche vor nun gerade dreißig Jahren verdient unvergessen zu bleiben, und gerade der Kampf unserer Tage gegen jede Art von Pfaffenregiment muß an jene erste Ermannung des von muthigen Männern geleiteten Volksgeistes erinnern, der die Lichtfreunde in’s Leben rief. Eben darum führen wir unsere Leser heute vor und in die damalige Heimstätte des „Ordners“ jener Kampfschaaren: des Vater Uhlich, dessen Andenken ja in weit größeren Kreisen, als denen seiner „Freien Gemeinden“ in Ehren gehalten wird. Er gehört zu den treuesten deutschen Volksmännern. Möchte die Dankbarkeit und Liebe, die man ihm schuldig ist, seinen hinterlassenen Lieben ein segensreiches Erbe sein!
    D. Red.
  2. Wie sehr gerade die Volksschule bis in seine letzten Lebensjahre meinem Vater am Herzen gelegen, zeigen die beiden bei Paul Strebel in Gera erschienenen Broschüren: „Die Volksschule, 16 Sätze mit Erläuterungen“ (1868) und „Die freie menschliche Schule, ein Versuch“ (1870).
  3. Das Blatt bestand bis 1848. Im Jahre 1849 gründete mein Vater sein „Sonntagsblatt“, das trotz des dagegen erlassenen Verbotes, das sein Erscheinen über ein Jahr unmöglich machte, bis zu seinem Tode von ihm fortgeführt und stets allein von ihm geschrieben wurde. Es trat unter dem Namen von „Uhlich’s Sonntagsblatt“ (Magdeburg bei F. Demker) in seinen vierundzwanzigsten Jahrgang ein unter der Redaction von A. Reichenbach. Viele der erbauenden Aufsätze desselben sind noch dem literarischen Nachlasse unseres verewigten Vaters entnommen.