Textdaten
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Autor: Leopold Katscher
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Titel: Idealstädte
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aus: Die Gartenlaube, Heft 2, S. 32, 34
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1885
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Idealstädte.

Ueber den Ocean dringen zu uns Nachrichten von einer neuen, merkwürdigen Stadt, einer verwirklichten Utopie. Selbstverständlich mangelt es da nicht an den bekannten geradlinigen, hübschen Straßen Amerikas; dazu kommt. daß jedes Haus von einem großen. schönen, eingefriedigten Garten umgeben ist. In unseren eisernen Zeiten kann selbst ein Utopien nicht ohne Maschinenwerkstätten ins Leben treten, wenigstens in den Vereinigten Staaten nicht; aber die Waggonfabriken können zum Mindesten inmitten eines Parkes liegen, und in diesem befinden sich viele Springbrunnen, künstliche Felsen und ein See. Auch die nothwendigen Uebel, so man Kaufläden nennt, müssen vorhanden sein, allein sie sind sammt und sonders in einer Arkadenhalle untergebracht, und die Fleischhauereien müssen sich mit einer abgesonderten Verkaufsstelle begnügen, damit Auge und Ohr des Bazarpublikums nicht in anti-utopischer Weise beleidigt werden. Schule, Kirche und „Hospitium“ – ein Unterhaltungslokal – sind aufs Beste eingerichtet. Da alle Utopier reines Wasser als eines der wichtigsten Erfordernisse des Lebens betrachten, finden wir in der Mitte unserer Idealstadt ein riesiges Reservoir, aus welchem das klare Naß geleitet wird. Noch angenehmer als die hier herrschende Reinlichkeit und Ordnung soll den Besucher die Art und Weise berühren, wie sich die Einwohner unterhalten. Sie suchen nicht Stammkneipen und Weinhäuser oder Bierhallen auf – Einrichtungen solcher Gattung giebt es in diesem modernen Utopien überhaupt nicht – sondern rudern singend auf dem See umher, andere spielen auf der Wiese Ball oder lauschen der Parkmusik. Die Hauptrolle jedoch spielt die geistige Erholung: das Theater, die öffentliche Bibliothek, der Debattirklub, der litterarische Verein finden starken Zuspruch. Noth und Elend sind da unbekannte Dinge, wenngleich natürlich von materieller Gleichheit eben so wenig die Rede sein kann wie von geistiger oder physischer, so sind doch in diesem Falle die Gegensätze nicht so groß wie gewöhnlich.

Die meisten Reisenden. die über merkwürdige Städte jenseit des Oceans berichtet haben, unterließen wohlweislich die Angabe, in welcher Gegend der Neuen Welt ihr Utopien liegt. Was die von uns ins Auge gefaßte Idealstadt aber betrifft, so liegt kein Grund vor, ihre geographische Lage zu verheimlichen: sie ist nicht weit von Chicago. Nicht einmal ihr Name braucht „unter uns“ zu bleiben – sie heißt Pullman City. Wer kennte nicht den Namen Pullman? Welcher Reisende hatte nicht schon einen „Pullman Sleeping Car“ gesehen oder gar in einem solchen geschlafen? Alle Welt weiß, daß unter „Pullman“ ein Eisenbahn-Schlaf-Waggon zu verstehen ist. Daß „Pullman“ ein Menschenname, weiß freilich nicht Jedermann. George M. Pullman erfand die bekannten Schlafwagen und verkaufte sein Patent an eine Aktiengesellschaft. Der Aufschwung, den das Geschäft der letztern nahm, machte im Jahre 1880 die Errichtung neuer Gebäude nöthig. Dieser Umstand gab dem als Direktor der Palace Car Company fungirenden Erfinder Gelegenheit, eine alte Lieblingsidee zu verwirklichen. Er hatte in Chicago die schlimmen Schattenseiten der Großstädterei beobachtet und war entschlossen, seine Untergebenen vor denselben zu bewahren. Er gewann die Ueberzeugung, daß der Durchführung seines Planes keine anderen als finanzielle Schwierigkeiten im Wege stünden und diese ließen sich leicht beseitigen. Er huldigte dem Grundsatze: „In der menschlichen Natur steckt ein erheblicher guter Keim, und es hängt ganz von den umgebenden Verhältnissen ab, ob derselbe zur Entwicklung gelangt oder nicht.“ Er wußte, daß in den übervolkerten Großstädten die Arbeiterklasse zumeist auf elende Wohnungen angewiesen ist, in denen die Reinlichkeit oft zur Unmöglichkeit wird, sowie daß die schlechte Gesellschaft, welche gewisse Stadttheile bewohnt, auf Bevölkerungselemente, die unter anderen Umständen vielleicht gut gedeihen würden, moralisch, geistig und physisch schlechte Einwirkungen ausübt.

