Textdaten
>>>
Autor: F. L. Reimar
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: In sengender Gluth
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 5–8, S. 65–68, 81–84, 97–100, 113–116
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1868
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[65]
In sengender Gluth.
Von F. L. Reimar.


„Halten Sie ein, Tante! Ich ertrage es nicht, das zu hören, und sage Ihnen, daß ich Sie hassen werde, wenn Sie Ihre Worte wiederholen!“

Die Anrede galt einer älteren Dame, deren etwas grämliches Gesicht in diesem Augenblick einen erschrockenen Ausdruck annahm, während die Wangen des schönen, jungen Mädchens, welches die Worte gesprochen hatte, bleich vor Zorn waren und seine kleinen Hände sich krampfhaft zusammenzogen.

„Aber, Rosalie, ich begreife kaum, was ich gethan, womit ich Dich gekränkt habe!“ stotterte die Erstere endlich.

„Sie haben angegriffen, was mir heilig ist!“ erwiderte das junge Mädchen mit einem Ton, in welchem die bittere Erregung mit dem Schmerz kämpfte, und dabei zuckte es um den feinen Mund wie von verhaltenem Weinen.

Die Entgegnung, welche der alten Dame eben auf der Zunge schwebte, wurde durch das unerwartete Eintreten eines Dritten abgeschnitten, der in diesem Augenblick auf der Schwelle erschien. Es war ein Mann, der in der ersten Hälfte der Dreißiger stehen mochte und dessen Gesicht, wenn es auch nicht gerade schön zu nennen war, doch einen unendlich angenehmen Ausdruck von Güte und Wohlwollen trug. Der erste Blick verrieth ihm, daß etwas zwischen den beiden Damen vorgegangen war, wie er denn auch die letzten Worte Rosaliens gehört haben mußte, und während das Mitleid mit dem Kummer des schönen jungen Geschöpfes in seinen Zügen offenbar wurde, trat er auf sie zu und sagte, indem er liebevoll den Arm um sie legte:

„Fehlt meiner Kleinen etwas und kann ich ihr helfen?“

In dem Augenblick stürzten die heißen Thränen aus den Augen des jungen Mädchens, aber sie entwand sich seinen Armen und sagte, wenn auch in sanfterem Ton, als mit dem sie vorher gesprochen hatte:

„Laß mich, Hermann. Ich spreche nicht gern von dem, was mich schmerzt!“

Damit trat sie auf die Terrasse hinaus, welche vor dem Zimmer hinlief, und entzog sich so den Blicken der beiden Zurückbleibenden.

Hermann sah wie fragend auf die Tante, welche einige Male unruhig auf ihrem Sitze hin- und hergerückt war und nun, da sie begriff, daß er eine Erklärung von ihr erwartete, in die Worte ausbrach:

„Ich habe sie gewiß nicht beleidigen wollen, Hermann, und bin selbst erstaunt über eine Heftigkeit, die sie früher nie gezeigt hat. Ich sprach über einige Mängel ihrer Erziehung, wie mir denn dies ganze katholische Wesen, dem sie anhängt, ein Aergerniß ist, und äußerte meine Ueberzeugung, daß ihre Mutter besser gethan hätte, sie in dem Glauben unseres Landes zu erziehen. Dir selbst muß dieser Gedanke kommen, Hermann, da Rosalie in Kurzem Deine Frau sein wird und solche ungleiche Ehen selten Gutes bringen!“

Hermann konnte ein leichtes Stirnrunzeln bei dem Geständniß der alten Dame nicht unterdrücken, trat dann aber zu ihr und sagte freundlich-ernst:

„Rosalie hat leichtverletzliche Saiten in ihrem Gemüth, welche geschont sein wollen, wenn sie nicht aus ihrer Harmlosigkeit, die mir so theuer ist, erweckt werden soll. Versprich, mir in Zukunft darin beizustehen, liebe Tante, und laß alles Uebrige meine Sorge sein!“

Die alte Dame verstand die Mahnung, welche in den Worten des Neffen lag, und zustimmend und ein wenig beschämt legte sie ihre Hand in seine dargebotene.

Er verließ sie dann und ging zu seiner Braut, die mit abgewandtem Kopf an der Brüstung der Terrasse lehnte! Als er leicht ihre Schulter berührte, sah sie zu ihm auf und mit Freude bemerkte er, daß jeder Zug von Herbigkeit aus dem schönen Gesicht verschwunden war, das wieder den früheren halb kindlichen, halb träumerischen Ausdruck angenommen hatte.

„Rosalie, mein Liebling,“ sagte er weich, „es ist immer eine Hand da, die Dich führen und schirmen wird!“

Mit einer raschen Bewegung ergriff sie plötzlich seine Hand, küßte dieselbe und rief aus:

„Tadle Du mich, strafe mich, wie Du willst, aber laß keinen Menschen zwischen uns treten, weder im Guten, noch im Bösen! Ich will Alles nur von Dir, Hermann!“

Sie hatte sich an ihn geschmiegt und lehnte ihr Haupt an seine Brust. Er streichelte mit der Hand sanft ihr schönes Haar und flüsterte: „Gebe Gott, daß ich Dir immer das sein, das gewähren könne, was Deinem Herzen noth thut.“

Sie waren von der Terrasse in den Garten hinabgestiegen, der sich mit seinen parkartigen Anlagen bis zur Landstraße erstreckte, welche das Gut, dessen Besitzer Hermann von Lossau war, von dieser Seite begrenzte, und in einer der duftenden Fliederlauben, von wo aus man einen Theil jenes Weges überschauen konnte, nahmen die Verlobtem ihren Platz.

Ihm war es, als sei es seine Aufgabe, den letzten Schatten des Kummers zu verscheuchen, welchen ihr die unüberlegten Worte der Tante bereitet hatten, und mit doppelter Genugthuung erfüllte es ihn, daß er sich dazu im Stande wußte.

[66] „Hast Du wohl wieder daran gedacht, Rosalie,“ sagte er, „daß ich Dir einst sagte, wir wollten gleich nach unserer Trauung eine größere Reise miteinander antreten, daß das Ziel derselben aber ein Geheimniß bleiben sollte, bis ich alle dazu nöthigen Anordnungen getroffen hätte?“

Sie nickte und blickte erwartungsvoll zu ihm auf.

„Nun, Rosalie, erräthst Du, wohin ich Dich zu führen gedenke?“ fuhr er fort und sah sie dabei mit glänzenden Augen an, als weide er sich schon im Voraus an ihrer Ueberraschung.

Es war, als ginge eine Ahnung in ihr auf, doch wagte sie nicht, derselben Worte zu leihen.

„Nach Spanien, Deinem Vaterlande!“ antwortete er ihrer stummen Frage.

Ein heller Jubelruf drang aus Rosaliens Brust, dann aber brach sie in Thränen aus, um ihrer tiefen Bewegung Luft zu machen. „O mein Gott, das Glück ist zu groß!“ sagte sie mit halberstickter Stimme.

„Hattest Du solche Sehnsucht dorthin und sprachst sie nie aus?“ fragte er gerührt.

„O Hermann, ich habe mir immer gedacht, wenn ich je recht glücklich werden sollte, müßte ich wieder in Spanien, dem Lande meiner Mutter, sein! Und hernach – hernach begriff ich es nicht, daß nun doch Alles anders geworden ist.“

Es war, als flöge ein leichter Schatten über sein Gesicht, aber er sagte nur: „Warst Du nicht noch sehr jung, Rosalie, als Du mit Deiner Mutter dem Vater nach Deutschland folgtest?“

„Ich war zehn Jahre, Hermann, also alt genug, um die Erinnerung zu bewahren und den Schmerz der Mutter nachzufühlen, die unzählige heiße Thränen vergoß, als sie in das fremde Land kam. Was ich nicht selbst noch wußte, erzählte sie mir, und wenn es hier kalt und trübe und neblig war, dann träumten wir uns in das schöne, sonnige Land zurück und die Mutter sagte wohl, sie würde daran sterben, daß man sie von dort fortgenommen habe.“

„Und der Vater, was fühlte er bei dem Heimweh Deiner Mutter?“ fragte Hermann.

„O, vor dem Vater wußte sie es zu verbergen, denn sie liebte ihn sehr und sagte immer, wegen derer, die man liebe, müsse man bei seinen Leiden lächeln können; und so zeigte sie ihm stets ein heiteres Gesicht, während nur ich wußte, wie krank ihr Herz war. O, ihre Liebe war sehr groß,“ fuhr sie fort, indem Thränen in ihre dunklen Augen traten, „denn als der Vater gestorben war und ich sie fragte, ob wir nun wieder nach Spanien zurückkehren würden, schüttelte sie traurig das Haupt und sagte: ‚Ohne Liebe giebt es kein Leben mehr, Rosalie! Ich werde nun auch sterben!’ Und ehe das Jahr herum war, wurde sie zu dem Vater gelegt.“

Hermann hatte theilnehmend den Erinnerungen seiner jungen Braut gelauscht. Er wußte, daß Rosaliens Vater in jungen Jahren als Kaufmann nach dem südlichen Spanien gekommen war und dort mit der Liebe die Hand der schönen Tochter seines Handelsfreundes gewonnen hatte. Als ihn später seine kaufmännischen Pläne, so wie wohl auch die Liebe zum Vaterland nach Deutschland zurückgeführt, war er selbst auf einer Reise mit der Familie bekannt geworden und in freundschaftliche Beziehungen zu ihr getreten, die bis zum Tode von Rosaliens Vater, welcher unerwartet einem hitzigen Fieber erlag, währten. Der Verlust des heißgeliebten Gatten beschleunigte dann bei der unglücklichen Mutter die Entwickelung einer Brustkrankheit, deren Keim schon länger in ihr gelegen haben mochte, und als Rosalie sechszehn Jahre zählte, waren ihre beiden Eltern bereits gestorben.

Um sie von ihren trüben Gedanken abzubringen, lenkte Hermann ihren Geist wieder ihrem Vaterlande zu und wußte ihre Erinnerungen so anzuregen, daß sie ihm mit beredten Worten und lebhaften Farben die Schönheiten und Herrlichkeiten desselben schilderte. In ihrer Erregung hatte sie sich auf den Boden niedergleiten lassen, und während sie mit auf seine Kniee gestützten Armen zu ihm aufblickte und immer begeisterter zu ihm sprach, sah er mit Entzücken in ihre glänzenden Augen, auf die von innerer Lebendigkeit gerötheten Wangen.

Plötzlich wurden Beide durch den unerwarteten Ausruf einer fröhlichen, lachenden Männerstimme aufgeschreckt. „Holla, Egmont und Clärchen, vivant hoch!“ erscholl es, und als Rosalie erschrocken aufsprang und Beide nach der Richtung schauten, woher die Worte kamen, erblickten sie die schlanke Gestalt eines schönen, jungen Mannes, dessen Näherkommen auf der Landstraße sie nicht bemerkt hatten und der sich in diesem Augenblick über die Hecke schwang, welche ihn noch von dem Garten trennte. Ehe Rosalie sich noch von ihrem Erstaunen erholen konnte, sah sie, wie Hermann dem Fremden entgegeneilte und ihn mit dem Ausruf: „Willkommen, tausendmal willkommen, mein theurer Alfred!“ in die Arme schloß. Dann nahm er ihn bei der Hand und zog ihn nach der Stelle, wo das junge Mädchen stand.

„Rosalie, das ist mein Bruder Alfred, und Alfred, mein lieber Junge, da stehst Du vor meiner Braut, die bald Deine Schwester sein wird!“

„Du sprichst, als ob wir Fremde wären,“ entgegnete Alfred, indem er seine Schwägerin begrüßte, deren ausfallende Schönheit ihn indessen in diesem Augenblick dermaßen frappirte, daß er nicht ohne eine leichte Befangenheit fortfuhr: „Erinnern Sie sich, daß wir uns vor drei Jahren gesehen haben, ehe ich zur Universität ging?“

„O ja, damals lebte meine Mutter noch und ich war ein Kind,“ entgegnete Rosalie.

Die Worte, so einfach sie klangen, berührten ihn eigenthümlich, denn sie erinnerten ihn an die Zeit, wo die schöne fremde Frau mit ihrer vierzehnjährigen Tochter bei seiner damals noch lebenden Mutter zum Besuch auf Lossau gewesen war und wo er selbst der Würde des angehenden Studenten vergessen hatte, um mit dem schönen Kinde in dem Park Haschen und Verstecken zu spielen. Nun stand statt des Kindes die Braut des Bruders vor ihm, und der Park, das Haus, in welchem er aufgewachsen, galt fast schon als ihr Eigenthum, so daß es ihm war, als habe er das Gastrecht von ihr zu erbitten, deren dunkle Augen auf seinen Zügen ruhten. Der Bruder machte jedoch in seiner freundlichen Weise der momentanen Befangenheit ein rasches Ende, indem er ausrief:

„Ich wette, Ihr werdet bald wieder die besten Freunde sein, und Rosalie wird gleich mir es Dir hoch anrechnen, daß Du gekommen bist, um zu des Predigers Segen auch den Deinen zu fügen!“

„Wann wird denn die Hochzeit sein?“ fragte Alfred.

„In drei Wochen!“ rief Hermann fröhlich, während Rosalie erröthend vor sich niederblickte. „Aber wie kannst Du nur fragen? Habe ich Dir nicht alles nach Göttingen geschrieben?“

„Richtig – ich besinne mich jetzt,“ entgegnete Alfred wie aus einer Art Zerstreutheit erwachend. „Die Nachrichten beschleunigten meine Abreise von dort, denn es drängte mich, aus vollem Herzen zu rufen: ,Haus Lossau für immer!’“

„Und jetzt werden Sie immer bei uns bleiben?“ fragte Rosalie erregt.

Alfred lachte. „Dann möchte ich drei Jahre in Göttingen vergeblich zugebracht und die Wechsel meines großmüthigen Herrn Bruders ebenso vergeblich vertilgt haben, meine schöne, kleine Schwägerin!“

„Du denkst nicht daran, liebe Rosalie,“ fiel Hermann, dem diese letzte Erwähnung unangenehm zu sein schien, rasch ein, „daß Alfred sich dem Staatsdienst widmen will, der ihn uns wohl kaum lange gönnen wird. Wohl aber dürfen wir hoffen,“ fuhr er fort, indem er dem Bruder herzlich die Hand bot, „daß er immer wissen wird, wo für alle Zeit seine Heimath ist!“

Die Gesellschaft war während des Gesprächs dem Hause zugeschritten, wo jetzt auch die Tante den Neffen, welcher ihr Liebling war, bewillkommnete. Er war gewohnt, stets in einem neckenden Ton mit der alten Dame zu reden, und dies half ihm auch jetzt dazu, daß er seine frühere Unbefangenheit vollkommen wieder gewann. So herrschte denn bald die heiterste Unterhaltung in dem kleinen Kreise. Unwillkürlich ward dieselbe auf das Gebiet der Jugenderinnerungen gelenkt und manch heitere Erlebnisse wurden aufgetischt, wie denn bei Alfred eine immer fröhlichere, fast übermüthige Stimmung Platz griff, welche ansteckend auf die Uebrigen wirkte. Nur Rosalie war stiller, als es ihre Weise zu sein pflegte, und ihr Ernst mußte Alfred auffallen, denn er bemerkte:

„Vergeben Sie uns unsere Reminiscenzen, Rosalie, die Ihnen fremd sind und Sie daher nothwendig langweilen müssen?“

„O nein, ich höre Ihnen sogar sehr gern zu!“ rief sie und erröthete dann selbst über den Eifer, mit welchem sie dies versichert hatte.

