Textdaten
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Autor: Christian Gottfried Körner
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Titel: Ideen über Deklamation
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aus: Neue Thalia – Vierter Band, Viertes Stück, S. 101–112
Herausgeber: Friedrich Schiller
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1793
Verlag: G. J. Göschen’sche Verlagsbuchhandlung
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: UB Bielefeld bzw. Scans auf Commons
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[101]
VI.
Ideen über Deklamation.


Das Vorlesen giebt dem Gedanken Persönlichkeit. An die Stelle einer allgemeinen Vorstellung tritt ein einzelnes Wesen, das auf bestimmte Art denkt und empfindet. Der abstrakte Begriff erscheint in menschlicher Gestalt. Daher der stärkere Eindruck beym Hörer.

Der Stoff muß rein und vollständig gegeben werden – (objektive Vollkommenheit) – das hinzukommende Persönliche muß möglichst idealisirt seyn. (subjektive Vollkommenheit).

Vielleicht war Gesang früher als Sprache, so wie Poesie, als Sprachkunstwerk, früher als Prosa.

Leidenschaftliche Laute und Melodien sind ohne Zweifel die frühesten Aeußerungen der menschlichen Sprachfähigkeit. Das Bedürfniß der Ideenmittheilung setzt einen Zustand der Ruhe und einen Fortschritt der geistigen Ausbildung voraus.

Die Dialekte der weniger cultivirten Provinzen nähren sich auch im alltäglichsten Gespräche [102] dem Gesange. Die höhere Verfeinerung fodert einen gedämpften Laut, eine Aufsparung des leidenschaftlichen Ausdrucks auf das paßende Moment, einen Total Eindruck von Ruhe. Die Accente erscheinen gleichsam im verjüngten Maasstabe. Die Sprache nähert sich mehr oder weniger dem Gesange nach Verhältniß des Leidenschaftlichen in dem Stoffe – wird aber nie Gesang, so wie die Prosa des Redners der Poesie sich nähert, ohne sich jemals ganz in Verse zu verwandeln.



Ist eine Sprache vorhanden, die sich vom Gesang unterscheidet, so kommt es zuerst darauf an, die Bestandtheile der Rede zweckmäßig zum Behuf der Deutlichkeit[1] zu trennen, und zu verbinden. Dieß geschieht durch Pausen.

Ihre Länge und Kürze unterscheidet die Abschnitte der Rede, nachdem sie entweder ein für sich bestehendes Ganze ausmachen, oder mit andern Theilen nothwendig zusammenhängen.

Der vollendete Sinn der Rede giebt eine gewisse Befriedigung. Mit dieser hört die vorhergehende Anstrengung des Sprechenden auf, und wenn er vorher, um besser gehört zu werden, [103] die Stimme erhoben hatte, so sinkt sie in diesem Moment der Ruhe um eine Stuffe tiefer. Daher der Schlußfall beym Ende der Periode.

Vor diesem Schlußfall muß zur Erhöhung oder Vertiefung der Stimme irgend ein besonderer Grund vorhanden seyn, wenn das Sprechen nicht in Singen ausarten soll.

So wie die Tiefe des Tons auf Befriedigung deutet, so deutet die Höhe auf gespannte Erwartung. Daher ist letztere passend für die Frage, die Bedingung, und für die Vordersätze der Perioden überhaupt.

Bey der Frage bemerkt man den Unterschied, daß entweder eine Antwort darauf erwartet wird, oder der Fragende sie schon als ausgemacht annimmt. Im ersten Falle steigt der Ton gegen das Ende der Frage, im zweyten Falle fängt die Frage mit dem höhern Tone an, und dieser sinkt gegen das Ende der Frage, gleichsam, als ob der Fragende in dem Gesicht der Hörenden seine Befriedigung ahndete.

Noch dient zur Deutlichkeit eine Verstärkung des Tons bey dem Hauptworte. Diese kann aber durch Misbrauch in Beleidigung für die Fassungskraft der Hörenden ausarten.


