Im Mondenschein
[835] Im Mondenschein. (Zu dem Bilde S. 829.) Wer hat ihn nicht empfunden, den wunderbaren Zauber der Sage vom Lurleifelsen, den Heine in sein unsterbliches Lied „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten“ gebannt hat. Wer vermag es, ohne ahnungsvolle Schauer auf den Fluthen des Rheinstroms vorbeizufahren an dem trutzigen Fels, auf dem die Phantasie ihm die schönste Jungfrau im goldenen Haare erscheinen läßt. Ist es ein Wunder, daß ein solch mächtiger Quell überwältigender Poesie sich vor allem dem Dichter erschließt, dem Dichter, der berufen ist, die schlummernde Märchenprinzessin, die Sage, zu blühendem Leben zu wecken, und dem Künstler, der die Kraft in sich hat, ihre Gestalt in sichtbarer Leibhaftigkeit vor das Auge zu rücken?
So haben denn auch ein Dichter und ein Künstler zusammengewirkt, ein Werk zu schaffen, das den vollen Reiz der Lurleisage über uns ausgießt. Zu der Dichtung „Lurlei“ von Julius Wolff hat Wilhelm Kray einen Cyklus von zwölf Bildern geschaffen, die in einer Prachtausgabe bei Franz Hanfstängl Kunstverlag A.-G., München, erschienen sind.
Freilich hat Kray seine Arbeit nicht selbst zu Ende führen dürfen; er ist darüber gestorben, und es blieb die verantwortungsvolle Aufgabe L. W. Heupels, das Begonnene im Sinne des Meisters zu vollenden. Daß es ihm gelungen ist, zeigt das fertige Werk, aus dem wir unsern Lesern eine Probe vorlegen.
Im schwanken Kahne beim Vollmondschein hat der junge Graf Lothar die zauberhafte Maid Lurlei gefunden und ihre Liebe gewonnen. Voll Hingebung spricht sie die Worte:
„Das hätt’ ich nicht geglaubt,
Daß Liebe so beglücken,
So selig machen kann,
Und Sinn und Verstand berücken,
Du einzig lieber Mann!“
Aber der wankelmüthige Graf verläßt sie schnöde, und nun kehrt sie zurück, von wo sie gekommen, in die Tiefe des Rheins zu ihrer Mutter Igorne, und Rache „an ihm und allem ohne Wahl, was Mann heißt in der Sonne Strahl“ ist fortan ihre Losung.