[67] Später machten die beiden Männer noch einen Gang durch das Gut, wo Hermann dem Bruder verschiedene neue Einrichtungen zeigen wollte, und namentlich die Anlage einer Fabrik, auf die er großen Werth legte. Während dieser Zeit war Rosalie mit der Tante allein und hier fragte sie plötzlich:

„Ist Alfred von seinem Bruder abhängig?“

„Wie kommst Du darauf, Kind?“ entgegnete die alte Dame verwundert.

„Es fiel mir auf, daß er sich ihm bei verschiedenen Gelegenheiten unterordnete, ihm eine Art Vormundschaft einräumte.“

„Nun, die Stelle eines Vormunds hat Hermann ja auch an dem Bruder, dem er an Jahren so weit voraus ist, vertreten. Und treu hat er an ihm gehandelt, das ist wahr, und es Alfred nie empfinden lassen, daß dieser alles seiner Güte verdankt.“

„Es sind ja auch Brüder!“ rief Rosalie verwundert.

„Aber nur Halbbruder,“ erklärte die Tante, „das große Vermögen, welches Hermann besitzt, sowie das ganze Gut, stammt von seiner Mutter, der ersten Frau meines Bruders, die einer Seitenlinie unseres Hauses angehörte und denselben Namen trug. Wir übrigen Lossau’s sind ohne Vermögen – und dessen hat sich denn auch Alfred nicht zu schämen, da wir trotzdem in der Welt immer hochgeachtet gewesen sind.“

Die alte Dame hatte sich bei diesen Worten auf ihrem Sitz hoch und gerade aufgerichtet und blickte auf ihre junge Nichte in imponirender Weise, als wolle sie ihre Geringschätzung des Reichthums andeuten, welcher derselben in Kurzem zufallen würde. Rosalie aber achtete kaum darauf und schaute sinnend hinaus in den Park, wo sie Alfred heute zuerst begegnet war und über den sich jetzt bereits abendliche Schatten breiteten.

Sie ahnte kaum, daß sie zu derselben Zeit Gegenstand der Unterhaltung zwischen den beiden Brüdern war, die auf ihrem Wege dahinschritten. Alfred konnte sein Entzücken über die schöne Schwägerin nicht verbergen und rief aus:

„Wahrlich, Hermann, wenn ich nicht Dein Bruder wäre, ich beneidete Dich um Dein Glück und könnte es Dir streitig machen.“

Hermann hörte ihm mit stillem und glücklichem Lächeln zu. „Und doch bin ich es allein, der Rosaliens Werth richtig zu erkennen und zu schätzen weiß, denn ich habe das junge Gemüth gekannt seit seiner Kindheit, als mich die innigste Verehrung zu ihrer schönen Mutter hinzog, die mir auf dem Sterbebette ihr Kind gewissermaßen vermachte. War ich doch fast der einzige Freund, der ihr nach dem Tode des Gatten geblieben, und sie mußte für die Zukunft ihres Kindes zittern, das schutzlos einem rauhen Leben preisgegeben war.“

„Aber, wenn ich mich recht erinnere, lebte die Familie früher in glänzenden Verhältnissen,“ sagte Alfred.

„Allerdings; aber Glückswechsel, wie sie in der Kaufmannswelt häufig vorkommen, hatten dieselben mit einem Schlage vernichtet, und als Rosaliens Vater starb, war schon der Ruin seines Hauses erklärt, der Tod vielleicht eine Folge der Erschütterung und des schweren Kummers der Seinigen, die an Glanz und Wohlleben gewöhnt waren und nun allen Luxus, alle Annehmlichkeiten des Lebens entbehren sollten. Als auch die Mutter gestorben war, betrachtete ich mich als Rosaliens natürlichen Vormund und nachdem ich ihre Erziehung in einer Pension hatte vollenden lassen, bot ich der Verwaisten mein Haus an und stellte sie unter den Schutz der Tante, die mir nach dem Tode unserer Mutter die Wirthschaft führte.“

„Nun, das Weitere kann ich mir denken, seit ich in ihre schönen Augen gesehen habe!“ fiel Alfred lachend ein; „sie kam, sah und siegte, nicht wahr, Hermann?“

„Ich liebte sie – ja!“ entgegnete Hermann, und es war, als klänge eine leise Verstimmung über den Ton des Bruders aus seiner Antwort, „aber nicht um ihrer schönen Augen willen, sondern – –“

„Nun?“ fragte Alfred, als Hermann unerwartet stockte.

„Alfred, hältst Du es gerechtfertigt, daß ich, der ältere Mann, dem jungen, unerfahrenen Mädchen die Hand bot?“

„Wie, Hermann?“ fragte Alfred, der den Bruder nicht begriff.

Dieser achtete aber nicht auf ihn und fuhr fort, als müsse er seine Handlungsweise erklären, entschuldigen. „Sieh, das Auge eines Vaters kann nicht liebevoller und sorglicher den Charakter und das Wesen seines Kindes erforschen, als ich mich in Rosaliens Natur hineingelebt habe, und darum glaube ich mir zutrauen zu dürfen, daß ich sie die rechten Wege zu ihrem Glück leiten, sie vor den Gefahren schützen werde, die aus dieser Natur hervorwachsen können!“

Alfred faßte die letzte Bemerkung auf und fühlte sich von ihr betroffen.

„Aber sie ist ja einfach und harmlos wie ein. Kind,“ wandte er ein. „Von welchen Gefahren sprichst Du denn?“

„Laß es gut sein, Alfred!“ versetzte Hermann. „Manchmal erwacht schon ein Dämon, wenn man nur von ihm redet, und ich möchte eben alle Dämonen fern halten von dem Kleinod meines Herzens!“ –

Mit Alfred war ein neues, fröhliches Leben in das Haus gekommen. Beschäftigungen wurden vorgenommen, an die man lange nicht gedacht und die wenigstens Alfred und Rosalie, die beiden jüngsten Mitglieder der Gesellschaft, in die früheren Tage zurückversetzten, wo sie Kinderspiele mit einander getrieben hatten. Hermann war in dieser Zeit vielfach abwesend, oder von Geschäften in Anspruch genommen, welche die Bewirthschaftung des großen Gutes mit sich brachte und die sich gerade jetzt häuften, weil er auf seine nahe Abwesenheit Bedacht nehmen mußte. Um so mehr freute er sich über den Verkehr der jungen Leute, von denen ihm immer Eines, wie er scherzend zu sagen pflegte, die Sorge für die Unterhaltung des Andern abnähme, und forderte namentlich den Bruder auf, den Ruhm der Lossau’s, daß sie allezeit Ritter des schönen Geschlechts gewesen seien, aufrecht zu halten. So kam denn Alfred bald kaum noch von Rosaliens Seite. Er begleitete sie auf ihren Gängen durch den Park, half ihr die zahmen Rehe füttern, die in einer weitläufigen Umzäunung gehalten wurden, oder schiffte sie auf dem zum Gute gehörigen See, was ihr Lieblingsvergnügen war. Sie dagegen sang ihm spanische Lieder vor, die sie theils aus ihrer frühern Kindheit im Gedächtniß behalten, theils von ihrer Mutter gelernt hatte, und er versuchte dann wohl, die Laute nachzubilden und sich die Worte ihrer schönen Sprache, die sie ihn zu lehren strebte, einzuprägen.

Während der ersten Tage hatte sie noch eine gewisse Schüchternheit beibehalten, bald aber riß sie die Lebhaftigkeit des Schwagers hin, so daß die Tante, einmal verwundert zu Hermann sagte: „Was hat nur die Rosalie, und welcher Geist ist plötzlich über sie gekommen, daß sie den ganzen Tag aussieht wie die Glücksprinzessin im Märchen?“

„Laß nur!“ versetzte er, „ihre Jugend hat an Alfred den passenden Gefährten gefunden, während wir Beide der Kleinen wohl manchmal etwas zu ernsthaft sind, und ich danke es ihm von Herzen, daß er ihren fröhlichen, leichten Sinn erweckt hat!“

Und Alfred selbst? – Er fühlte es bald nur zu gut, daß durch ihn ein anderes Denken und Empfinden in die Brust der jungen Schwägerin gekommen war; aber nicht das, welches der arglose Bruder voraussetzte: er fühlte es mit freudigem Triumph, daß ihre Blicke häufiger, feuriger auf ihm ruhten, als auf ihrem Verlobten, daß, wenn sie mit ihm redete, in ihrer Stimme ein Klang lag, den keiner sonst hervorzurufen vermochte – mit einem Wort, daß der Eindruck, welchen das schöne Mädchen gleich bei der ersten Begegnung auf ihn gemacht hatte und der mit jedem Tage wuchs, in demselben Grade von ihm auf sie übergegangen war. Wohl mahnte ihn Anfangs eine innere Stimme, sich bei Zeiten zurückzuziehen, das Vertrauen des Bruders nicht zu täuschen; aber dieselbe wurde schwächer und schwächer, je mehr ihn der Zauber von Rosaliens Schönheit und Lieblichkeit umstrickte, je mehr er sah, daß sie all’ ihre Freude, ihr Glück nur noch in seiner Nähe suchte. Dennoch war zwischen den beiden jungen Leuten nie von ihren Gefühlen die Rede gewesen; er fühlte instinctmäßig, daß sie die ihrigen selbst nicht kannte, und wenn er sich auch an ihnen weidete – er wagte nicht, ihr die Augen zu öffnen, und sie spielte ruhig wie ein Kind am Rande des Abgrunds mit ihren Blumen.

An einem dieser Tage hatte Hermann eine Besichtigung auf dem entferntesten Theile des Gutes vorzunehmen, und da ihn dieselbe bis zum Abend in Anspruch nahm, beschlossen Rosalie und Alfred, einen größeren Spaziergang zu machen und seine Rückkehr dann an einem bestimmten Platz in dem an den Park stoßenden Wäldchen zu erwarten. Der Weg hatte sie auf eins der in der Nähe von Lossau liegenden Dörfer hinausgeführt, und nachdem sie an den ziemlich ärmlichen Hütten vorbeigegangen waren, gelangten [68] sie zum Kirchhof, der eine kleine Erhöhung bildete und die oben befindliche Kirche umgab.

„Lassen Sie uns hier einkehren!“ bat Rosalie und trat in das offen stehende Thor.

„Warum?“ versetzte er etwas unmuthig, „warum wollen wir uns den heiteren Sinn trüben? Ich halte nicht viel von Kirchhofsstimmungen.“

„Und mich zieht ein Friedhof oft wunderbar an!“ sagte sie, plötzlich zu einem eigenthümlichen Ernst übergehend, und beugte sich nieder, um die Grabschrift auf einem der Leichensteine zu lesen. „Aus Tod Leben!“ las sie und blickte sinnend auf das in ziemlich roher Arbeit ausgehauene Symbol, einen Schmetterling, der sich der Hülle entwunden hatte.

„Gott grüß’ die Herrschaften!“ tönte in diesem Augenblick eine bescheidene Stimme hinter ihnen, und als Beide aufblickten, gewahrten sie ein altes, ziemlich ärmlich gekleidetes Mütterchen, das zur Seite einer jüngeren Frau, welche ein kleines, mit einem Tuche verhangenes Kind auf den Armen trug, der Kirche zuschritt. „Wir danken Euch, Mutter!“ sagte Alfred, und er wie Rosalie traten unwillkürlich näher.

„Gehört Ihr zu dem Kinde?“ fragte die Letztere.

„Ja, es ist mein Enkelkind und ich geleite es zur heiligen Taufe. Wir sind aus Wellbach, und da wir keine eigene Kirche haben und meine Kräfte nicht ausreichten für den weiten Weg, hat die Marthe, unsere Nachbarin, das Kleine hergetragen.“

„Und seine Eltern?“ fragte Rosalie weiter.

„Meine Tochter ist noch nicht vom Kindbett erstanden.“

„Und der Vater?“

„Ja, sehen Sie, liebe Dame, das ist eine traurige Geschichte! Der Jakob, welcher der Liebste meiner Tochter war und sie sicher geheirathet hätte, ist als Matrose auf der See gestorben und der Gram darüber hat meiner Anna schier das Herz abgefressen. Als dann der arme Wurm da zur Welt kam, wollten die Leute, die sie früher Alle lieb gehabt, nichts mehr von ihr wissen – und darum müssen wir denn auch so allein zur Kirche gehen,“ setzte sie mit einem kummervollen Seufzer hinzu.

Ein Ausruf des Unwillens entfuhr Rosaliens Lippen und sie wandte sich nach der jungen Bäuerin, die während der Unterhaltung auf einem der Steine Platz genommen hatte.

„Wollen Sie die Kleine sehen?“ fragte diese und schlug das Tuch zurück, welches das Kind bedeckte. Aus der ärmlichen Umhüllung blickten Rosalie ein Paar dunkle Augen, ein Gesichtchen an, das sie durch seine feine Bildung überraschte. Gerührt sah sie auf und begegnete den Blicken Alfred’s, der gleichfalls näher getreten war, um das kleine Geschöpf zu betrachten. Es kam ihr eine plötzliche Eingebung:

„Alfred, wollen wir die Pathen des Kindes werden?“ fragte sie.

„Ja,“ entgegnete er rasch, „wenn die Alte darein willigt, daß es Rosalie genannt wird.“

„Wollt Ihr das, gute Frau?“ fragte das junge Mädchen.

