Instinct oder Ueberlegung? (Die Gartenlaube 1879/50)

Textdaten
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Autor: J. Köhr
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Titel: Instinct oder Ueberlegung?
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 50, S. 844
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1879
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[844] Instinct oder Ueberlegung? Zuweilen möchte man auf den Verdacht kommen, daß Haus- und Hofthiere im engeren Verkehr mit höher organisirten Geschöpfen diesen etwas abgelauscht haben. Einen Anstoß zu dieser Ansicht erhielt ich neulich beim Besuche eines langjährigen Freundes in dem Forsthause eines Elbreviers. Die Hauskatze hatte vor etwa acht Wochen vier Jungen das Leben gegeben, die Hausbewohner erhielten indeß erst einige Tage darnach die Gewißheit hiervon durch den Umstand, daß leises Wimmern die Räume des stillen Hausbodens durchzog; die Mutter hatte, wie sich herausstellte, die jungen Katzen verlassen. Der Satz wurde nun auf zwei schwarze Exemplare reducirt und der nachlässigen Mutter unter eindringlichen Ermahnungen wiederholt untergeschoben. Vergebens! Die Thierchen fanden weder Liebe noch genügende Beachtung; sie entbehrten fast gänzlich der Muttermilch und wurden nur durch unzureichende künstliche Mittel etwa vierzehn Tage hindurch nothdürftig am Leben erhalten. Da begab es sich, daß Belline, eine durch ihre Guthmüthigkeit in Ansehen stehende gelbe Dachshündin, die Hausbewohner mit nur einem Sprößling gleichfalls freudig überraschte. Man verfiel darauf, die schlecht bemutterten Wesen neben den kleinen Hofbürger zu placiren, und siehe da: die kohlschwarzen Kätzlein fanden nicht allein einen duldsamen Stiefbruder, sondern auch eine opferfreudige, liebevolle Mutter; sie tranken in gierigen Zügen am Born des Lebens und gediehen zu Aller Freude nicht minder gut, als der kleine drollige, auf den Namen „Steiger“ getaufte Hund.

Weitere vierzehn Tage vergingen. Da erhob sich eines Tages die gute, treue Belline von ihrem Lager, packte ihren Einzigen beim Kragen, trug ihn in das nahe Gebüsch, setzte ihn sanft nieder, kratzte dann eine tiefe Grube und legte ihn hinein.

Steiger nieste; er scharrte sogar mit den kurzen Läufen. Nichts wollte helfen – die gute Belline fuhr fort, ihr einziges Söhnchen mit dem ausgeworfenen Erdgeröll zu überschütten. Endlich, als seinem jungen Hirn die Situation doch bedenklich vorkommen mochte, gab er „Laut“.

Jung Steiger entstieg mit menschlicher Hülfe der Grube: er war dem Leben wiedergegeben.

Belline, die Gute, erhielt eine gehörige Zurechtweisung, und dank dieser erfreute sich der also gemaßregelte Steiger wieder derselben Rechte, wie solche seinen beiden Milchschwestern bisher zu Theil geworden und noch jetzt zu Theil werden; denn gestern noch sah ich das drollige Kleeblatt in rührend zärtlicher Gemeinschaft hangen – an der Mutter Brust.

Wer erklärt ihn nur – diesen Zwiespalt der Natur?

Schönebeck an der Elbe, den 6. October 1879.

J. Köhr.