Ist Deutlichkeit das einzige Ziel des Vorlesers, so beschränkt er sich auf den niedern, mechanischen [104] Theil seines Geschäfts. Zweck und Mittel sind ihm bestimmt gegeben, und für die Kunst ist kein Spielraum. Das Kunstmäßige in der Deklamation – die Versinnlichung eines Ideals – wobey Zwecke und Mittel sich ins Unendliche erweitern und vervielfältigen – beginnt mit der Darstellung des Persönlichen.

Nicht eine bestimmte Reihe von Gedanken allein soll vor dem Hörenden aufgeführt, auch die Empfindungen, welche diese Gedanken begleiten, sollen bey ihm erweckt werden.

Diese Empfindungen werden theils durch den Charakter der Person, theils durch ihren Zustand und ihre Verhältnisse in einem besondern Zeitpunkte bestimmt.

Gewisse Zustände und Verhältnisse haben etwas Gemeinsames in der Empfindung, die sie erwecken, als Schmerz, Mitleid, Zorn, Freude u. dergleichen. Aber wehe dem Vorleser, der bey diesem Gemeinsamen stehen bleibt, der uns einen Leidenden, Fröhlichen, Zornigen überhaupt darstellt, und das Allgemeine der Leidenschaft oder Stimmung nicht durch besondre Eigenheiten der einzelnen Person zu bezeichnen weiß!

Charakter ist es, was in der Erscheinung des wirklichen Menschen Einheit hervorbringt. Ohne diesen ist er ein widriger Gegenstand, ein moralisches Chaos.

[105] Die Einheit des Charakters kann in Einförmigkeit und Leerheit ausarten, wenn sie die leidenschaftlichen Regungen tödtet, anstatt, sie zu beherrschen. Dann ist sie kein Gegenstand der Kunst.

In der Art wie der Vorleser sich den darzustellenden Charakter denkt, giebt es entschiedne Grade der Freyheit.

Am meisten ist diese Freyheit bey dramatischen Produkten eingeschränkt, wo bekannte historische Personen auftreten. Sind es bloß Ideale, so hat der Dichter oft mehr oder weniger Lücken gelassen die der Vorleser, so wie der Schauspieler, durch eigne Phantasie auszufüllen verbunden ist. Indessen gewinnt auch die Lebhaftigkeit der Darstellung bey einem vollendeten Charakter, wenn der Künstler, der gleichsam die Mittelsperson zwischen dem Dichter und einem Theil des Publikums ist, durch glücklich gewählte Nebenzüge, dem Gemählde mehr Individualität zu geben weiß. Und hier öfnet sich ein unermeßliches Feld für Deklamation und Mimik.

Bey nicht dramatischen Produkten wird der Charakter durch den Innhalt bestimmt. Der Vorleser idealisirt sich das gegebene Werk der Beredsamkeit oder Dichtkunst zu der Schöpfung eines einzigen Moments und dann denkt er sich [106] in die Stelle des Verfassers während dieses Moments.

Es ist Pflicht des Vorlesers, das Coulissenspiel der Autorschaft möglichst zu verbergen. Was wir von ihm empfangen, muß als ein freyes Produkt der schönen menschlichen Natur erscheinen.

Es giebt wenig Schriftsteller die einen gewissen Charakter durchaus behaupten, und bey denen man keine Ungleichheiten des Tons bemerkt. Fehler dieser Art können durch den Vorleser unmerklicher gemacht werden, wenn er Licht und Schatten klüglich zu vertheilen weiß.

Der Vorleser ist Repräsentant des Autors. Was diesen von einer nachtheiligen Seite darstellen könnte, muß er vermeiden. Dahin gehören Züge der Eitelkeit oder Selbstgefälligkeit im Moment der Leidenschaft – Anmaßung einer geistigen Ueberlegenheit über sein Publikum – unzeitige Kälte, oder geheuchelte und übertriebene Wärme und dergleichen.

