Inmitten der Thüringer Romantik
Der Frühling grünt und blüht, schön und wonnig wie nur je, er lockt hinaus zu wandern über Berg und Thal. Die Zeit ist da, wo sonst der Tourist seine Sommerfahrten beginnt, wo die kranke und die gesunde, die große und die kleine Welt die Koffer packt für Baden-Baden und Ems, für Interlaken und Vierwaldstätter See, für Rhein und Schwarzwald, für die Thüringer Wälder und Harzer Berge. Wer aber denkt heuer an Lustreisen, wer an Sommerfrischen und Villeggiaturen, wenn rundum die Kanonen drohen? Im Geiste nur versetzt man sich jetzt in jene glücklichen Tage und stillen Naturparadiese, im Geiste nur – oder als Flüchtling, um aus den Wirren und Aengsten der Gegenwart sich zu retten. Erst neulich haben wir unsern Lesern ein solches ruhiges Asyl gezeigt im schönen Schweizerlande, wir führen ihn heute nach einem andern in den Thüringer Bergen, das, abseit der großen Heerstraße, ebenfalls alle
[412] mögliche Aussicht auf Schutz und Sicherheit vor den kriegerischen Begebnissen verspricht und doch dem großen Verkehrsnetze nahe genug liegt, um von Verbindungen und Nachrichten nicht abgeschnitten zu sein, einem Plätzchen, so reizend und waldfrisch, daß, wer es einmal kennen, es sicher auch lieben lernt. –
Auf der letzten Station des von Gotha nach Eisenach führenden Schienenwegs, dem Hörselberge Tannhäuserischen Andenkens gerade gegenüber, treten links die Thüringer Waldrücken und Waldkuppen verführerisch in nächste Nähe heran. Hier in Wutha entsteigen wir dem Waggon, um uns in Thurn und Taxis’scher Postkutsche unserm Ziele gemächlich entgegenschaukeln zu lassen.
Es war ein herrlicher Morgen in den ersten Tagen des Juni, als ich mit einem Freunde den lieblichen Thalgrund hinauffuhr, der
sich hier öffnet. Kaum ist das stattliche Dorf Farrenrode passirt, so schieben sich die nächsten Höhen links und rechts auseinander und die lieblichste Waldlandschaft entfaltet sich vor unsern Blicken. Aus den Kronen frischbelaubter Buchen erhob sich auf einem Bergeskegel die Ruine Scharfenberg, hinter ihm dehnte sich der breite Rücken des riesigen Breitenbergs und vor uns lag nach wenigen Secunden ein Haus im neuesten Schweizerstil malerisch zur Seite eines Brückenbogens, der sich über den rauschenden Bach wölbt; den Mittelgrund belebten die ungleichartigen Häuser, welche in verschiedenen Gruppen das Dorf Thal – so heißt unser lieblicher Zufluchtswinkel – bilden. Unter diesen zeichnete sich vor Allem durch seine reizende Lage und edlere Bauart ein größeres Gebäude aus, das vor ungefähr zwanzig Jahren von seinem Erbauer, dem damaligen Förster, zu einer Forstschule bestimmt war, seinen Zweck aber nicht erreichte und neuerdings zu einem Curhaus geworden und in Folge der bedeutenden Frequenz an Gästen im vorigen Jahre von seinem jetzigen Besitzer, einem Berliner, mit dem Namen Louisenbad bezeichnet worden ist. Die Wandlung, welche das Haus im Laufe der Zeit erfuhr, verdankt des außer seiner trefflichen Einrichtung der Frequenz im Gasthause des angrenzenden weimarischen Dörfchens Weißenborn, wo Einheimische und Fremde während der schöneren Jahreszeit viel verkehren und gut bewirthet sind, so daß Diejenigen welche zur Stärkung ihrer Gesundheit in den hart an einander stoßenden beiden Orten weilen, ein gemeinsames Band der Geselligkeit fesselt. Und in der That giebt die Lage derselben neben einander in dem schmalen Waldesgrund mit seinen saftigen Matten und zerstreuten Gärtchen zwischen den vom Erbstrom durchrauschten Bergen erst die Vollendung des seltenen Landschaftsbildes. An den steilen Scharfenberg mit seinem altersgrauen Wartthurm lehnen sich die Häuser des Dorfes Thal eng an, besonders rechts und links vom Gasthofe, der mit seiner hochaufwärts führenden Steintreppe einer Herberge aus alter Zeit gleicht, als die Knappen der Burg mit den Thalbewohnern beim frischen Trunk zusammensaßen da, wo jetzt ein treffliches gesundes Bier den Durstigen labt. Als ein ganz besonderer Vorzug von Thal muß neben seiner eigenen wunderprächtigen Lage die Nachbarschaft einer Reihe hochromantischer und weitberühmter Punkte des Thüringer Waldes hervorgehoben werden. Ruhla, der Inselsberg, Reinhardsbrunn, Liebenstein und Altenstein, der Wachstein, die hohe Sonne wie die Wartburg sind binnen wenigen Stunden zu erreichen. Während der kurzen Rast, die wir uns hier gönnten, machte ich meinen Freund mit der Bedeutung des gegenüberliegenden alterthümlichen Gebäudes bekannt.