[81] Die Alte konnte Anfangs kaum begreifen, was die vornehmen Herrschaften wollten, war aber, als sie endlich das Anerbieten verstand, vor Freude und Dankbarkeit fast außer sich und versprach, daß das Kind den ihm zugedachten Namen führen solle. Alfred ging dann einige Schritte voraus, um dem Prediger, welcher sich schon in der Sacristei befand, das Nöthige mitzutheilen, und geleitete wenige Minuten später seine schöne Gefährtin mit dem Täufling und den beiden Frauen zum Altar. Das Kind ruhte auf Rosaliens Armen, als das heilige Wasser sein Haupt benetzte und der Prediger ihm zugleich mit ihrem Namen seinen Segen ertheilte. Sie drückte, nachdem die Handlung beendigt war, einen Kuß auf seine Stirn und gab es dann seiner Pflegerin zurück, während Alfred beim Hinausgehen aus der Kirche sich bei der Alten noch näher nach ihren Verhältnissen erkundigte und für die Zukunft seine Unterstützung verhieß. Am Kirchhofsthor, wo sich die Wege der Wanderer schieden, erschöpfte die Alte sich noch einmal in Danksagungen und schloß sie endlich mit den Worten:

„Denken Sie an mich, wenn der Segen über Sie kommt, den Sie sich heute verdient haben, und kommen muß er, denn was das Volk spricht, ist wahr: wenn zwei Liebesleute – und daß Sie das sind, habe ich schon an Ihren Augen gesehen! – bei einem Kinde, dessen Eltern nicht getraut waren, Gevatter stehen, so wird ein glückliches Paar daraus!“

Weder Alfred noch Rosalie brachte ein Wort hervor, um der Alten ihren Irrthum zu benehmen, und auch als sie sich rasch von dieser verabschiedet hatten, vermochten Beide nicht miteinander über das Mißverständniß zu scherzen. Schweigend gingen sie auf dem Wege fort, der sie dem Wäldchen zuführte, wo sie Hermann treffen wollten, und sie waren so mit ihren Gedanken beschäftigt, daß sie nicht bemerkten, wie die dunklen Wolken, welche sich schon länger am Horizont gezeigt hatten, immer höher und höher heraufkamen und die Sonne bereits hinter ihnen verschwunden war. Ein ziemlich heftiger Donnerschlag weckte Beide aus ihrer Versunkenheit, und besorgt rief Alfred aus: „Wir müssen eilen, Rosalie, das Gewitter nähert sich!“

Raschen Schrittes wanderten sie weiter und hatten bald das Wäldchen erreicht, dessen Bäume ihnen wenigstens Schutz vor dem zu erwartenden Regen bieten konnten. Bis jetzt war indessen kein Tropfen gefallen, obgleich die Schläge in immer geringeren Zwischenräumen und mit wachsender Heftigkeit auf einander folgten. Rosalie war ängstlich und überdies hatte das rasche Gehen sie angegriffen – das fühlte er an dem Zittern der kleinen Hand auf seinem Arm, den sie nach einigem Zögern angenommen hatte; daher machte er ihr den Vorschlag, eine kurze Weile auszuruhen. Sie waren bei einem mächtigen Eichbaum angelangt, an dessen Fuß Hermann, der die Stelle besonders liebte, eine Bank hatte anbringen lassen, und Rosalie willigte ein, sich hier niederzusetzen. Kaum aber hatte sie an Alfred’s Seite Platz genommen, als sie schon wieder aufsprang. „O Gott, mein Medaillon! Ich habe mein Medaillon mit Hermann’s Bild verloren!“ und ohne sich zu besinnen, eilte sie auf dem Wege zurück, welchen sie gekommen war. Er folgte ihr eben so rasch und war kaum an ihrer Seite, als er mit den Worten: „Nun sagen Sie mir, ob ich nicht eine glückliche Hand habe!“ das Medaillon aus dem Grase aufhob. Er bot es ihr hin und sie wollte einen freudigen Dank aussprechen, als Beider Augen plötzlich von einem grellen Schein geblendet wurden, während ein entsetzliches Krachen den Boden, auf welchem sie standen, zu erschüttern schien. Ein Blick genügte, um ihnen zu zeigen, daß der Blitz in den Eichbaum gefahren war, von dem sie nur wenige Schritte trennten, und ihn sowie die Bank, auf der sie noch vor einer Minute gesessen, zerschmettert hatte. Und doch konnten Beide dies Alles kaum fassen; – es war eine momentane Betäubung über sie gekommen! Alfred wußte nur, daß er Rosalien an seiner Brust hielt und daß es wie Feuer durch seine Adern strömte, und Rosalie fühlte, daß seine Arme sie fester und fester umschlangen; es war ihr, als sei in diesem Augenblick die ganze Welt versunken und nichts mehr da, als der Mann, an dessen Brust sie ruhte und zu dem sie aufblickte in seliger Entzückung.

„Ich halte Dich – Du bist gerettet!“ waren die ersten Worte, welche er hervorzubringen vermochte.

„Für immer und ewig!“ und es klang fast wie Jubel aus ihrer Stimme. „Gott hat gesprochen! Er will nicht unseren Tod, sondern unser Leben.“

„Und es ist fortan nur ein Leben möglich, Rosalie!“

„Nur eins, Alfred – wie uns auch ein Tod vereint hätte!“

Eine Weile schwiegen Beide, in seligen Gefühlen verloren.

„Wie war es möglich,“ jubelte er, „daß wir uns liebten, ohne es uns zu bekennen?“

„Frage nicht,“ entgegnete sie, „sondern danke Gott, daß er selbst uns der Erleuchtung werth hielt durch den Blitz, welcher aus seinem Himmel zu uns herniederfuhr!“

[82] Er blickte sie mit strahlenden Augen an. „Ja, ich danke Gott, daß in’s Licht getreten ist, was in unseren Herzen verborgen lag! Ich habe lange gewußt, daß ich nimmer wieder von Dir lassen könnte und daß auch Du mein warst und keines Anderen!“

Sie hatte ihn erstaunt angesehen. „Wie, Du wußtest es und – und –“ es kam ein plötzliches Erschrecken über sie: „Hermann!“ rief sie erbleichend.

„Denke jetzt nicht an ihn!“ bat er feurig. „Er kann, er darf unsere Liebe nicht hindern: ihr Recht ist stärker als das seine!“

„Aber sein Herz wird bluten, denn er hat mich sehr geliebt!“ sagte sie leise.

„Kannst Du seine Liebe mit der meinen vergleichen?“ rief er fast hastig. „Kannst Du in diesem Augenblick noch daran denken, daß ein Leben an seiner Seite möglich gewesen wäre?“

Wohl dachte sie in diesem Augenblick an seine Ruhe, seine Gelassenheit, seine liebevolle Fürsorge, die ihn stets als zärtlichen Freund hatte erscheinen lassen; – aber den Geliebten fand sie nicht mehr in Hermann: der Geliebte stand neben ihr, und sie begegnete seinen liebeglühenden und liebefordernden Blicken. Auf’s Neue warf sie sich an seine Brust und rief aus:

„Gott, der uns zusammengeführt hat, wird diese Verwirrung lösen, und zu Hermann blicke ich auf wie zu einem seiner Heiligen!“

Dennoch wollte die frühere Freudigkeit nicht mehr auf Beide zurückkehren und das Wort nicht mehr seinen Weg über die Lippen finden. Schweigend traten sie nach einer Weile den Heimweg an.

Das Gewitter schien sich mit dem einen furchtbaren Schlage entladen zu haben, denn es blitzte und donnerte nur noch schwach und auch der geringe Regen hatte ganz aufgehört. Ohne weiteres Hinderniß erreichten sie das Haus, an dessen Schwelle ihnen die Tante mit heftigen Klagen, die aber fast wie Vorwürfe klangen, entgegen kam und ihnen vorhielt, daß sie ihren Spaziergang gerade zur Zeit eines Gewitters unternommen und ihr dadurch die größte Angst bereitet hätten.

„Nun, Du siehst ja aber, liebe Tante, daß wir unbeschädigt davon gekommen sind!“ entgegnete Alfred etwas ungeduldig, während Rosalie still auf ihr Zimmer ging.

Hermann kam eine Stunde später. Er hatte das Gewitter heraufkommen sehen und bei Zeiten Schutz in dem Wirthshause eines der umliegenden Dörfer gesucht; wie sich ergab, desselben, wo Alfred und Rosalie an dem Nachmittage gewesen waren, und wahrscheinlich genau zu der Zeit, wo diese die Begegnung mit den Kirchgängern hatten. Beide blickten sich unwillkürlich bei der Erwähnung an, schwiegen aber wie auf Verabredung von dem Vorfall. Ebenso wurde der späteren Gefahr, in welcher sie geschwebt, mit keiner Silbe gedacht und Rosalie mußte es ertragen, Hermann sein freundliches Bedauern aussprechen zu hören über die Angst, welche sie wegen des Gewitters ausgestanden haben mußte, da er ja wisse, daß ihr kleines Herz bei derartigen Gelegenheiten nicht allzu muthig zu sein pflege. – Er war übrigens in einer besonders heiteren Laune zurückgekehrt, die sich beim Empfang verschiedener Postsachen gesteigert hatte, und schien es kaum zu bemerken, daß die beiden jungen Leute, sonst in der Regel die Tonangeber jeder heiteren Stimmung, heute ungewöhnlich ernst und sogar gedrückt erschienen.

Als die kleine Gesellschaft sich am Abend trennte, forderte Hermann den Bruder auf, ihn noch für eine kleine Weile in sein Zimmer zu begleiten. „Du weißt, mein lieber Junge,“ begann er hier, „daß ich im Begriff stehe, einen ganz neuen Abschnitt meines Lebens zu beginnen, und da liegt es mir denn am Herzen, vorher mit dem früheren Abrechnung zu halten und in jeder Weise mein Haus zu bestellen. Ehe ich neue Pflichten übernehme, möchte ich den alten gerecht werden und habe dabei zunächst an die erste und größte gedacht, welche mir Deine Zukunft auferlegt. Es ist Zeit, daß ich Dich aus meiner brüderlichen Obhut und persönlichen Fürsorge entlasse, denn kein Lossau soll länger als nöthig in irgend einem abhängigen Verhältniß bleiben; darum habe ich durch meinen Notar in der Residenz eine Urkunde aufsetzen lassen und heute von ihm entgegen genommen, worin Dir die Summe, welche ich Dir von jeher bestimmt hatte und deren Verwalter ich deshalb bisher nur gewesen bin, zu freier Verfügung gestellt wird. Laß sie den Grundstein zu Deiner nunmehrigen Selbstständigkeit bilden!“

Mit diesen Worten übergab er dein Bruder ein Document, worauf Alfred’s Augen erstaunt und verwirrt hafteten: es war die Schenkungsacte über ein Vermögen von zwanzigtausend Thalern! Eine dunkle Röthe flog über das Gesicht des jungen Mannes, und erschüttert von des Bruders Großmuth, warf er sich ihm in die Arme.

„Hermann, nein, es ist zu viel! Nimm Dein Geschenk zurück: ich darf – ich kann es nicht annehmen!“

Hermann lächelte. „Willst Du mich glauben machen, Alfred, daß Du nicht ein Gleiches gethan haben würdest, wenn das Schicksal Dir günstiger gewesen wäre als mir? Oder wiegt der Besitz des Geldes in Deinen Augen so schwer, daß es Dich ein Großes dünkt, wenn ich mich eines Theils desselben entäußere? Das sieht doch keinem Lossau ähnlich!“ – Und dann, aus dein halbscherzenden zu einem innigeren Ton übergehend, fuhr er fort: „Sieh, Alfred, ich bin so grenzenlos reich und glücklich, daß ich mir die Macht eines Gottes wünsche, um Sonnenschein über die ganze Welt zu breiten! Nun Rosalie mein ist, könnte ich auf Alles verzichten, was nicht eben zu ihrem Glücke gehört. Ihr Herz und Deines, Alfred – es sind meine beiden höchsten, heiligsten Güter!“

Alfred war wie vernichtet; – den Bruder, welcher so zu ihm sprach, hatte er dieser Güter berauben, einen ungeheuren Frevel an ihm begehen wollen! Alles, selbst seine Liebe zu Rosalie, trat in diesem einen Augenblick zurück vor dem Gefühl der Schuld gegen den Mann, welcher ihm stets als der reinste und beste auf der Welt erschienen war. Sein plötzliches Erbleichen fiel Hermann auf, und gütig fragte er:

„Was hast Du, Alfred? Hegst Du noch irgend ein Verlangen, einen Wunsch, den ich erfüllen könnte?“

„Vergieb mir, Hermann, vergieb mir, daß ich zum Verräther an Dir geworden bin!“ rief Alfred außer sich; „Rosalie ––“

„Um Gotteswillen, was ist mit ihr? – rede!“ entgegnete Hermann.

„Der Taumel der Leidenschaft riß mich hin – ich habe ihr von Liebe gesprochen, sie in meinen Armen gehalten!“

„Und sie?“ fragte Hermann, während seine Wangen und Lippen bleich wurden wie der Tod.

„Es war nur ein Moment, Hermann, ein Moment, in dem uns die Besinnung schwand, und ich schwöre Dir – –“

„Schwöre nicht,“ fiel Hermann strenge ein, „bis Du mir Alles gesagt hast!“

Mit kurzen Worten erzählte Alfred den Vorgang bei der Eiche und verhehlte dem Bruder nicht, daß er einen Augenblick den wahnsinnigen Glauben gehegt habe, Rosaliens Geschick sei durch eine Fügung des Himmels mit dem seinigen verbunden worden.

„Und nun?“ fragte Hermann immer noch in demselben Ton, als Alfred schwieg und düster zur Erde blickte.

Der junge Mann sah seinem Bruder fragend in die sonst so freundlichen und nun so ernsten Augen.

„Glaubst Du noch,“ fuhr dieser fast schneidend fort, „daß der Himmel Dich und Rosalie für einander bestimmt hat, daß es meine Pflicht ist, dieser höheren Fügung zu weichen?“

„Hermann, es ist keine Buße hart genug, um meine Schuld zu sühnen! Was auch das Gefühl meines Herzens sein möge: ich will es ersticken!“

„Und sie? und Rosalie?“ fragte Hermann, und es lag jetzt eine unendliche Trauer in seinem Ton.

„Sie wird und muß ihren Irrthum erkennen, und ich selbst will ihr dazu verhelfen. Es ist unmöglich, daß sie länger als einen Augenblick mich dem besseren Manne vorgezogen habe!“

Hermann antwortete hierauf nicht sogleich. Er ging einige Male schweigend durch das Zimmer, dann trat er wieder auf den Bruder zu. „Ich glaubte,“ sagte er, „Rosaliens Schicksal in meiner Hand zu halten, sie vor dem Erwachen des Dämons in ihrer Brust, der Leidenschaft, schützen zu können – nun muß ich versuchen, ihr im Kampf mit eben dieser Leidenschaft beizustehen, und Gott gebe, daß es damit nicht zu spät ist! – Dich aber frage ich: wie willst Du Rosalien begegnen?“

„Ich werde sie nicht wiedersehen!“ entgegnete Alfred rasch. „Dies Eine wäre zu schwer für mich – vielleicht für uns Beide!“ setzte er leiser hinzu. „Morgen in der Frühe verlasse ich Lossau und gehe nach der Residenz. Die nothwendige Fortsetzung meiner Studien und die Vorbereitung zu meinem Staatsexamen werden leicht eine genügende Erklärung abgeben.“

Hermann dachte einige Augenblicke nach. „Es sei so!“ sagte er dann. „Vielleicht ist Alles anders, wenn wir uns wiedersehen. Ich sage noch nicht, daß ich Dir verziehen habe, aber sei von dieser Stunde an ein Mann – und Du sollst den Bruder in mir [83] wiederfinden. Und nun lebe wohl, Alfred!“ schloß er, indem er dem Bruder die Hand reichte.

„Lebe wohl!“ war Alles, was Alfred noch sagen konnte; dann schritt er der Thür zu. An der Schwelle blickte er noch einmal zurück, und als er sah, daß des Bruders Augen fest auf ihn gerichtet waren, kehrte er um und warf sich ihm in die Arme; doch ward kein weiteres Wort mehr zwischen ihnen geredet.

