Im Wachsfigurenkabinett von Grèvin
Im Wachsfigurenkabinett von Grévin.
Was für Berlin Castan, das ist Grévin für Paris, nur daß dieser die gelehrte Bezeichnung „Panoptikum“ durch die nicht minder anspruchsvolle „Museum“ ersetzt hat.
Die kirchenschiffartig gebaute, goldbraun getönte Halle mit ihren graziösen Säulen, ihrem bunten Marmor und zahlreichen Spiegelflächen, in welcher das Grévin’sche Wachsfigurenkabinett sich befindet, ist verhältnißmäßig klein, aber keineswegs geschmacklos. In der Mitte allerlei Gruppen bekannter Künstler und Schriftsteller, der blonde Gounod am Flügel, Daudet, Zola, Rochefort etc. Die Wandseite links ist Herrn Grévin und den gekrönten Häuptern eingeräumt, die Wandseite rechts berühmten Militärs und Staatsmännern.
Gleich vorn in einer Nische mit hübscher Perspektive auf ein Landhaus gewahren wir Bismarck und Moltke; daneben eine Chinesengruppe und schließlich Brisson auf der Rednerbühne, umgeben oder, richtiger gesagt, umlauscht von den bekanntesten Parlamentariern, wie Clémenceau, Wilson, Grévy’s Schwiegersohne, Naquet, dem Vater des Ehescheidungsgesetzes, Ferry und Cassagnac.
„Armer Brisson! wenn die Ministerien so lange dauerten wie diese Gruppe!“ bemerkte lächelnd einer der Zuschauer, und sein Nachbar: „Sehen Sie nur Clémenceau an! er hebt schon die Hand auf, um Brisson herabzustürzen!“ Aber seine Phantasie ergänzt da gutwillig die des Bildners, denn der kleine nervöse, schwarzäugige Clémenceau mit dem schwarzen Schnurrbart steht ausdruckslos da. Ueber die Portraitähnlichkeit kommt es bei all diesen historischen Persönlichkeiten nicht hinaus, und die französischen Wachsfigurenkünstler scheinen noch nicht so weit zu sein, daß sie denselben nun auch noch einen der Situation entsprechenden Ausdruck zu verleihen wüßten. Darum sollten sie für die Gruppenbilder nur Phantasiefiguren wählen, so beispielsweise die Helden des Zola’schen Romans „Germinal“. Man sieht diese in der That im sogenannten Verbrecherkeller neben der im düsteren Kerker schriftstellernden Louise Michel, und zwar im Augenblick, da sie, im verschütteten Schacht, die von den Wassern angespülte Leiche des von Etienne Ermordeten schaudernd erblicken. Uebrigens fehlt es auch nicht an heiteren und sogar etwas frivolen Genrescenen hinter den Koulissen und im Boudoir der Tänzerin.
Louise Michel mit ihrem schwarzen Kater erregt besonderes Aufsehen. „Die bittere Louise mit ihrem Generalstab!“ ruft ein Herr. „Sie dekretirt eine neue Plünderung der Bäckerläden!“ höhnt die wohlbeleibte Dame an seinem Arme, die ihres Zeichens offenbar eine Bäckermeisterin ist. Ihr kleiner, vorlauter Junge entfesselt vollends die Lachlust des Sonntagspublikums, als er ungenirt das uralte Volkslied anstimmt: „C’est la mère Michel qui a perdu son chat!“ Der Rhythmus desselben ist so urkomisch, daß der Pariser, der die Satire in gebundener Form über Alles liebt, beständig einen neuen, zeitgemäßen Text für diese drollige Melodie erfindet. Selbst die Königin von England und Napoleon I., bei denen die lustige Gesellschaft nun vorüberpilgert, bleiben nicht verschont; das Lied ist heute in Aller Munde, doch auf Deutsch schwer wiederzugeben. Einen Augenblick wird beim Fernsprecher Halt gemacht, um gleichsam auf Flügeln des Gesanges einen Brocken von dem Gesangsvortrage der berühmten Thérésa im Alcazar zu erhaschen. Dann geht’s wieder in die vorderen Räume des Museums zurück.
Vor dem alten Grévy im Frack und rother Schärpe, dem man die behagliche Freude über sein hübsches Präsidentengehalt anzusehen meint, staut sich die Menge.
„Stumm und zufrieden, wie im Elysée!“ bemerkt ein neidischer Spötter, „ganz die Rolle, die er im Staate spielt. Nur daß er uns hier weniger kosten würde.“
Der Kaiser Wilhelm mit seinen beiden Flügeladjutanten ist immer von einem großen Kreise Neugieriger umgeben. Freilich muß es Einem gesagt werden, daß er es sein soll, denn hier hat der Künstler (?) dem nationalen Hasse eine arge Koncession gemacht. Eine fingertiefe, finstere Falte ist in die Stirn eingegraben und giebt dem Greise mit den trotzig aufgeworfenen Lippen einen so bösen Ausdruck, wie er unserem großherzigen milden Kaiser wahrlich nicht eigen ist. Einer der Adjutanten, beiläufig bemerkt, in einer wahren Phantasieuniform, bringt ihm eine Meldung, die seinem Herrn offenbar unwillkommen ist. Zornig deutet dieser auf eine Karte, die neben russischen Broschüren auf dem Tischchen liegt. „Wie er finster aussieht! er plant schon wieder einen Feldzug. Es fehlt nur noch Napoleon!“
Noch dichter ist der Kreis um die Bismarck-Gruppe. Der wie ein Wütherich Aussehende sitzt an einem Tische und weist ebenfalls auf eine Karte, während Moltke, neben ihm stehend, seine Auffassung darlegt.
„Er sucht nach einem neuen Vogesenloch – nein, so habe ich ihn mir doch nicht vorgestellt! welch ein Kopf!“
Und man blickt finster und wie beängstigt auf diesen bestgehaßten Mann, mit dem man die Kinder schreckt, als wäre es der schwarze Mann. Aber unser Bäckerjunge löst auch hier den Bann widerwilliger Bewunderung: „As-tu vu Bismarqué, à la porte de Charenton, qui funmait sa pipe, au son du canon“, singt er plötzlich nach der bekannten militärischen Fanfarenmelodie, just wie zu den Zeiten der Pariser Belagerung, und das leichtlebige Völkchen ist schnell getröstet. Frankreich ist ja nun durch dieses Spottlied gerächt.
Das Lied paßt in der That in so fern, als der in Civil dasitzende Bismarck eine große Pfeife in der Hand hält.
„Und der Andere! wer ist denn der? das ist wohl sein Diener?“ fragt die Bäckersfrau. Man muß ihr diesen Irrthum verzeihen, denn Moltke steht demüthig in einem alten, von der Kampagne mitgenommenen Militärmantel neben dem eleganten Zivilisten mit ... der Tabakspfeife! Die ganze Situation ist in der That so unmöglich und alles so sehr darauf berechnet, die beiden großen Feinde in einer verächtlichen Maske zu zeigen, daß man sich auch nicht über die auf dem Tisch stehenden „Attribute der deutschen Nation“, zwei mächtige Bierseidel, wundern darf. Moltke, der nie Bier trinkt und die Mäßigkeit selbst ist!Eugen von Jagow.