„Das halbverblichene Wappen dort neben dem söllerartigen Vorbau ist das der ehemaligen Besitzer der umliegenden Herrschaft, der Herren von Utterodt, welche im fünfzehnten Jahrhundert dieses Herrenhaus zu ihrem Sitz machten, bis 1837 Herzog Ernst der Erste von Coburg Gotha die Herrschaft erwarb und das Gebäude zum Amthaus für das neueingerichtete Amt Thal erkor. Ein anderes, weniger ansehnliches Gebäude wird Dich vielleicht mehr interessiren; betrachten wir es darum im Weitergehen. Es ist das des ehemaligen Wunderdoctors, der noch heute im Munde des Volkes Vorwärtshans genannt wird, Johannes Harnschuh hieß, seines Zeichens ein Glaser war, sechsundsechszig Jahre alt, 1802 hier starb und von Ludwig Storch in einem Roman[WS 1] verherrlicht worden ist. Ich theile Dir mit, was ich aus authentischer Quelle von einem seiner Enkel, einem würdigen alten Herrn, weiß, der als Knabe von fünf Jahren ihn noch kannte. Vorwärtshans war ein Mann, der über seiner Zeit voll Köhlerglauben stand und klug die Thorheit Anderer zu seinem Vortheile, wenn auch nicht in so gewinnsüchtiger Weise, wie der verstorbene Schuhmacher Lampe in Goslar,[WS 2] zu benutzen verstand, denn er war so menschenfreundlich, daß er Armen seine auf manche Kenntniß der Medicin gestützte Hülfe unentgeltlich angedeihen ließ. Ein gewisser Ernst, der an Finsterkeit des Ausdrucks grenzte, imponirte vielen schwachen Gemüthern. In seine geheimnißvolle Kammer durfte sich Niemand von seiner Familie, gegen die er sehr streng, oft rauh war, wagen, ja er vernichtete, als er von dem Herannahen seines Todes überzeugt war, die Bücher, aus denen er seine Kunst geschöpft, denn man fand nach seinem Ableben nichts mehr davon. Trotz seiner häuslichen Strenge hing er bei Lebzeiten so an seiner Familie, daß er nicht zugab, daß eine Fürstin, die er in Ruhla von einer schweren Krankheit geheilt hatte, zum Dank eine seiner fünf Töchter zu sich nehmen durfte, wie sie sich erbeten hatte.
Nachdem unser Blick noch einmal über die gleich Sennhütten an dem Berge dahinter liegenden Häuschen gestreift, führte ich meinen Freund zurück auf einem anderen Weg durch das Dorf nach dem Gasthof zum Heiligenstein, in dem es sonst, ich weiß nicht, ob jetzt noch, an Festtagen so lustig zuzugehen pflegte, daß
[413][414] kein Stein auf dem anderen heilig blieb, obgleich auf demselben Grund und Boden einst der fromme Gesang der Mönche im Kloster Weißenborn ertönte. Der wunderliche Wechsel der Zeit hat aus diesem Kloster ein großes Wirths- und Brauhaus gemacht, dem der Erbauer und jetzige Besitzer den Namen des ehemaligen Gasthofes dort auf einer kleinen, felsigen Grundlage gegeben hat, dessen Stelle vor Alters eine Capelle oder ein Heiligenbild von Stein eingenommen haben muß.
Man sieht aus alledem, nicht blos die Natur, sondern auch die Geschichte dieser Gegend bietet Romantik genug, so daß Jedem, der sich hier zur Erholung aufhalten will, sein Theil daran zufällt, wenn er Augen und Sinn dafür hat. Gewiß kann es kaum einen geeignesteren Platz für Stärkung Suchende geben, als diesen nicht blos reizenden, sondern auch durch seine Berge nach allen Richtungen vor rauhen Winden geschützten Thalgrund; überall ist die Luft durch die Nähe der Wälder erfrischt, dabei weich und mild. Schwachbrüstige oder des Bergsteigens ungewohnte Leute finden hier ebene Spaziergänge durch die Wiesen des lieblichen Seebachthals oder der Ruhl oder am Saum der Berge hin. Das Louisenbad namentlich bietet in seinen weiten Gartenanlagen außer der bequemen Einrichtung für Wasserbäder der verschiedensten Art mit und ohne Zusätze von Mineralwässern oder Kiefernadeldecoct Befriedigung aller irgend billigen Anforderungen. Zwei geschickte Aerzte zu Ruhla sind ohne großen Zeitverlust für besondere Fälle zu consultiren; eine ziemlich reiche Volksbibliothek in der Pfarrei könnte sogar an Regentagen Unterhaltung gewähren, und die Correspondenz mit der Heimath ist durch eine Postexpedition im Ort so gut wie in einem größeren Badeort erleichtert. Und so wird das wunderliebliche Thal in nicht ferner Zukunft seiner altberühmten Nachbarschaft sicher an Besuch und Namen nicht nachstehen.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ „Vörwerts-Häns“
- ↑ vergl. Eine Saison beim „Director“ Lampe in Goslar