„In der Frühe des nächsten Morgens reiste Alfred ab, nachdem er dem Diener ein Billet an Rosalie eingehändigt halte, das dieser bei ihrem Erwachen übergeben werden sollte. Es enthielt nur die wenigen Worte: „Wir dürfen uns nicht wiedersehen, Rosalie! Unsere Liebe war Sünde, Sünde gegen den edelsten der Menschen. Seine Verzeihung allein kann uns von unserer Schuld lösen. Kehre zu ihm zurück und mich – vergiß! Vielleicht hilft Gott auch mir – zu vergessen. Alfred.“

Rosalie schlief zu der Zeit, wo die Brüder miteinander sprachen, ruhig und ihre Seele wiegte sich in den lieblichsten Träumen, deren Mittelpunkt immer Alfred war, wie er mit ihr scherzte und plauderte, wie er sie aus einer ungeheuren Gefahr errettete, und selbst im Schlaf berauschte sie sich an den Worten der Liebe, die er zu ihr gesprochen hatte. Es störte sie nicht, daß über ihr die Schritte eines Mannes, den der Schlaf floh, rastlos hin- und herwanderten, daß das Herz dieses Mannes traurig und sorgenvoll war wie nie in seinem Leben und daß sie es war, welche dies treue Herz betrübt hatte bis in den Tod. Und doch dachte er mit unsäglicher Liebe an sie, und sein Gebet in dieser Nacht war: „Mein Gott, laß sie nicht unglücklich werden!“ Immer und immer wieder dachte er es durch, wie Alles kommen und werden müsse, und blieb stets bei dem Gedanken stehen: „Und wenn ich mich selbst zum Opfer bringen wollte – es wäre nicht zu ihrem Glücke! Alfred steht ihr nicht gleich, wenn ihre Natur in ihrer vollen Stärke erwacht. Es könnte die Vernichtung Beider werden!“

Es blieb ihm noch eine schwere Aufgabe: mit Rosalie zu sprechen, aus ihrem eigenen Munde zu hören, daß er ihre Liebe – und vielleicht für immer! – verloren habe, sich Klarheit über ihren ganzen Seelenzustand zu verschaffen, denn so weh sie ihm auch gethan hatte – er fühlte doch, daß sie in diesem Augenblick eines Freundes bedurfte und daß sie keinen anderen hatte als ihn. –

Als er sich am nächsten Morgen zu der schmerzlichen Unterredung nach ihrem Zimmer begab, öffnete sich plötzlich die Thür desselben vor ihm und Rosalie erschien auf der Schwelle, einen offenen Brief in der Hand. Sie war todtenbleich und ihre Augen funkelten in furchtbarer Aufregung.

„Wo ist Alfred?“ rief sie Hermann entgegen.

„Er ist vor zwei Stunden abgereist,“ entgegnete er ruhig.

„Und kehrt nicht wieder?“

„So lange sein oder eines Anderen Seelenfrieden dadurch gestört wird, nicht wieder, Rosalie!“

Sie sah ihn an, als könne sie seine Worte noch nicht fassen, nicht an das glauben, was geschehen war. Er näherte sich ihr und suchte ihre Hand zu fassen.

„Wenn diese Stunde Dir Schmerzen bringen wird, Rosalie, wenn ich es bin, der sie hervorruft, so denke daran, daß ich trotzdem Dein treuester Freund bin und daß ich als ein solcher gekommen bin, um mit Dir zu reden.“

„Sie sah ihn immer noch an, als verstände sie ihn nicht. „Sag’ mir,“ frug sie dann, „ist Alfred fort, um - um meinetwillen?“

„Ja, Rosalie, um Deinetwillen ist er gegangen!“

„Und Du – Du hast ihn von hier getrieben, Hermann?“

„Nein, Rosalie,“ entgegnete er fest, aber immer noch mit mildem Ton. „Er hat mir freiwillig Alles gestanden, was zwischen Euch vorgefallen ist, und was Ihr mir auch gethan habt, nicht mein Zorn, sondern sein eigenes Gewissen, sein wiedererwachtes Ehr- und Mannesgefühl wiesen ihm den Weg, den er gegangen ist.“

Er wollte ihr zur Einleitung einer weiteren versöhnenden Rede die Hand bieten, doch sie stieß dieselbe zurück und es lag etwas wie ein schneidender Hohn in dem Tone, mit welchem sie die Worte hervorstieß:

„O, über sein Gewissen!“

Dann schlug sie beide Hände vor’s Gesicht, während ihr ganzer Körper zuckte wie in einem furchtbaren Krampf.

„Ich weiß, Rosalie, Du liebst Alfred,“ sagte Hermann nach einer kleinen Weile sanft.

Sie ließ plötzlich die Hände von, Gesicht fallen, das bisher marmorbleich gewesen und nun mit einer flammenden Röthe bedeckt war, und rief:

„Ihn lieben?! Nein, Hermann, ich schwöre Dir, daß ich ihn hasse, ihn hasse bis in den Tod, denn er ist ein Feiger und ein Verräther!“

„Rosalie!“ rief Hermann entsetzt über ihre wilde Heftigkeit, entsetzt, daß aus dem halbschüchternen Kinde plötzlich ein leidenschaftliches Weib geworden war.

Sie achtete nicht auf ihn. „Sünde,“ fuhr sie fort, „Sünde nannte er unsere Liebe? Gottes Werk, seine Offenbarung war sie und er wagt es, sie zu schmähen und zu verrathen! Ein Spielzeug war sie ihm, zum Spielzeug hat er mich selbst erniedrigt! O Gott, strafe ihn – strafe ihn, daß er mein Herz zertreten hat, und laß deinen Fluch über ihn kommen!“

„Rosalie, hör’ auf, Du sprichst im Wahnsinn!“ rief Hermann mit starker Stimme.

Sie wandle sich langsam nach ihm um: „Im Wahnsinn? Ja, Hermann, Du hast Recht, es muß Wahnsinn sein, was mich gefaßt hat, denn nichts ist mehr wie es war, ich selbst bin eine Andere geworden und die ganze Welt ist mir versunken in dieser Stunde.“ Düster blickte sie vor sich hin.

„Fasse Dich, Rosalie,“ bat Hermann erschüttert. „Ein starkes Herz darf nicht verzweifeln! Du wirst zu Dir kommen, den rechten Weg erkennen und auch Alfred milder beurtheilen “

„Nie, nie! rief sie, in ihre frühere Aufregung zurückfallend; „was hier brennt, brennt ewig! Und glaubst auch Du, Hermann, daß unsere Liebe Sünde war? So sage ich Dir: er erst hat sie dazu gemacht, als er mich verrathen und verlassen hat! Als Gott sie in unserer Brust erschuf, war sie rein und stark, und frei hätte ich sie bekannt und mein Recht von Dir gefordert, mich ihm geben zu dürfen; denn, Hermann, nicht ich hatte mich Dir genommen: das Schicksal, Gott selbst hatte es gethan, und Du hättest mich nicht gehalten, sondern meiner Liebe Deinen Segen gegeben und wir wären dennoch vereint geblieben, denn Du bist großmüthig und besser als irgend ein Mensch auf Erden. Nun aber müssen auch wir uns scheiden – Dein Weib kann ich nicht werden, Hermann!“

Ein unsäglicher Schmerz legte sich bleich und bleiern auf sein Gesicht und klang aus seinem Worte: „Ich weiß es, Rosalie!“

Sie war auf die Kniee gesunken und drückte ihr Gesicht auf das Kissen eines Stuhls. Nach einer Weile trat er zu ihr und legte seine Hand sanft auf ihr Haupt. „Rosalie,“ sagte er mild, „willst Du mein Kind sein und als solches bei mir bleiben, daß ich Dich behüte und beschirme? Ich schwöre Dir, es soll kein Wort, kein Zeichen Dich daran mahnen, daß es einst anders zwischen uns gewesen ist, es soll Alles ausgethan und vergessen sein!“

Sie schüttelte das Haupt: „Das ist unmöglich für alle Zeit – ich kann nicht vergessen, Niemand kann es!“

„Aber vergeben können wir Alle, Rosalie!“ sagte er ernst.

Sie fuhr sich mit der Hand über die Stirn: „Ich habe Dir Kummer gemacht, Hermann, ich weiß es, und ich wollte Gott danken, wenn er das Gefühl von meiner Seele nehmen könnte. Es ist mir auch, als müsse ich es Dir einst abbitten unter tausend Thränen, aber jetzt – habe Geduld mit mir, Hermann! – jetzt begreife ich noch nicht meine Schuld und fühle nur, daß es die Hand des Schicksals war, welche uns schlug, und daß er - er mich unendlich elend gemacht hat.“

Es war allmählich eine Art von Erschöpfung über sie gekommen und seine ruhige Zusprache begegnete nicht mehr den früheren leidenschaftlichen Ausbrüchen, sondern einer gewissen Starrheit, die nicht recht erkennen ließ, welchen Eindruck sie auf ihr Gemüth machte. Nur dabei blieb sie, daß sie fort von hier müsse, einerlei wohin, nur fort! Und auch als er sie einige Stunden lang sich selbst überlasten halte, indem er viel von der wohlthätigen Wirkung der Ruhe hoffte, beharrte sie bei dieser Erklärung, und das leidenschaftliche Weib verfiel wieder in die fast rührende Hülflosigkeit eines Kindes, als sie ihn bat, sich ihrer anzunehmen und ihr irgend ein Asyl zu bereiten. Es blieb ihm nichts Anderes übrig, als sich ihrer Bitte zu fügen. Er wandte sich an eine ihm bekannt gewordene Dame, die in einer nicht sehr entfernten größeren [84] Stadt wohnte und deren Persönlichkeit ihm zu dein Zweck geeignet schien, mit der Bitte, Rosalie eine Zeit lang bei sich aufzunehmen, bis sich ihre Gesundheit, die durch heftige Gemüthsbewegungen erschüttert sei, gekräftigt habe. Die Antwort fiel zustimmend aus, und schon nach wenigen Tagen konnte Rosalie nach dem Orte ihrer vorläufigen Bestimmung abreisen.

Krank und gebrochen verließ sie Lossau, wie Hermann denn in der That nichts Unwahres berichtet hatte, als er von ihrem physischen Zustande schrieb; derselbe machte es ihr bis zu ihrer Abreise fast unmöglich, ihr Zimmer zu verlassen, so daß auch Hermann sie nach jener Unterredung kaum wiedergesehen hatte. Seine Pflege wies sie zurück und noch entschiedener die der Tante, welcher Hermann im Allgemeinen von den trüben Ereignissen so viel mitgetheilt hatte, wie er für nöthig hielt, um sich und Rosalie vor neugierigen und peinigenden Fragen zu schützen.

Ihr letztes Lebewohl sagte sie ihm schriftlich und bat ihn zugleich, sich und ihr die Qual einer nochmaligen Begegnung zu ersparen. Er ehrte ihre Bitte, und als der Wagen sie davon trug, bemerkte sie nicht, daß oben im Hause ein Mann im Fenster stand, halbverdeckt von den Vorhängen, der ihr mit trüben Blicken nachschaute. „Sie war das Licht meines Lebens,“ murmelte er, als er sie nicht mehr sah und das Geräusch der forteilenden Räder verhallt war.

Als sie auf dem Wege, der durch das Wäldchen führte, an der Stelle vorbeikam, wo der Blitz vor wenigen Tagen die Eiche getroffen hatte, lehnte sie sich aus dem Wagen hinaus, um nach den Trümmern zu sehen, die noch nicht fortgeräumt waren – dann richteten sich ihre düstern Augen gen Himmel – aber es war nicht zu unterscheiden, ob es ein Gebet um Vergebung oder um Rache war, das sie hinaufsandte.

In dem Cursaale von H. herrschte das gewohnte bunte Leben und Treiben. Es war hier wie auf einer Weltbühne, wo sich jedes Alter und jedes Geschlecht zusammen fand; die elegantesten und die abenteuerlichsten Gestalten drängten sich durcheinander und das Gewirr der Stimmen verrieth, daß hier jede europäische Nation vertreten war. Die stets wechselnden Gruppen, die modernen Toiletten, welche wiederum zu der glänzenden Decoration der Säle paßten, bildeten ein anziehendes Schauspiel für den Beobachter, doch interessanter noch war es, in dem Saale, wo die Bank aufgestellt war, die verschiedenen Physiognomien zu betrachten, die Wirkung des Spiels auf die Einzelnen zu studiren und dabei alle Stadien der Leidenschaft kennen zu lernen. Auch ein paar Officiere, die auf einem der Seitendivans Platz genommen hatten, schienen diese Art von Unterhaltung der Betheiligung an dem Spiel selbst vorzuziehen, denn sie hatten schon eine geraume Weile ihre Beobachtungen gemacht und sich einander mitgetheilt, wobei der eine von ihnen, welcher offenbar schon länger hier gewesen und mit den verschiedenen Persönlichkeiten vertrauter war, in der Regel den Erklärer machte.

„Ah, die schöne Spanierin,“ sagte er in diesem Augenblick, als eine Dame, begleitet von einer älteren, die ihre Gesellschafterin sein mochte, in den Saal trat und auf die Bank zuschritt. Sie war in der That von auffallender Schönheit und einer Haltung, die trotz ihrer augenscheinlichen Jugend – sie mochte etwa dreiundzwanzig Jahre alt sein – etwas Imponirendes hatte. Dabei war sie außerordentlich reich und zugleich geschmackvoll gekleidet, so daß sie in jeder Beziehung selbst an diesem Ort noch Aufsehen erregte. Sie selbst schien dies kaum zu beachten, denn ruhig und stolz nahm sie es an, daß sich der Kreis der um die Bank gedrängten Zuschauer vor ihr theilte, worauf sie selbst näher herantrat und gleich darauf zu Pointiren begann.

Die beiden Officiere waren ihren Bewegungen gespannt gefolgt, und jetzt wandte sich wieder der, welcher sie kannte, zu seinem Gefährten und sagte:

„Ist es nicht ein herrliches Weib?“

„Wahrhaftig, ich habe nie eine stolzere Schönheit gesehen! Diese Haltung – eine Königin könnte von ihr lernen! Und Spanien, sagst Du, ist so glücklich, ihr Vaterland zu heißen?“

„Man sagt, daß sie dorther stammt!“

„Ihr Name?“

„Sie heißt – warte einen Augenblick! nein, der Name will mir nicht beifallen. Ich weiß aber, daß ihr Mann ein deutscher Baron ist.“

„Vermählt? O Jammer und Elend! Man könnte toll werden vor Neid gegen den glücklichen Sterblichen!“

„Hm,“ lachte der Andere, „das Tollwerden möchte Dir der vielleicht schenken. Eine Musterehe soll er gerade nicht mit ihr führen.“

„Mit dem Götterweibe? Dann ist er ein Vandale! Aber wahrscheinlich verleumdet hier die Welt wieder einmal …“

Der Gefährte zuckte die Achseln. „Thatsache ist mindestens,“ fuhr er fort, „daß er in Paris lebt und sie sich einstweilen hier aufhält, ohne dem Anschein nach eine Cur zu gebrauchen, wie man denn davon spricht, daß die Trennung keine temporäre bleiben soll. Man sieht sie täglich an dem grünen Tisch. Sieh nur, mit welchem Anstand sie die Karten besetzt, mit welcher großartigen Ruhe sie dem Croupier ihre Verluste hinschiebt! Kein Zug des Gesichts verräth irgend einen Unmuth, keine Muskel zuckt – man sollte glauben, es handelte sich um Rechenpfennige. Ist denn gar kein Blut, keine Leidenschaft in dieser schönen Gestalt?“

[97] Die Aufmerksamkeit der beiden Officiere wurde in diesem Augenblick durch einen Neueintretenden in Anspruch genommen, und nachdem sie eine Secunde flüchtig hingeschaut, sprangen Beide gleichzeitig auf, um ihn zu begrüßen.