Das Bild des Verfassers im Augenblicke der Begeisterung soll unserer Phantasie durch die Kunst der Deklamation vorschweben. In diesem Bilde muß sich Würde, die immer mit wahrer Begeisterung verbunden ist, mit Anmuth vereinigen.




[107] Den Charakter selbst kann der Vorleser nicht unmittelbar darstellen. Er sucht zunächst die Gefühle zu versinnlichen, welche die Gedankenreihe begleiten, und aus der Einheit dieser Gefühle entspringt sodann die Total-Vorstellung des Charakters.

Die menschlichen Gefühle lassen sich ihrer Verschiedenheit ohngeachtet in zwey Hauptklassen bringen.

Bey jedem Gefühle liegt die dunkle Vorstellung von dem Verhältnisse zum Grunde, in dem unser Ich, oder das, was wir zu unserm Ich rechnen, gegen irgend einen Theil der Außenwelt sich befindet.

Der Trieb unsre Existenz zu erhöhen und zu vervielfältigen, von innen, und der Widerstand gegen die Befriedigung dieses Triebes von außen bringt die Erscheinung hervor, welche Leben genannt wird – der Kampf des einzelnen Wesens gegen die Theile des Weltalls, die es berührt.

So bald der Mensch sich bewußt ist, ob dieser Kampf zu seinem Vortheil oder Nachtheil in dem gegenwärtigen Momente sich entscheidet, so fühlt er seinen Zustand.

Dies Gefühl ist entweder erhebend – durch den errungenen oder geahndeten Sieg – oder niederdrückend – durch das Uebergewicht der äußern beschränkenden Kräfte.

[108] Liebe und Selbstsucht bestimmen bloß den Umfang dessen, was jeder als Theile seines Ichs – und oft vielmehr als ein besseres Ich – von der übrigen Welt absondert.

Die Zeichen der erhebenden Gefühle sind: steigender Ton – geschwinderer Takt – stärkere Aussprache – freye Brust ohne Aufsparung und Zurückhaltung des Odems.

Die Zeichen der niederdrückenden Gefühle dagegen: sinkender Ton – langsamerer Takt – schwächere Aussprache – gepreßte Brust mit Zurückhaltung des Odems.

Diese Zeichen sind die Musik des Vorlesers. Aber weil er eben auf diese wenigen Mittel eingeschränkt ist, so ist desto größere Sparsamkeit in ihrem Gebrauche nöthig.

Daher das erste Gesetz der Deklamation: nicht das kleinste Zeichen einer leidenschaftlichen Stimmung in den Momenten der Ruhe zu verschwenden.




Das Moment wenn bey einer gegebenen Gedankenreihe die ruhige Stimmung in eine leidenschaftliche übergeht, und die Entscheidung der Frage: ob das leidenschaftliche Gefühl erhebend oder niederdrückend ist? wird durch den Charakter bestimmt.

[109] Jede dieser Erscheinungen in der Reihe der Gefühle soll aus den besondern Ideenverbindungen, Meynungen, Trieben, Gewohnheiten, Schicksalen erklärbar seyn, die zusammen genommen die individuelle Form eines menschlichen Wesens bilden.

Die Minen des Charakters werden durch diese einzelnen Züge dargestellt, welche die Wirkung des Gedankens auf die Person versinnlichen; für die fortdauernde Physiognomie giebt es besondere Zeichen in den Momenten der Ruhe. Die Höhe oder Tiefe des Tons – der langsamere oder geschwindere Takt – die stärkere oder schwächere Aussprache müssen für alle Momente, wo der Gedanke in der Person keine Veränderung bewirkt, so gewählt werden, daß sie die herrschende Stimmung des Charakters bezeichnen.

Dieß ist eine der schwersten Aufgaben für den Vorleser. Hier ist die Stelle, wo der Geist der Antike sich von dem modernen überladenen Geschmack unterscheidet, wo Ruhe sehr leicht in Leerheit und Lebensfülle in Carricatur ausarten kann.