Da rohe, schwächliche, trunksüchtige, unwissende Arbeiter nicht so leistungsfähig sind wie gesittete, gesunde, mäßige und nach Bildung strebende, so kam Mr. Pullman auf den Gedanken, es müsse rentiren, eine Idealstadt für seine Angestellten zu bauen. Gesagt, gethan, und jetzt werden in Pullman City, vierzehn englische Meilen von Chicago entfernt, auf einem erklecklichen Stück Landes die bekannten Schlafwagen gebaut. Die Stadt zählt über 2000 Einwohner, ausnahmslos lauter Brotnehmer der genannten Firma. Die Voraussetzungen unseres Utopisten sind in jeder Hinsicht eingetroffen. Die Ortschaft ist schon über vier Jahre alt und hat noch immer keine Ursache zur Klage gegeben. Diejenigen Arbeiterfamilien, welche früher im Schmutz lebten, zögerten nach ihrem Einzug in die hübschen neuen Cottages nicht, die Fenster mit Blumen zu schmücken und ihre eigene Person reinlich zu halten.

Das Schönste an der Sache ist vielleicht, daß Pullman City sein Gedeihen durchaus nicht dem von der britischen Rasse so hochgeschätzten „local self-government“, der städtischen Selbst-Verwaltung, verdankt, denn – man höre und staune – es besitzt überhaupt keine Behörden: [34] politisch gehört es natürlich zu einem Bezirk und einem Unionsstaat – Verwaltungs-Ortsbehörden aber hat es nicht. Die Stadt ist Eigenthum der Palace Car Company und wird ausschließlich von dieser und ihren Angestellten verwaltet. Der Reisende steigt in dem von einem Pullman’schen Beamten geleiteten Gasthof ab, besucht das Pullman’sche Theater, trinkt das Wasser der Pullman’schen Wasserleitung, brennt das Gas der Pullman’schen Gasanstalt, miethet ein Pferd im Pullman’schen Marstall, wohnt in der Schule dem Unterricht der Kinder des Pullman-Völkchens durch Pullman’sche Beamte bei, wechselt einen Check in der Pullman’schen Bank, wird des Nachts von der aus Pullman’schen Untergebenen bestehenden Feuerwehr bewacht. Er kann nichts einkaufen, wenn er nicht gesonnen ist, bei Leuten Pullman’s einzukaufen. Er wird vergeblich nach Polizisten, Konstablern, Gerichtshöfen u. dergl. suchen; diese Behelfe der modernen Kultur haben sich bisher als ganz überflüssig erwiesen. Etwaige Ruhestörungen oder Streitigkeiten würde Herr Pullman selber aburtheilen, bislang jedoch ist diese Nothwendigkeit noch nie eingetreten. Offenbar übt der praktische Erfinder und Direktor eine Art „aufgeklärten Despotismus“ aus. Uebrigens ist seine Idealstadt nicht nur ein menschenfreundliches, sondern für seine Aktiengesellschaft auch ein rentables Unternehmen, das sechs Prozent des daran gewendeten Kapitals abwirft. Wie oft könnten in ähnlicher Weise Menschenfreundlichkeit und Geschäft Hand in Hand gehen, wenn Kapitalisten mehr an ihre Mitmenschen denken würden und wenn sie in dieser Beziehung unternehmungslustiger wären!

Bestrebungen verwandter Natur machen sich seit Kurzem in der britischen Viermillionenstadt geltend [1]. Schon der berühmte anglo-amerikanische Menschenfreund Peabody hatte große Summen zur Errichtung und Verwaltung ausgedehnter Komplexe von guten, wohlfeilen Arbeiterwohnungen hinterlassen. Diese Kapitalien tragen ebenfalls Zinsen, welche zur Erbauung neuer Häuser dienen. Doch liegen die Peabody-Komplexe zumeist inmitten der bevölkertsten Bezirke Londons. Nach anderen Grundsätzen verfährt die dortige „Gesellschaft für Handwerker-, Arbeiter- und andere Wohnungen“; sie ist auf dem besten Wege, der Oeffentlichkeit, welche sich seit einigen Monaten so eifrig und ernst mit der Wohnungsfrage der proletarischen Bevölkerungsschichten Londons befaßt, zu zeigen, wie diese brennende Frage sich am zweckmäßigsten lösen lasse.