„Tausend Mal willkommen, Lossau! Sie hier in H.? Zur Cur oder zum Vergnügen?“

„Eigentlich weder um des einen noch um der andern willen, insofern ich es auf keinen längeren Aufenthalt abgesehen habe, sondern nur auf der Durchreise hier bin,“ entgegnete der Angeredete, indem er den beiden ihm aus der Residenz bekannten Herren herzlich die Hände schüttelte. „Ich habe meinen Bruder besucht, um ihm selbst die Nachricht von meiner Verlobung zu bringen.“

„Ah, Sie sind verlobt, Lossau? So hat das Gerücht Recht, welches Ihnen eine Neigung für die schöne und liebenswürdige Helene von Wernitz zuschrieb?“

„Sie ist seit acht Tagen meine Braut!“ erwiderte Lossau mit freudigem Stolz.

Die Herren statteten ihre Glückwünsche ab, und es entspann sich dann noch eine kurze Unterhaltung, in welcher festgestellt wurde, daß man den heutigen Tag, den einzigen, welchen Alfred zu seinem Aufenthalt bestimmt hatte, gemeinschaftlich verleben wollte.

„Ehe ich aber den Saal verlasse, müssen Sie mir schon erlauben, etwas zu thun, was ich freilich nicht vor meinen besseren Gefühlen verantworten kann, was mich indessen mit unwiderstehlicher Gewalt lockt: mein Glück einmal am grünen Tisch zu versuchen!“

„Hüten Sie sich, Lossau, Sie rufen Ihren Dämon auf!“ sagte der ältere der beiden Officiere, halb lachend, halb im Ton ernstgemeinter Warnung. Aber Alfred achtete nicht auf ihn und stand im nächsten Augenblick an der Bank, wohin die beiden Officiere ihm folgten, deren Blicke sich hier unwillkürlich nach der schönen Spanierin umsahen, welche sie während des Gesprächs mit Alfred vergessen hatten. Sie war aus dem Saale verschwunden.

Das Spiel nahm seinen Anfang. Alfred setzte ein Goldstück auf eine Karte; die Karte verlor. Er verdoppelte seinen Einsatz und verlor wieder. Unmuthig wollte er dem Glück trotzen und spielte höher und höher – immer mit demselben Erfolg. Sein Gesicht wurde blässer, sein Auge glühender, und als das Spiel beginnen sollte, schüttete er den ganzen Inhalt seiner Börse auf den Tisch.

„Ich setze auf dieselbe Karte mit Ihnen und dieselbe Summe!“ sagte in diesem Augenblicke eine tiefe, klingende Frauenstimme neben ihm, und als er sich umwandte, sah er die Dame an seiner Seite, welche der Officier vorhin als ‚die schöne Spanierin‘ bezeichnet hatte. Es streifte ihn indessen nur ein flüchtiger, wie es schien, gleichgültiger Blick aus ihren dunkeln Augen, der es ungewiß ließ, ob sie ihn kannte. Er dagegen hatte sie erkannt und starrte sie einen Moment betroffen, fast geistesabwesend an, so daß er auf den Fortgang des Spiels nicht achtete und erst wieder daran erinnert ward, als sich Laute der Ueberraschung von den Umstehenden hören ließen und ihm ein großer Haufen Gold zugeschoben wurde. Die Karte hatte gewonnen.

„Noch einmal, setzen Sie noch einmal!“ sagte sie ruhig, und doch kam es Alfred vor, als läge etwas Gebietendes in ihrer Stimme. Fast mechanisch that er, was sie verlangte, und konnte es nicht hindern, daß sie wie zuvor auf seine Karte setzte. Der Erfolg war wie das erste Mal, das Glück dem gemeinschaftlichen Spiel günstig.

„Und nun zum dritten Mal!“ rief die Fremde, welche ihm so nahe getreten war, daß nur er die Worte verstand, die sie halbflüsternd hinzusetzte: „Ich fühl’s, ich habe Glück, wenn ich mit Ihnen spiele!“

Sein Trotz erwachte; er wollte ihre Herausforderung, ihre Siegesgewißheit zu Schanden machen und setzte rasch auf’s Neue, mit dem geradezu brennenden Verlangen, diesmal zu verlieren, denn es war ihm, als würde er damit einen Bann brechen, mit dem sie seinem Schicksal drohte. Es war vergebens – das Glück blieb eigensinnig bei seinen Erwählten und das Spiel endigte mit einem neuen bedeutenden Gewinn für die beiden Partner.

Auf dem Gesicht der Fremden hatte der Ausgang des Spiels durchaus keine Veränderung hervorgerufen, nur glaubte Alfred zu fühlen, daß ihr Blick blitzartig und mit einem triumphirenden Lächeln auf ihn gefallen war; sie anzusehen hatte er nicht gewagt. Nachdem ihr der ihr zugefallene Antheil des Gewinns ausgezahlt worden war, winkte sie ihrer Begleiterin und verließ mit ihr den Saal; auch Alfred kam es nicht mehr in den Sinn, das Spiel fortzusetzen.

Die Freunde traten zu ihm und beglückwünschten ihn über seinen Erfolg. „Und dreifach wegen der Art, wie das Glück Sie heimsuchte,“ sagte der jüngere der beiden Herren. „Teufel, Lossau, welches Verdienst haben Sie vor den unsterblichen Göttern, daß sie Ihnen ihren Segen aus solchen Händen zuströmen ließen? [98] Denn daß Ihnen die Spanierin das Glück brachte, ist sicher! Allerdings kam sie mir in dem Moment, wo sie auf Ihre Karte setzte, eher vor wie ein Dämon denn wie ein Engel, aber schön war sie dennoch zum Rasendwerden!“

Alfred suchte sich durch einen Scherz mit den Gefährten abzufinden, von denen er sich am liebsten ganz losgesagt hätte. Es war ihm unerträglich, noch länger in H. zu bleiben, wo jeder Schritt ihm die Fremde noch einmal entgegenführen konnte, aber er sah sich trotzdem gezwungen, der Verabredung gemäß bis zum folgenden Tage zu verweilen und seine innere Beklommenheit, so gut es ging, durch ein heiteres Gesicht und eine leichte Unterhaltung zu verbergen. Die Spanierin sah er indessen nicht wieder, denn sie erschien an dem Tage weder auf der Promenade, noch Abends im Cursaal, und Alfred fühlte daher sein Herz wieder erleichtert, als er am folgenden Morgen H. verließ.

Wenige Tage später hieß es, auch die Fremde sei abgereist, doch vermochte Niemand zu sagen, wohin sie sich gewandt habe.

Die flüchtige Begegnung mit der schönen Frau, in welcher Alfred die wieder erkennen mußte, für welche sein Herz einst leidenschaftlich geglüht und die er dann verlassen hatte, weil er es seiner Ehre und der Pflicht gegen seinen Bruder schuldig zu sein glaubte, hatte ihn zwar anfangs fast tödtlich erschreckt, aber bei seiner leichtlebigen Natur hatte er den Eindruck rasch überwunden, und wie jenes Gefühl seit Jahren aus seiner Brust gewichen war, so hatte ihm die unerwartete Erscheinung fast nur die Erinnerung eines bösen, unheimlichen Traumes hinterlassen. Um derartigen Erinnerungen und Empfindungen aber großen Einfluß auf sich zu gestatten, dazu gehörte er viel zu sehr dem Leben an und einem Leben, das durch seine kürzlich geschlossene Verlobung ein doppelt heiteres für ihn geworden war. Sein ausgezeichnet heller Kopf, seine besonderen Fähigkeiten hatten ihm früh eine glänzende Carriere eröffnet und die von Allen anerkannte Liebenswürdigkeit seines Wesens, seine gewandten Formen nicht wenig dazu beigetragen, seine Stellung nach allen Seiten hin zu befestigen, so daß seine Freunde ihn scherzend einen Liebling des Glücks zu nennen pflegten, dem namentlich kein weibliches Herz zu widerstehen vermöge.

Der ältere Lossau, welcher sich längst mit dem Bruder ausgesöhnt und es ihn nicht hatte entgelten lassen, daß sein eigenes Lebensglück an ihm gescheitert war, hatte zu diesem gefährlichen Ruhm oft den Kopf geschüttelt und als besorgter, väterlicher Freund über die in dieser Beziehung etwas leichten Grundsätze Alfred’s nicht selten einen ernsten, sogar strengen Tadel ausgesprochen. Doch auch er mußte sich sagen, daß er ihn nicht zu bessern vermöge, und sein Wort war: „Nur eine wahre, tiefe Liebe vermag ihn zu heilen, und Gott gebe, daß er bald einen würdigen Gegenstand für dieselbe finde!“ Groß war daher seine Freude, als Alfred, welcher kürzlich zum Legationsrath ernannt worden war, ihm mittheilte, daß er von der Neigung zu einem jungen Mädchen, das einer angesehenen Familie angehörte und das auch Hermann als schön und edel kannte, besiegt worden sei und von ihr das Geständniß der Gegenliebe erlangt habe. „Es ist dies einer der schönsten Tage meines Lebens!“ rief er aus, als er den Bruder glückwünschend in die Arme schloß. „Will’s Gott, sehe ich jetzt ein neues Glück und ein neues Geschlecht um mich her aufblühen und weiß dann auch, wofür ich selbst gewirkt, geschafft und gearbeitet habe!“ Dann verhieß er, in wenigen Wochen nach der Residenz zu kommen, um die Braut Alfred’s näher kennen zu lernen und sich ihr selbst als Bruder vorzustellen.

Ein Auftrag, den er dem jüngeren Bruder an seinen Bankier in der Residenz mitgegeben, führte Alfred etwa vierzehn Tage nach seiner Rückkehr zu diesem, und da die Herren sich außerdem kannten, so verweilten sie noch einige Zeit in freundschaftlichem Gespräch in des Bankiers Arbeitszimmer. Da hörte der Erstere plötzlich außen auf dem Corridor eine ihm wohlbekannte, volle und tiefe Stimme an einen Diener die Frage nach dem Bankier Melsing richten, und ehe er sich noch von seiner Ueberraschung erholen konnte, wurde von diesem die Thür geöffnet und Rosalie trat ein.

Der Bankier, welcher sie schon kannte, empfing sie mit der größten Artigkeit, und nachdem er sie zu einem Sitz geleitet hatte, stellte er Alfred der Dame vor, indem er diese zugleich als Frau Baronin von Brinkhorst bezeichnete. Ohne ihm Zeit zu einer Anrede zu lassen, sagte sie:

„Wir haben uns schon gesehen! Erst vor Kurzem – bei einer flüchtigen Begegnung in H. Herr von Lossau wird sich vielleicht erinnern.“

Der Ton, mit welchem sie sprach, war so vollkommen ruhig und gleichgültig, ihre Haltung, ihre Miene so durchaus kalt und unbewegt, daß Alfred nicht wußte, ob das unangenehme Gefühl über die Verleugnung jeder Empfindung stärker in ihm war, oder die Bewunderung der Weltdame, welche sich und ihn über das Peinliche des Wiedersehens mit einer solchen Sicherheit hinwegzuhelfen wußte. Sie ließ ihm auch kaum Zeit, ihr anders als durch eine Verbeugung zu antworten, und wandte sich sofort an Melsing, der von ihr mit der Führung eines Geschäfts beauftragt war und ihr darüber eine Auskunft zu geben hatte, welche ihn nöthigte, einige Papiere herbeizuholen.

Alfred war schon im Begriff, dem unwillkommenen Zusammentreffen zu entfliehen, als der Bankier sich mit den Worten an ihn wandte:

„Ich darf wohl die Bitte wagen, lieber Lossau, daß Sie der Frau Baronin bis zu meiner Rückkehr, die nur wenige Minuten kosten wird, Gesellschaft leisten!“ und er sah sich zu der Erklärung gezwungen, daß ihm dies ein besonderes Vergnügen gewähren würde.

Kaum hatte der Bankier Beide verlassen, so sagte Rosalie:

„Es ist mir lieb, daß ich einen Augenblick mit Ihnen allein bin, denn ich habe über eine Angelegenheit mit Ihnen zu sprechen, welche zu den Veranlassungen meines Hierseins gehört und zu deren Erledigung mir trotz der bereits achttägigen Dauer desselben die Gelegenheit fehlte.“

Sie sprach dies mit der unveränderten Gelassenheit, welche sie bei ihrer ersten Anrede zur Schau getragen hatte und die ihm das Blut zum Kochen brachte. Hatte er je mit dem Gefühl der Schuld an diese Frau gedacht, so war dasselbe in diesem Augenblick ausgelöscht und sein Gedanke nur, daß um ihretwillen der Bruder ein einsames, freudloses Leben führte; den Antheil, welchen er selbst daran hatte, meinte er durch seine Reue gebüßt zu haben, dies Weib aber darum hassen zu dürfen! Er nahm sich vor, ihr eine eben so feste, kalte Stirn zu bieten, wie die, mit der sie ihm entgegen trat, und es klang daher nichts als eisige Höflichkeit aus seiner Erwiderung:

„Ich stehe zu Ihren Befehlen, gnädige Frau!“

„Sie erinnern sich gewiß noch,“ fuhr sie fort, „daß wir Beide einst, halb von menschlichem Mitgefühl bewegt, halb einer romantischen Grille folgend, Pathenstelle bei einem armen Kinde übernahmen und für sein ferneres Schicksal zu sorgen versprachen. Die Romantik ist nun allerdings längst verflogen,“ setzte sie mit einem eigenen Lächeln hinzu, „aber da ich nie vergesse, was ich einmal versprochen habe, möchte ich jetzt nachholen, was mich die Verhältnisse bisher zu unterlassen zwangen. Ich habe den Plan, jenes Kind als das meinige anzunehmen und zu erziehen, sofern die Familie dazu ihre Einwilligung giebt. Da ich aber Niemandes Rechte zu beeinträchtigen gedenke, sollte ich, bevor ich weitere Schritte thue, wissen, ob Sie selbst, der Sie in dem gleichen Verhältniß zu dem Kinde stehen, mir entgegen treten würden, wenn ich meine Absicht zur Ausführung brächte.“

„Es kann mir nicht in den Sinn kommen, Ihnen dabei in irgend einer Weise hinderlich sein zu wollen!“ entgegnete Alfred, der etwas Anderes aus dem Munde der schönen Frau erwartet haben mochte.

„Ich danke Ihnen,“ sagte sie einfach, „und da dies abgemacht ist, darf ich Sie vielleicht auch um die Namen der Familie und ihres Wohnortes bitten, da ich beide entweder nicht gehört oder wieder vergessen habe und in Verlegenheit bin, wie ich sie erfahren soll.“

Auch diese Bitte war so einfach, daß Alfred bedauerte, ihr darüber nicht gleich Auskunft geben zu können, da er selbst seit Jahren weder an das Kind, noch an den ganzen Vorfall gedacht hatte, doch trieb ihn die natürliche Höflichkeit unwillkürlich zu der Bemerkung, daß es ihm leicht sein würde, durch eine Nachfrage an entsprechender Stelle das Gewünschte in Erfahrung zu bringen.