Nur menschliche Natur ist ein Gegenstand für die Darstellung der Deklamation. Nachahmung eines Geräusches ist hier, wie in [110] der Musik Entweihung der Kunst, die bloß zu Seelengemählden bestimmt ist.




Eine Reihe von Beugungen der Stimme, die sich dem Gesang nähert, ohne je zum wirklichen Gesang zu werden, kann man theils als Mittel der Darstellung, theils als ein für sich bestehendes Ganze, wie ein Produkt der Tonkunst betrachten.

Zu den Foderungen der Kunst gehört daher noch eine gewisse Schönheit, die von dem Reichthum und der Lebhaftigkeit der Phantasie in dem Ideale, und von der Wahrheit und Vollständigkeit in der Ausführung unabhängig ist.

Es giebt auch für die Deklamation eine Schönheit der Theile und eine Schönheit des Ganzen.

Jeder einzelne Laut muß eine veredelte menschliche Natur ankündigen. Dahin gehört eine wohlklingende Stimme, wo das Geistige des Tons gleichsam nur in der feinsten irdischen Hülle erscheint, die von allem unedlen Stoffe gereinigt ist – Biegsamkeit des Organs, wodurch die Uebergänge verschmolzen werden – Reinheit und Deutlichkeit der Aussprache – weder kränkelnde Mattigkeit, noch wilde Kraft in der Stärke des Tons.

[111] Die Schönheit des Ganzen wird bewirkt, durch Anordnung – Haltung – Contraste.

Ein Werk der Beredsamkeit oder Dichtkunst von größerem Umfange kann als ein Ganzes von der menschlichen Fassungskraft nicht übersehen werden, wenn es nicht in größere Theile, wovon jeder für sich wieder ein kleineres Ganze ausmacht, abgesondert ist. Diese Abschnitte werden durch Ruhepunkte bezeichnet. In zu großer Anzahl würden sie der Deklamation etwas Abgerißnes, Unzusammenhängendes geben, so wie dagegen ihr zu seltner Gebrauch den Zuhörer ermüdet.

In den einzelnen Gruppen der Deklamation unterscheiden sich wieder besondere Theile, welche einen größern oder geringern Grad der Aufmerksamkeit fodern. Was die Mahlerey zu diesem Behuf durch Licht und Schatten oder durch die Abstuffungen des Kolorits bewirkt, leistet die Deklamation durch höheren oder stärkeren Ton, schnellere Bewegung, Spannung und Nachlassung in den Werkzeugen des Athemholens – kurz durch alles was zur Accentuation gehört.

Jedes zusammengesetzte Ganze, das wir mit Wohlgefallen betrachten sollen, muß mannigfaltig seyn. Einförmigkeit trägt das Gepräge der Armuth an schöpferischer Kraft. Daher die [112] Nothwendigkeit der Contraste in allen Produkten der menschlichen Kunst. Auch in einer Reihe von Tönen giebt es eine Art von wellenförmiger Bewegung – gleichsam die Spur der Zartheit und Lebenskraft in dem Künstler – Natur und Einfachheit sind aber das höhere Gesetz, dem diese sich unterwerfen müssen, wenn sie nicht in das Gesuchte und in gothische Verschnörkelungen ausarten sollen.




Es giebt dreyerley Accente in der Deklamation, für den Verstand, für das Herz, und für das Ohr.

Im Falle der Collision muß das Ohr dem Verstande und dem Herzen nachstehen; aber ob das Herz dem Verstande nachstehen soll, kann nur der Grad der darzustellenden Leidenschaft entscheiden. Gewisse Kühnheiten in der Deklamation sind oft äusserst charakteristisch, so wie in allen Künsten das Erhabene an das Unnatürliche gränzt.

K.

Anmerkungen

  1. Bey dem, was über Deutlichkeit gesagt ist, liegen gröstentheils die Bemerkungen des Herrn M. Schochers zum Grunde.