Die Häuserkomplexe dieser Gesellschaft, deren Mitgliederliste zahlreiche hervorragende Namen aufweist (wie Tennyson, Salisbury, Tyndal, Rothschild und Andere), befinden sich nicht in der Stadt, sondern in nächster Nähe derselben und bilden selbst kleine Städte, sogenannte „estates“, und dann sind sie keine „Zinskasernen“ nach festländischer Art, wie die Wohnungen der Peabodystiftung, sondern separirte Häuschen nach dem in England allgemeinen Muster. Der erste „estate“ (Liegenschaft) der in Rede stehenden Gesellschaft, Shaftesbury Park Estate, wurde im Süden Londons im Jahre 1874 eröffnet; bei dieser Gelegenheit äußerte Disraeli-Beaconsfield: „In meinem Leben war ich über nichts so erstaunt wie über den Anblick dieser sozusagen aus der Wüste erstandenen Stadt.“ Wie würde der bewährte Staatsmann sich erst über den im Nordosten liegenden, vor etwa zwei Jahren eingerichteten Queen’s Park Estate wundern, könnte er denselben sehen! Umfaßt der Shastesbury-Komplex vierzig Morgen Landes mit 1200 Häusern, so zählt der von Queen's Park 2176 Häuser, die sich auf siebzig Morgen vertheilen. Die Straßen haben eine Gesammtlänge von neun Zehnteln einer geogr. Meile, sind breit und gut gepflastert, die Gebäude bestehen aus Ziegeln, sind mit Terrakotta verziert und erregen im Beschauer durch ihr nettes Aeußere um so größere Befriedigung, als die meisten Insassen gewöhnliche Arbeiter mit geringem Einkommen sind. Die vortreffliche Organisation und die Wohlfeilheit des Eisenbahnverkehrs ermöglichen es den Bewohnern der Estates, ihre Arbeitsplätze rasch zu erreichen und am Abend aus der ungesunden Metropole in bessere Luft zu entfliehen.

Unsere Gesellschaft hat zum Zweck die Errichtung von bequemen, gesunden, geräumigen, angenehmen Häuschen mit je einem Vorder- und einem Hintergarten. Je nach ihrer Größe - in der qualitativen Beschaffenheit ist kein Unterschied vorhanden - gehören die Wohnungen einer der fünf folgenden Klassen an: I. zwei Wohn-, vier Schlafzimmer, Spülküche, Küche, Waschkammer; Miethzins zwölf Mark wöchentlich. II. Ein Wohn-, drei Schlafzimmer etc. wie oben, Zins zehn Mark. III. Dasselbe. nur etwas kleiner, neun Mark. IV. Ein Wohn-, zwei Schlafzimmer etc. wie oben, siebenundeinhalb Mark. V. Ein Wohn-, zwei Schlafzimmer. Küche, Waschkammer; Zins sechs Mark für die Woche. Jedes Zimmer ist mit Tobin’schen Ventilationsröhren versehen. Die Oefen, die Gesimse, die Tapeten sind hübsch und gut. Die Fußbodenbretter liegen – im Gegensatz zu den meisten Leistungen der vielen Massen-Schwindelbaumeister Londons – ganz dicht beieinander, abgesehen davon, daß sie ungewöhnlich dick sind. Ein Haus, das jährlich 312 Mark kostet, ist genau so eingerichtet wie ein doppelt so theures. Der Fachmann, der die Estates besichtigt, gelangt alsbald zur Erkenntniß, daß allen bau-hygieinischen Anforderungen hier Rechnung getragen worden, sowie daß die Bedürfnisse der Insassen in einer Weise berücksichtigt sind, die einem gewöhnlichen Hausbesitzer Schrecken einjagen würde, wenn man ihm die Nachahmung zumuthete. Ein intelligenter Mensch mit mäßig starker Familie und mäßigem Einkommen kann sich, sei er nun Industrie-Arbeiter, Gewerbsmann oder Mitglied der freien Stände, keine bessere, hübschere und billigere Wohnung wünschen als ein Haus erster Klasse der Dwellings Company, das auf ein ganzes Jahr blos 624 Mark kostet. Diese Häuser sind denn auch sehr gesucht, und ihre Insassen werden von manchen besser gestellten Bürgern der Mittelklasse beneidet, denen es aus irgend einem Grunde unmöglich ist, nach einem der Estates zu ziehen. Man braucht weder Philanthrop noch Enthusiast zu sein, um anzuerkennen, daß die „Gesellschaft“ sich, außer einem Erträgniß von fünf Prozent, große „Verdienste“ erwirbt.