„Sie werden mich durch dieselbe verpflichten,“ entgegnete sie. „Nur bitte ich, dabei nichts von meinem Vorhaben zu erwähnen, da ich die einleitenden Schritte selbst thun möchte. Sobald Sie die erforderliche Auskunft erhalten haben, bitte ich Sie, nur dieselbe [99] mitzutheilen, wenn Sie nicht etwa vorziehen sollten, sie mir durch meinen gegenwärtigen Geschäftsführer, den Advocaten C., zukommen zu lassen.“

Es war Alfred fast, als spräche sie die letzten Worte mit einem gewissen Hohn, als erwarte sie, daß er nicht wagen würde, sich ihr persönlich wieder zu nähern, und dadurch gereizt entgegnete er rasch:

„Sie dürfen nicht zweifeln, gnädige Frau, daß ich Ihnen die Mittheilung selbst machen werde, sobald ich erst etwas Gewisses erfahren habe!“

In demselben Augenblick trat der Bankier wieder in’s Zimmer, gerade früh genug, um noch die letzten Worte des Gesprächs verstanden zu haben, das Rosalie nun abbrach, indem sie sich rasch wieder an Melsing wandte, noch Einiges mit ihm besprach, was auf ihr Geschäft Bezug hatte, und sich dann mit einer Verbeugung den beiden Herren empfahl.

„Nun, Lossau,“ sagte der Bankier lachend, nachdem er seinen schönen Gast artig zum Wagen geleitet hatte und zu Alfred zurückkehrte, „was ich von Ihnen sagen soll, weiß ich nicht! Kaum laß ich Sie fünf Minuten allein, so theilen Sie schon ein Geheimniß mit der schönen Frau! Wenn das Ihre Braut erführe!“

Alfred fühlte sich unangenehm berührt. Er öffnete bereits den Mund zu einer Erklärung, besann sich aber, daß er nicht berechtigt sei, über Rosaliens Angelegenheiten zu reden, und daß sie selbst ihm gewissermaßen Schweigen auferlegt hatte, daher suchte er sich mit irgend einem Scherz zu helfen, der aber nicht recht unbefangen lauten wollte und nur ein Lächeln auf dem Gesicht des Bankiers hervorrief, welches nicht diesem Scherze selbst galt.

Das Gefühl der Verstimmung wurde noch stärker in Alfred, als er sich späterhin des Versprechens erinnerte, das er der Baronin gegeben hatte, einen Schritt in ihrer Angelegenheit zu thun, aber obwohl er jetzt seine Uebereilung bereute, fühlte er sich doch an sein Wort gebunden, und um nur so schnell wie möglich jede weitere Beziehung zu ihr abbrechen zu können, schrieb er noch am nämlichen Tage jenem Pfarrer, welcher das Kind damals getauft hatte, und bat ihn um die von Rosalie gewünschte Auskunft, wobei er nicht verschwieg, daß es sich um das besondere Interesse der Kleinen handle. Die Antwort traf auch in kürzester Zeit ein und erhielt den nöthigen Nachweis, zugleich aber auch die Mittheilung, daß das kleine Röschen, welches zu einem ungewöhnlich reizenden Kinde herangeblüht gewesen, vor einigen Tagen an einer plötzlichen Krankheit gestorben sei.

Alfred begab sich mit dieser Kunde unverzüglich nach dem Hotel, wo Rosalie wohnte und eine Reihe eleganter Zimmer für sie eingerichtet war. Er wurde in eins derselben geführt und gebeten, auf die Baronin zu warten, die man benachrichtigen wolle. Schon beim Eintreten wußte er, daß sie im Nebenzimmer sei, denn es drang Gesang zu ihm herüber – und er kannte die Stimme. Daß es ein spanisches Lied war, was sie sang, dasselbe, welches sie ihm einstmals so oft vorgesungen hatte, war vielleicht ein Zufall, aber er mußte bei dem Liede an ein junges, schönes Mädchen denken, mit dunklen Locken und feurigen, doch unendlich sanft und träumerisch blickenden Augen; er sah es vor sich im Kahn sitzen, den er auf dem kleinen Lossauer See ruderte, während dieselben weichen, vollen Töne über ihre Lippen drangen, die er jetzt hörte, – und er mußte zugleich daran denken, daß er sich oft gefragt, ob es etwas Schöneres und Lieblicheres auf der Welt geben könne, als sie. In diesem Augenblick verstummte der Gesang; Rosalie mußte die Meldung seiner Anwesenheit erhalten haben.

In der nächsten Minute hob eine Hand die schweren Vorhänge, welche den Eingang in das Nebenzimmer verhüllten, und die prächtige Gestalt der Baronin erschien auf der Schwelle. Wie aus einem Traum erwachend, blickte Alfred ihr entgegen: das war nicht das junge, liebeglühende Geschöpf, das er einst – und er fühlte es wieder, mit welcher Gluth! – in seinen Armen gehalten – dies war eine Juno, mächtig und von imponirender Schönheit, aber ohne Herz und ohne Empfindung, für die Liebe eines Mannes nicht geschaffen.

Sie begrüßte ihn mit einer leichten Neigung des Hauptes, ohne daß ihre Züge die geringste Ueberraschung oder sonstige Erregung verrathen hätten, und lud ihn dann durch eine Handbewegung zum Setzen ein. Er sagte, daß er gekommen sei, um ihr das Resultat seiner Nachfrage mitzutheilen, das aber leider kein erfreuliches sei, denn wenn er jetzt auch die Namen nennen könne, müsse er hinzusetzen, daß dieselben nur noch auf eine Gestorbene Bezug hätten.

„Todt?“ rief sie aus und ward mit einem Male leichenblaß, „wollen Sie sagen, das Kind sei todt?!“

Er sah sie erstaunt an – woher die plötzliche Bewegung dieser Frau bei einer Mittheilung, die ihn selbst kaum oberflächlich berührte? Hatte sie ja doch gleich ihm das Kind nie wiedergesehen, bis zu diesem Augenblick nicht einmal seinen Namen gewußt! Sie ließ ihm aber keine Zeit, seiner Ueberraschung Worte zu leihen, denn mit fast ängstlicher Hast forschte sie weiter:

„Wissen Sie, wann es gestorben ist?“

„Der Pfarrer schreibt, daß es erst in diesen Tagen geschehen ist; wenn ich nicht irre, giebt er sogar Zeit und Stunde genau an,“ entgegnete Alfred und nahm mit diesen Worten den Brief aus seinem Portefeuille, um der Baronin die betreffende Stelle mitzutheilen.

„Meine Ahnung!“ sagte sie düster und halb vor sich hin, „es ist genau die Stunde, wo ich mit Ihnen bei Melsing zusammentraf und Ihnen meine Absichten auf das Kind mittheilte! O, ich habe Unglück!“

Die letzten Worte waren mit einem so tiefen Schmerz gesprochen, daß Alfred sich wider seinen Willen bewegt fühlte. Theilnehmender, als er selbst für möglich gehalten hätte, sagte er:

„Ihnen lag viel an der Ausführung Ihrer Pläne?“

„Ja!“ sagte sie und sah ihn wieder ruhig, aber kalt an. „Ich wollte lieben, um dereinst wieder geliebt zu werden! Mein Leben ist arm!“

Das unerwartete Geständnis; aus dem stolzen Munde erschütterte Alfred. Es klang wie der Klageruf über verlorenes hoffen, verlorenes Glück, und es war ihm, als müsse der nächste Augenblick einen Richterspruch über ihn bringen, der dies Hoffen getäuscht, dies Glück vernichtet hatte. Allein Rosalie schien es bereits zu bereuen, auch nur eine Secunde lang ihrer Empfindung nachgegeben, Alfred einen Blick in ihr Inneres gegönnt zu haben, denn sie brach plötzlich ab und lenkte die Unterhaltung auf ein anderes Gebiet, wobei sie geschickt jede Anspielung, jede Erinnerung an die frühere Zeit, an das Verhältniß, in welchem sie einst miteinander gestanden hatten, zu vermeiden wußte, so daß es Alfred allmählich wohl in ihrer Nähe ward und er sich zu aufrichtiger Bewunderung des Geistes und der Liebenswürdigkeit der schönen Frau hingerissen fühlte. Und als er sie endlich verließ, athmete er hoch und frei auf, denn es war ihm jetzt, als habe er Jahre lang eine schwere Last auf der Brust getragen und es sei diese plötzlich von ihm genommen, ja, als sei seinem Leben ein neuer Reichthum geschenkt worden, denn die Frau, welche er lange Zeit hindurch aus seinem Gedächtniß zu tilgen versucht, die ihm bei der ersten Begegnung fast feindlich gegenüber getreten war, hatte ihm jetzt statt Groll Freundlichkeit gezeigt, und in seinem Geist dämmerte schon ein neues, schönes Verhältniß auf, wo eine edle Freundschaft sie mit ihm und seinem Hause verbinden würde. Er dachte daran, daß er im Begriff stand, sein Haus zu gründen, es mit Allem zu versehen und zu umgeben, was ihm die Stätte zu einer behaglichen und glücklichen machen konnte. Auch an seine Braut dachte er und wunderte sich selbst darüber, daß ihn in diesem Augenblick der Gedanke nicht mit der gleichen Wonne erfüllte wie sonst. – Stellte er vielleicht unwillkürlich die beiden Frauengestalten im Geist neben einander, seine sanfte, blonde, zärtliche Helene neben Rosaliens prächtig-stolze Erscheinung, und sagte sich, daß sie nimmer zu einander passen, nie Freundinnen würden sein können? Jedenfalls sprach er zu der ersteren, als er später zu ihr ging, nicht von seinem Besuch bei der Baronin.

Ihn selbst aber trieb es bald unwiderstehlich, sich wieder und immer wieder an den Strahlen des funkelnden Gestirns zu sonnen. Nicht lange – so wußte und sprach man davon in der Stadt, daß Alfred sich um die Gunst der schönen Spanierin bewerbe. Durch Melsing, der die kleine Scene in seinem Hause nicht vergessen und eben so wenig versäumt hatte, sie weiter zu erzählen, war man zuerst aufmerksam auf das Verhältniß geworden; die beiden zurückgekehrten Officiere hatten dann das Abenteuer in H. zum Besten gegeben, und so hatte sich rasch ein Stadtgespräch entwickelt, das Wahres und Erdichtetes durcheinander warf, und die allgemeine Aufmerksamkeit war auf die Betreffenden [100] gelenkt, ehe sie selbst etwas davon ahnten. Anfangs lachte Alfred über die zuerst leisen, dann aber immer lauter werdenden Stichelreden seiner Gefährten, die er dem Neide zuschrieb, weil sie sich von der Bekanntschaft mit der schönen Frau ausgeschlossen sahen, und erwiderte die ernsten, wenn auch halb versteckten Warnungen seiner Freunde mit einer leichten Entgegnung. Darauf kam es einige Male zu empfindlichen Reibungen, welche ihm die Spötter vom Halse schafften und die Freunde verstummen ließen, und dann – kam eine Zeit, wo Alfred gegen Spott wie gegen Tadel, auch wenn beide noch zu ihm gedrungen wären, unempfindlich geworden war, denn in seinem Herzen lebte jetzt nur noch ein Gedanke: der an Rosalie und sein Verhältniß zu ihr! Aus seiner Bekanntschaft mit ihr hatte er sich allmählich das Recht einer gewissen Vertraulichkeit gewonnen, das sie ihm zwar nicht geradezu übertrug, aber doch stillschweigend anzuerkennen schien und das er in jeder Weise ausbeutete. Man sah ihn auf der Promenade an ihrer Seite, im Theater erschien er in ihrer Loge und trotzte der Aufmerksamkeit des Publicums, dem Neide der gesammten Herrenwelt, indem er sich eifrig mit ihr unterhielt und auch gar nicht daran zu denken schien, das Interesse zu verbergen, mit welchem er an jedem ihrer Worte, ihrer Blicke hing.

An ihr selbst dagegen war durchaus nicht wahrzunehmen, welchen Eindruck sein Benehmen, seine Huldigungen auf sie machten, denn ihre Haltung war völlig unbewegt und ruhig; sie schien es als etwas Natürliches, Selbstverständliches hinzunehmen, daß er ihr seine Verehrung darbrachte, und es gar nicht zu beachten, daß seine Blicke immer glühender wurden, seine Worte immer leidenschaftlicher klangen. Auch in ihrer Wohnung hatte sie ihn noch einige Male wieder empfangen, wie sie sich jedoch an öffentlichen Orten stets nur in Begleitung ihrer Gesellschaftsdame oder einiger anderen Bekannten zeigte, so sah er sie auch hier nie mehr allein, und zu einem Zwiegespräch unter vier Augen war es daher nicht wieder gekommen.

Es konnte nicht fehlen, daß die Kunde von Alfred’s auffälligem Benehmen endlich auch das Ohr der Familie von Alfred’s Braut erreichte, nachdem diese selbst sich im Stillen über das veränderte Wesen ihres Verlobten schon bekümmert gefühlt hatte.

Einige Andeutungen genügten, um dem bedauernswürdigen Mädchen klar zu machen, was der Grund seiner kühlen Haltung sei, und sie mit eifersüchtigem Haß gegen Diejenige zu erfüllen, welche ihr Alfred’s Herz abwendig gemacht hatte, sowie mit Bitterkeit gegen ihn selbst. Ohne aber den Muth zu haben, offen mit ihrer Anklage ihm entgegen zu treten, griff sie zu der unglücklichsten Waffe, die ein liebendes und verwundetes Herz wählen kann, zur Empfindlichkeit, suchte ihn durch Schmollen zu strafen und – ahnte nicht, daß sie damit den letzten Rest von Zuneigung in ihm vernichtete, daß sie ihm unendlich klein und gewöhnlich erschien neben Rosaliens großartiger Natur. Seine Ungeduld machte ihn reizbar und heftig, und es war schon verschiedene Male unter den Verlobten zu Scenen gekommen, bei denen Helene in heftige Thränen ausgebrochen war; aber auch diese hatten Alfred kaum besänftigen können, denn er konnte es nicht leiden, wenn Jemand sich in solcher Schwäche zeigte. - Die ganze Familie Helenens war erbittert über Alfred, und so sehr sie anfangs die Verbindung erfreut hatte, so wünschenswerth schien ihr jetzt, daß das Verhältniß gelöst würde; doch bebte Helene krampfhaft vor jedem Gedanken daran zurück, und wie sie den Ihrigen gegenüber seine beredteste Vertheidigerin war, vertraute sie immer noch, daß ihre Liebe ihr die seinige am Ende wiedergewinnen würde.

Rosalie hatte in dieser Zeit ihre Wohnung in der Residenz aufgegeben, nur nach einer ungefähr eine halbe Stunde von der Stadt entfernten Villa überzusiedeln, welche leer stand und von ihr für die Sommermonate gemiethet worden war. Alfred hatte sie daher in mehreren Tagen nicht gesehen, indem er es ohne ihre Erlaubniß nicht wagte, sie dort aufzusuchen, und sie erfüllte bereits sein Denken und Leben so, daß ihm jeder Tag ein verlorener schien, der ihm keine Begegnung mit ihr gebracht hatte.

Mißmuthig erinnerte er sich eines Abends, daß er seiner Braut seit Tagen einen Besuch schuldig war, und da er sich doch wieder dachte, daß sie jetzt vielleicht die Leere seines Innern auszufüllen vermöchte, ging er zu ihr. Sie empfing ihn freundlicher und heiterer als gewöhnlich, denn sie hatte ihr Herz wieder durch den Vorsatz gestärkt, ihn durch Sanftmuth zu gewinnen, und wirklich schien es, als wenn ihr Bemühen heute nicht vergeblich bleiben und er seinen früheren Ton wiederfinden würde. Sie brachte das Gespräch auf Hermann, an dem sie mit großer Verehrung hing, und da sie hierin völlig mit seinen Empfindungen harmonirte, so hatte sie eine gute Saite angeschlagen und sie zu lebhaftem Eingehen hingerissen.

„Wie schade,“ sagte sie mit echt weiblichem Bedauern, „daß er so einsam lebt und von keiner Familie umgeben ist! Hat er nie daran gedacht, sich zu verheirathen?“

„Ja, er war in früheren Jahren einmal verlobt,“ entgegnete Alfred kurz.

„So ist seine Braut gestorben?“ rief sie theilnehmend. „Wie hieß sie?“

„Sie ist nicht todt, Helene, die Verbindung hat sich gelöst.“

„So war sie eine Unwürdige!“ rief sie in unbesonnener Heftigkeit.

Das Wort trieb ihm das Blut in's Gesicht. „Nein, Helene, es war keine Unwürdige! Du sprichst von der Baronin Brinkhorst!“

„Die Spanierin?“ schrie Helene entsetzt auf; „dann bleibe ich bei meinem Wort – sie konnte Hermann’s nicht würdig sein.“

Er war dicht vor sie hingetreten. „Was weißt Du von ihr, die Du verleumdest?“ sagte er jetzt mit harter Stimme.

Sein Wort, sein Ton machten, daß sie in Thränen ausbrach. „Ist es nicht genug,“ rief sie leidenschaftlich aus, „daß sie auch mir das Herz bricht, daß sie Dich in ihr Netz, in Dein Verderben lockt? O Alfred, fliehe dieses Weib, ehe sie Dir und mir zum Fluche wird!“

Er richtete sich hoch auf. „Zum Fluche, sagst Du? Weißt Du, daß für mich ein Segen wie der des Himmels in jedem Blick liegt, den sie auf mich richtet, in jedem Wort, das sie zu mir redet?“

„Alfred, Du liebst sie!“ rief Helene in tödtlichem Erschrecken.

Sein Gesicht überflog eine flammende Röthe. „Ja, ich liebe sie!“ rief er aus. „Einmal mußte das Wort gesprochen werden, sonst hätte es mir das Herz, die Brust zersprengt! Helene, ich war es, ich, um den sie ihr Herz von dem Bruder wandte, und ich Thor glaubte damals, es stände in meiner oder ihrer Macht, dem Herzen zu gebieten und einem Andern wiederzugeben, was nicht mehr sein war! Ich glaubte mich einer Sünde gegen den Bruder schuldig und war nicht groß und stark genug, um wie sie zu begreifen, daß unser Herz unser Schicksal ist und wir uns ihm beugen müssen, ihm folgen dürfen, wie der Stimme Gottes selber! Ein enges Pflichtgefühl trieb mich damals, vor den vermeintlichen Rechten des Bruders zu weichen, ihre mächtige, reiche Liebe von mir zu weisen es hat uns Beide elend gemacht!“

„Elend?“ stöhnte das unglückliche Mädchen. „Mein Gott, vergieb ihm!“

[113] Das Wort des Mädchens brachte Alfred zu sich selbst zurück und erinnerte ihn an die, welche gebrochen auf ihre Kniee gesunken war. „Helene, vergieb auch Du mir,“ sagte er weich und trat zu ihr heran, „ich konnte nicht anders!“

Sie war nicht fähig zu sprechen und winkte nur flehend mit der Hand, daß er sie allein lasse.

Am andern Tage empfing Rosalie auf ihrer Villa den Besuch des Bankiers, der in Geschäftssachen mit ihr zu reden hatte. Als dieselben erledigt waren, frug sie den Bankier in nachlässigem Ton nach den Neuigkeiten der Residenz.

„Hm, das Neueste vom Neuen möchte sein,“ antwortete Melsing, „daß es zwischen Lossau und seiner Braut zu einem entschiedenen Zerwürfniß gekommen sein soll. Ich erfuhr heute Morgen, daß sie plötzlich die Residenz verlassen hat und zu ihrer verheiratheten Schwester gereist ist und daß man an einem völligen Bruch des Verhältnisses nicht zweifelt.“

Er konnte es nicht lassen, sie bei seinen Worten scharf zu beobachten, aber keine Miene des schönen Gesichts verrieth Freude oder gar Triumph; nicht einmal die geringste Ueberraschung spiegelte sich darauf ab; es war, als ob die Nachricht sie vollkommen unberührt lasse.

„Nun ja, da hat die Welt allerdings Stoff zur Verwunderung und zur Krittelei!“ warf sie nur in ruhigem Ton hin. – „Und was haben Sie Weiteres zu erzählen, Herr Melsing?“

Der Bankier war im Innern außer sich vor Erstaunen. Er hatte einen Kitzel darin gefunden, der Erste zu sein, welcher der Baronin den Eclat berichtete, an dem sie, wie er gleich der ganzen Stadt wußte, schuld war, und den Eindruck auf sie zu beobachten – und nun begegnete er dieser gänzlichen Gleichgültigkeit! Ihm ward nahezu unbehaglich in ihrer Nähe, und sie erschien ihm fast wie eine schöne, aber unheimliche Sphinx.

Auch als der Bankier sie verlassen hatte, gab Rosalie sich durchaus keinem Ausbruch der Empfindungen hin; nur um ihren Mund zuckte ein leises, aber beinahe dämonisches Lächeln, als sie die Worte sprach: „Ich wußte es ja, daß es so kommen mußte!“

Dann gab sie ihrer Dienerschaft Befehl, daß an dem heutigen Tage Niemand zu ihr gelassen werden sollte, als der Legationsrath von Lossau, den sie erwarte.

Von ihrem Boudoir aus konnte sie den Weg übersehen, welcher von der Residenz hierher führte, und am Fenster sitzend spähte sie aus, bis sie in der Ferne einen Reiter entdeckte, in welchem ihr scharfer Blick sofort Alfred erkannte. Sie erhob sich von ihrem Sitz und richtete ihre glühenden Augen nach oben: „Ich danke Dir, mein Gott,“ murmelte sie, „daß Du diese Stunde der Rache hast kommen lassen!“ Dann trat sie auf den Balcon hinaus.

Der Reiter kam näher und näher; sie erkannte, wie Alfred’s Gesicht vor Freude und Entzücken leuchtete, als er ihrer ansichtig ward; sie sah, wie er aus der Ferne grüßte, und neigte selbst ihr Haupt, um ihn willkommen zu heißen. Noch ein Augenblick – und er sprengte in den Hof.

Rosalie hatte sich gewandt, um in ihr Zimmer zurückzutreten und ihn dort zu empfangen; bei der raschen Bewegung aber glitt das Tuch, welches sie um ihre Schultern geworfen hatte, herab und flatterte über den Rand des Balcons. Das Pferd, dadurch erschreckt, sprang auf die Seite und Alfred, der im Begriff gewesen war, es anzuhalten, griff unwillkürlich heftig in die Zügel. In demselben Augenblick bäumte das Thier sich hoch auf, machte einen furchtbaren Satz und schleuderte den unglücklichen Reiter auf das Pflaster des Hofes. Rosalie, die Zeuge der ganzen schrecklichen Scene gewesen war, stieß einen markerschütternden Schrei aus und stürzte dann, ihrer eigenen Sinne kaum mächtig, zu dem Verunglückten hinunter. Auch die Diener eilten herbei, und in der nächsten Minute schon war Alfred aufgehoben, in’s Haus und nach dem mit halberstickter Stimme ausgesprochenen Befehl der Baronin auf deren Zimmer getragen, wo man ihn auf ein Ruhebett legte.

Das Bewußtsein war noch nicht zurückgekehrt, indessen keine Verletzung wahrzunehmen, und ein älterer unter den Dienern, welcher den Schrecken und die Angst der Herrin sah, bemühte sich ihr Trost einzusprechen: „Er ist sicher nur von dem Fall betäubt, gnädige Frau,“ sagte er, „und wird bald aus seiner Ohnmacht erwachen!“

Sie blickte den einfachen Mann an, als hätte er ihr eine himmlische Verheißung gebracht, und es war, als sei von diesem Augenblick ihre frühere Zuversicht zurückgekehrt. Sie ließ Alle hinausgehen, denn sie wollte allein mit Alfred, allein Zeuge seines Erwachens sein.

Es währte auch nicht lange, da kehrte mit einem tiefen Athemzuge das Leben in seine Brust zurück; er seufzte noch ein paar Mal, griff mit der Hand nach der Stirn und schlug dann die Augen auf.

„Alfred!“ drang es über ihre Lippen mit weichem, innigem und doch wieder jubelndem Tone, „Alfred!“

Wie ein elektrischer Schlag fuhr es durch seinen Körper; er schloß noch einmal die Augen, öffnete sie dann wieder und begegnete den Blicken Rosaliens, die sich über ihn beugte.

[114] „Rosalie,“ flüsterte er, „ist das ein Traum, oder umgiebt mich die Seligkeit des Himmels?“

„Nein, Alfred,“ entgegnete sie, „es ist Wahrheit, daß Sie leben!“

Bei dem Klang ihrer Stimme war ihm das volle Bewußtsein zurückgekehrt; er sprang auf, stürzte zu ihren Füßen und umfaßte leidenschaftlich ihre Kniee.

„Ich lebe nur,“ rief er, „weil ich bei Dir bin, Rosalie, und will auch nur leben, um eins sein zu dürfen mit Dir!“

Sie trat von ihm zurück und bedeckte ihre Augen mit der Hand.

„Gott im Himmel,“ sagte sie bebend, „was ist das?! Kenne ich, kennst Du mein Herz noch?“ und dann wieder ließ sie die Hände von ihrem Gesicht sinken, blickte auf Alfred und brach fast wie mit einem Schrei in die Worte aus: „Nein, das ist kein Haß mehr – ich fühl’s, ich liebe ihn!“

In der nächsten Secunde hielt er sie in seinen Armen, bedeckte sie mit seinen flammenden Küssen und stammelte vor Seligkeit trunken ihren Namen. Einen Augenblick lang überließ auch sie sich dem vollen Ausbruch der Leidenschaft, dann aber riß sie sich aus seinen Armen.

„Und nun in dieser Stunde, Alfred,“ sprach sie, „will ich Dir sagen, daß Gott ein Wunder gethan hat an meinem Herzen, denn dies Herz – höre es wohl, Alfred! – dies Herz hat Dich gehaßt bis in den Tod!“

„Rosalie!“ rief er erbleichend.

„Von jener Stunde an,“ fuhr sie fort, „wo Du mich einst verließest, habe ich nur den einen Gedanken, das eine Gebet der Rache gehabt, und nicht fester war ich überzeugt von Gottes Barmherzigkeit, als davon, daß ein Tag kommen würde, der mir die Rache brächte. Nicht ich brauchte sie zu vollziehen! Das Schicksal selbst that es und in jedem Schritt, der Dich dem Verderben näher brachte, erkannte ich seine Fügung. Als ich Dich zuerst an der Spielbank wiedersah, als ich auf eine Karte mit Dir setzte, wußte ich, daß sie gewinnen würde, denn, Alfred, ich spielte um den Einsatz meines Lebens! Und so wollte ich nicht, ich mußte Dir hierher folgen – als Dein Verhängnis!, das sich stumm und sicher vollzog. Heute endlich, heute war der Tag gekommen, wo ich Dich zerschmettern, Dich vor mir im Staube sehen wollte, wie einen Wurm, den ich zertreten durfte!“

Ein Beben flog durch seine Glieder und schüttelte sie wie im Fieber.

„Und nun, Rosalie, und nun?“ fragte er athemlos.

„Als ich Dich niederstürzen sah,“ fuhr sie fort, „Deinen Tod vor Augen hatte, da war mir, als ginge ein plötzlicher Riß durch mein Herz und durch mein ganzes Leben – und nun, Alfred, nun ist mir, als wäre ich selbst gestorben und feierte meine Auferstehung!“

Ihre Augen, welche eben noch in wildem Feuer geglüht hatten, nahmen plötzlich den Ausdruck einer wunderbaren Weichheit an und wie in einer Verklärung stand sie vor Alfred, der hingerissen auf das schöne Weib blickte.

„Ja eine Auferstehung feiern wir Beide,“ rief er, „eine Auferstehung von Zweifel, Irrthum und Sünde! Die Liebe ist unsere Erlösung geworden – sie wird unser Leben sein!“

Er war wieder vor ihr niedergesunken, und während sie sich zu ihm niederbeugte und ihn umfaßt hielt, ruhte sein Kopf an dem Herzen aus, das vor einer Stunde noch von tödlichem Haß gegen ihn erfüllt war. Was kommen, was werden sollte – daran dachten Beide nicht in diesen Augenblicken, so wenig wie an das, was gewesen war. Die Vergangenheit war versunken und die Zukunft hatte keine Macht über sie; für sie war nichts da, als die Gegenwart, die flammende, berauschende, beseligende Gegenwart!

Als er sie spät am Abend verließ, um nach der Stadt zurückzukehren, trat sie wieder wie am Nachmittage auf den Balcon hinaus, und wieder sah er ihre Grüße und dankte ihr mit strahlenden Augen; und als er schon weit entfernt war, sah er noch durch die Dunkelheit das weiße Tuch, womit sie ihn, das letzte Lebewohl zuwinkte. „Bis morgen nur!“ jubelte es in seinem Herzen und „bis morgen!“ sagte auch sie sich, als er ihren Blicken entschwunden war. Es war ein Zauber über Rosalien gekommen, der ihr ganzes Wesen verwandelt hatte.

Sie zählte am folgenden Tage die Stunden, die Minuten, welche sie noch von dem Wiedersehen trennten, und verbrachte sie doch wieder in seliger Erwartung. Da hörte sie plötzlich auf dem Corridor Schritte – hatte ihre Sehnsucht ihn doch früher hergelockt, oder war es seine eigene Ungeduld, die der festgesetzten Stunde vorangeeilt war? Wie es auch kam – sie empfand jubelnd, daß er da war, und sprang auf, um ihm entgegen zu eilen.

In demselben Augenblick öffnete sich die Thür, und erbleichend taumelte sie zurück. Der Eintretende war nicht Alfred.

„Hermann,“ stammelte sie, „was führt Sie zu mir?“

Er blickte sie schmerzlich an: „Sie wissen es, Rosalie!“

„Hermann, Sie sind der Verkünder meines Schicksals! So sagen Sie mir: ist Alfred todt? Ich kenne jetzt kein anderes Unglück!“

„Nein, Rosalie, er ist nicht todt; ich habe ihn verlassen strahlend und glücklich,, in dem siegestrunkenen Bewußtsein, Sie zu lieben, von Ihnen geliebt zu werden!“

Der alte Muth kam ihr zurück, und sie richtete sich hoch auf: „Was er sprach, ist Wahrheit! Das Band, welches einst zerriß, ist neu geknüpft worden, und keine Macht der Welt kann es wieder zerreißen!“

„Sie sprechen im Taumel der Leidenschaft, Rosalie!“

Sie blickte ihn stolz an: „Diese Leidenschaft ist mein Leben geworden und nur mit meinem Leben wird sie enden!“

„Auch Alfred spricht so; aber es giebt noch etwas Höheres als die Leidenschaft.“

„Und was nennen Sie so?“

„Die Liebe, Rosalie!“

„Die Liebe? Sie glauben Sie doch nicht – –“

Er ließ sie nicht ausreden und ergriff ihre beiden Hände. „Ja, ich weiß,“ sagte er, „daß Sie Alfred lieben; aber ich frage Sie: was soll aus Ihrer und seiner Liebe werden, Rosalie?“

„Fragen Sie, was aus der Sonne werden wird, wenn sie scheint?“ entgegnete sie.

„Nein, denn ich weiß – daß sie untergehen muß!“

„Hermann, Ihr Herz kennt keine Liebe!“ schrie sie auf.

Eine Secunde lang ruhten seine Augen mit einem unsäglich traurigen Ausdruck auf ihr; dann aber sagte er:

„Sie sind eine verheirathete Frau, Rosalie.“

„Hermann, um Gottes Barmherzigkeit willen mahnen Sie mich nicht an das Elend meines Lebens! Wissen Sie, daß diese Ehe eine unglückselige war, vom ersten Anbeginn bis auf die heutige Stunde?“

„Dennoch – so groß Ihr Unglück sein mag – Ihre Religion verbietet Ihnen die Scheidung,“ sprach er.

Sie verhüllte ihr Gesicht mit den Händen und es drang ein tiefes Stöhnen aus ihrer Brust.

„Was führte Sie mit dem Manne, dessen Namen Sie tragen, zusammen?“ fragte er nach einer Pause.

„Der Zufall, meine eigene Verlassenheit, vielleicht auch mein trübes Schicksal!“ entgegnete sie. „Wir lernten uns in dem Bade kennen, wohin ich mit der Dame gereist war, zu der Sie mich sandten, als – als ich von Lossau ging. Weil die Welt meine Schönheit pries, bewunderte auch er mich und warb um meine Hand. Ich sagte ihm, daß mein Herz ihm nicht gehöre, ihm nie gehören könne, aber er blieb bei seiner Werbung, und weil ich immer und immer das eine Ziel im Auge hatte und glaubte, es in der neuen Lebensstellung sicherer erreichen zu können, nahm ich seine Anträge an. Eine Zeit lang fesselte ihn noch der Reiz des Besitzes, dann aber, als er sah, daß es bei meinen ausgesprochenen Worten blieb, wurde auch er kälter, suchte Ersatz für seine Enttäuschungen auf Wegen, die ihn auch um meine Achtung brachten, und es kam so weit, daß ich der Stunde fluchte, wo ich sein Weib geworden war. Endlich trennten wir unser Schicksal von einander und ich führe jetzt nur noch seinen Namen.“

Er hatte ihr mit tiefer Bewegung zugehört.

„Rosalie,“ sagte er innig, „es ist noch Rettung möglich für Sie wie für Ihren Gatten! Vergebung vermag den tiefsten Riß zu heilen, die entferntesten Herzen zu vereinigen.“

„Haben Sie denn vergessen, daß für mich nur ein Riß zu heilen war, nur eine Vergebung möglich ist?“ fragte sie fast kalt.

„Und diese Vereinigung verbietet Ihnen die Ehre, Rosalie!“ sagte er plötzlich mit starker Stimme. „Ich selbst verbiete sie als Haupt der Familie Lossau, der zu wachen hat, daß kein unaustilgbarer Flecken an dem reinen Namen haftet. Ein Lossau darf nicht die Hand ausstrecken nach einer Frau, die eines Andern Weib ist!“

[115] Bleich, zitternd, keines Wortes mächtig, sah sie ihn an – und doch war es wieder, als drängen ihre Blicke weit über ihn hinaus und starrten in einen Abgrund von Elend und Verzweiflung. „Das war’s – das war’s – das tödtet mich!“ stammelte sie endlich.

Er faßte ihre Hand und sagte mit milderem Ton: „Rosalie, Ihr und Alfred’s Herz sind mir theurer als mein eigenes und ich erliege fast selbst der Qual, die ich Ihnen bereiten muß, aber so wahr ein Gott im Himmel lebt, ich konnte nicht anders! Sie stehen an einem Abgrund – ich muß Sie retten! An Alfred habe ich mich vergebens gewandt, darum rede ich jetzt zu Ihnen. Ihr Herz ist größer als das seinige – Sie werden mich fassen und mit starker Hand sich selbst und den Geliebten vor dem Verderben schützen!“

„Ja, ich fasse und verstehe Alles!“ murmelte sie, indem sie mit der Hand nach dem Herzen fuhr.

„Rosalie, ich kenne ein edles Mädchen, das ein Recht hat auf Alfred’s Liebe und dessen Herz fast gebrochen ist durch seine Leidenschaft für Sie. Geben Sie die Unglückliche dem Leben, Alfred seiner Ehre wieder!“

Eine Weile kämpfte sie einen furchtbaren Kampf.

„Glauben Sie,“ fragte sie dann, „daß Alfred neben ihr glücklich sein könnte?“

„Ja, Rosalie, es ist meine heilige Ueberzeugung!“

Sie preßte die Hände vor’s Gesicht und athmete schwer; endlich trat sie auf ihn zu und ergriff seine Hand. „Sie haben nicht umsonst gesprochen, Hermann!“ sagte sie.

„Ich wußte es!“ sagte er erschüttert. Dann schwiegen Beide.

„Das Leben behält Ihnen noch eine große Aufgabe vor, an der Ihre starke Seele sich ausrichten wird,“ begann er endlich tröstend.

Nicht ihr Mund, nur ihre Augen vermochten zu fragen.

„Die Rückkehr zu Ihrem Gatten, die Versöhnung mit ihm!“

Sie wendete sich mit Heftigkeit ab. „Nicht das – nicht das! in dieser Stunde nicht das! Gönnen Sie meiner Seele Frieden, daß sie beschließen kann, wie Alles werden soll, mir selbst Einsamkeit!“

Er drückte ihr noch einmal in tiefer Bewegung die Hände und wandte sich dann zum Gehen. Als er schon die Thür erreicht hatte, eilte sie ihm nach, erfaßte seine Hand und sank an ihm nieder.

„O Hermann, Hermann!“ schluchzte sie, „wenn ich doch in Ihrer Hut, in dem stillen Frieden von Lossau geblieben wäre! Mitten in dem Strom der Welt und dein Taumel der Leidenschaft habe ich oft daran gedacht, wie an ein verlornes Paradies. Mein Leben war meine Strafe, daß ich es verlassen hatte! Hermann, haben Sie mir Alles vergeben, was ich Ihnen gethan habe?“

Er war keines Wortes, keiner Erwiderung fähig, aber er legte die Hand auf ihr schönes Haupt, und sie fühlte, daß er sie segnete. – Als sie allein war, kam es wie eine ungeheure Erschöpfung über sie, aus der sie zuerst der Eintritt eines Dieners weckte, welcher ihr einen Brief brachte. Er war von ihrem Gatten. Nachdem sie ihn gelesen hatte, zuckte ein bitteres Lächeln um ihre Lippen und sie murmelte: „Ist es doch fast, als ob das Schicksal selbst Hermann das Wort reden wollte und seinen Vorschlag unterstützte!“

Dann legte sie das Schreiben bei Seite.

Nach einer Stunde etwa erschien Alfred. Mit heftiger Ungeduld eilte er auf die Geliebte zu und schloß sie leidenschaftlich in seine Arme. Sie widerstrebte nicht, aber sie erwiderte auch nicht seine Liebkosungen, sie sah ihm nur mit unsäglicher Zärtlichkeit in die Augen. Dennoch kam ihm ihr ganzes Wesen verändert vor.

„Ist Hermann hier gewesen?“ fragte er unruhig.

„Ja, Alfred!“

Seine Stirn runzelte sich: „Er war gestern während meiner Abwesenheit angelangt; – ich konnte ihn nicht zurückhalten! Sein strenger Sinn vermag unsere Liebe nicht zu begreifen, aber auch nicht zu erschüttern, nicht wahr, Rosalie?“

„Nein, er hat sie nicht erschüttert!“ sagte sie.

„Aber er hat Dich mit Warnungen, mit Vorstellungen gequält?“ fuhr er besorgt fort, „unmögliche Forderungen an Dich gestellt?“

„Er verlangte, ich solle zu meinem Gatten zurückkehren, Versöhnung mit ihm suchen.“

Alfred stieß einen Laut der Entrüstung aus.

„Und hier,“ fuhr sie fort, „hier ist ein Brief von meinem Gatten selbst, der das Nämliche von mir fordert. Seine Familie, er selbst wünscht, daß dem Eclat unserer Trennung ein Ende gemacht werden möge, und verspricht alles Mögliche, wenn auch ich das Vergangene vergessen wolle.“

„Und Du, Rosalie, und Du?“

Sie trat zu dem Tische, worauf der Brief lag, nahm ihn in die Hand und zerriß ihn.

„Das ist meine Antwort!“ sprach sie.

Entzückt schloß er sie in seine Arme. „Ich wußte es, Rosalie, daß Du mir jetzt angehörst bis in den Tod!“ rief er.

„Bis in den Tod!“ wiederholte sie, indem sie ihn leidenschaftlich umfing.

Mit dem ganzen Feuer ihrer Natur gab sie sich nun noch einmal dem Beisammensein mit dem Geliebten hin. Alles schien vergessen zu sein, was sie kaum noch bedrängt und beängstigt hatte, und sie riß auch Alfred zu einer gleichen Trunkenheit hin: er wußte nicht mehr, ob er Stunden in Minuten, oder Minuten in Stunden gelebt hatte.

Endlich aber sagte Rosalie plötzlich: „Nun laß uns Abschied nehmen, Alfred! Du mußt zur Stadt zurück und ich – muß allein sein!“

Wie er auch bat, sie drängte ihn zum Gehen, und er sah sich gezwungen, sie zu verlassen; doch wie gestern tröstete er sich mit dem Abschiedswort: „Bis morgen nur!“

Das Wort wiederholte sie heute nicht, doch wie gestern stand sie und sah ihm lange nach, als er auf dem Wege dahinschritt; und als er ihren Blicken entschwand, sprach sie mit ihrer tiefen und doch so wunderbar weich klingenden Stimme:

„Adios Alfredo!“ – Dann ging sie in ihr Zimmer zurück und sagte ihrem Diener, daß sie für den Rest des Abends ungestört bleiben wollte.

In später Stunde schellte sie ihm noch einmal und übergab ihm ein Billet, das in der Frühe des nächsten Morgens zur Stadt gebracht werden sollte; es war an Hermann von Lossau gerichtet. Darauf legte sie sich zur Ruhe.

Zu der von ihr bestimmten Stunde empfing Hermann am folgenden Tage den Brief. Er enthielt nur die Zeilen:

„Hermann, ich halte mein Versprechen – aber ich sterbe daran! Gott mag mir vergeben: ich kann nicht anders! Ich fühle es wie meine arme Mutter, daß ohne Liebe kein Leben mehr ist. Mein Tod macht Alfred frei; – auf Ihre Seele lege ich die Verantwortung für sein Glück. Mein letztes Gebet wird ein Segenswunsch für Sie sein. Rosalie.“

Als Hermann die Worte überflogen hatte, überfiel ihn ein namenloser Schrecken und eine tödtliche Angst trieb ihn nach der Villa, die er in der kürzesten Zeit erreichte.

Schon beim Ueberschreiten der Schwelle bemerkte er das erschrockene Hin- und Hereilen der Diener, begegnete überall verstörten Gesichtern und kaum vermochte er die Frage nach der Herrin des Hauses hervorzubringen, kaum zu begreifen, was ihm erst allmählich aus den verworrenen Antworten klar wurde. - Man hatte heute früh die Baronin auf ihrem Lager todt gefunden, wahrscheinlich war sie an einem Herzkrampf gestorben, woran sie in letzter Zeit häufig gelitten habe. Die weinende Gesellschafterin fügte hinzu, daß man neben ihrem Bette ein leeres Opiumfläschchen gefunden habe, was darauf deute, daß sie in der Nacht von jenem Leiden befallen, worden sei und das gewöhnlich gebrauchte Mittel selbst angewandt habe.

Hermann mußte sich an die Mauer lehnen, um nicht umzusinken. Dann forderte er, sie zu sehen, und man ließ ihn in das Gemach treten, wo sie auf ihrem Bett lag, bleich, ruhig und wunderbar schön. Kein Zug des Schmerzes, des Kummers entstellte das Gesicht, welches von einem fast glücklichen Lächeln verklärt war. Seine ganze Festigkeit und Mannheit brach zusammen vor diesem Anblick, und mit einem Aufschrei unendlichen Jammers sank er an dem Lager nieder. Dort lag er lange in heißem Gebet und in Thränen; dann stand er auf, deckte leise ein Tuch über das Gesicht der Todten und ging hinaus zu den Dienern, denen er sagte, daß er ein Freund der Verstorbenen sei und als solcher für alles Nöthige sorgen, alle traurigen Pflichten übernehmen würde. Auch dem Arzt, nach dem man in der ersten Verwirrung, als man sich noch nicht von ihrem Tode überzeugen mochte, geschickt hatte, ging er entgegen und sagte ihm, daß seine Hülfe zu spät sei.

Alfred war außer sich, als er die Nachricht erfuhr, die Hermann selbst ihm brachte, indem er dabei der Auslegung der Dienerschaft folgte; seine Verzweiflung grenzenlos.

„O, wer jetzt sterben könnte, sterben wie sie!“ rief er aus; „der Tod ist eine Wollust!“

[116] „Aber das Leben eine hohe, heilige Aufgabe,“ sagte Hermann ernst, „die jetzt ihren Mann an Dir fordert. Denke daran, was Du einem edlen Herzen schuldig bist!“

„Helene!“ rief Alfred schmerzlich. „Wie kann sie mir, wie kann ich ihr noch angehören?“

„Sie trägt eine große Liebe im Herzen, und, Alfred, die verzeiht und überwindet viel. Gelobe mir, daß ihre Liebe nicht ihr Unglück werden soll.“

Alfred sah seinem Bruder lange in die ernsten Augen, dann legte er langsam, aber entschlossen seine Hand in die Hermann’s: „Ich gelobe es Dir!“ sprach er tonlos.

Als Hermann seine Aufgabe erfüllt sah, als er der Wiedervereinigung Alfred’s mit Helenen gewiß war, kehrte er auf sein stilles Gut zurück. Wirken, schaffen und für das Wohl Anderer zu sorgen, war ihm Bedürfniß und das einzige Heilmittel für seine Seele.

Die gewohnte Ruhe und Fassung, selbst eine gewisse äußere Heiterkeit fand er wieder, aber in seinem Herzen verstummte nie eine Stimme, welche ihm zuflüsterte: „Sie war das Licht Deines Lebens!“