Die „Dwellings Company“ ist, von ihren seitherigen Erfolgen angespornt, vor einiger Zeit an die Anlage eines dritten Städtchens geschritten: „Noel Park Estate“, auf dem bislang 381 Häuser stehen, wurde erst ganz kürzlich „eröffnet“. Dieser Komplex, der größte von allen, mißt hundert Morgen und liegt nördlich von London, in der Nähe des bekannten Volksbelustigungslokals „Alexandrapalast“, also in prachtvoller Umgebung und herrlicher Luft. Im Ganzen sollen hier 2600 Wohnungen erbaut werden; die Hauptstraßen sollen neunzig, die übrigen sechszig Fuß breit sein. Schon die jetzt fertigen Straßen weisen längs des Trottoirs Baumreihen und auf dem Fahrweg vorzügliches Bodenmaterial auf. Die Häuser werden auch hier fast in allen Fällen sofort nach dem Austrocknen bezogen – so lebhaft ist die Nachfrage.

Auf allen drei Estates wird für die religiösen und geistigen Bedürfnisse der Bewohner und für ihre Erholung im Freien nach Thunlichkeit gesorgt. Es fehlt nicht an Kirchen, Schulen, Lesezimmern, Versammlungslokalen und öffentlichen Gärten. Die Pflege von Fensterblumen und Topfgewächsen wird erfolgreich ermuthigt. Das Erfreulichste aber ist, daß es in keinem der Ideal-Städtchen der „Gesellschaft“ ein Wirthshaus giebt; die Gesellschaft gestattet nicht, daß „Ginpaläste“ errichtet werden, und ihre Miether sind mit dieser Bestimmung vollkommen einverstanden – ja, sie widersetzen sich sogar der Eröffnung von Schenken in der Nähe der „Estates“. Schon die Nüchternheit allein sichert diesen vernünftigen Leuten einen gewissen Grad von Glück, Behagen und Gesundheit, die gute Luft und die Reinlichkeit thun ein Uebriges.

Die „Company“ besaß vor Kurzem nahezu viertausend Häuser: 452 erster, 994 zweiter, 1418 dritter, 731 vierter, 92 fünfter Klasse. Daß sie so gute Wohnungen so wohlfeil herstellen und dabei noch einen leidlichen Gewinn erzielen kann, wird nur dadurch ermöglicht, daß sie ihre Einkäufe in größtem Maßstabe macht und daher beträchtliche Ersparnisse an den Preisen erzielt. Sie bestellt zwölf Millionen Ziegel auf einmal und läßt aus Schweden riesige Ladungen Hölzer kommen; in einem Schuppen auf Noel Park Estate trocknet sie eine Million Fuß Bretter, die, trocken gekauft, viel mehr kosten würden als die hunderttausend Mark, die sie in Wirklichkeit kosten. Tapeten, für die in gewöhnlichen Detailgeschäften zwei Mark verlangt wird, kommen der „Company“ blos auf siebzig Pfennig zu stehen. Solcher Vortheile kann sich kein Privatbaumeister rühmen! Das sind Fingerzeige für die mit der Lösung der Arbeiterwohnungsfrage betrauten Faktoren! Nicht nur in London, sondern auch in Paris, Berlin und Wien, wo die Miethzinse viel höher sind als in der Metropole an der Themse, thäte man gut, sich mit den von uns geschilderten Idealstädten näher zu beschäftigen Leopold Katscher.     


  1. Diese Bestrebungen sind zum Theil denjenigen ähnlich, die wir in unserm Artikel „Ein Kampf gegen den Schmutz“ in Nr. 49, 1884 besprochen haben. Eine ausführliche Belehrung über diese Frage findet der Leser in dem neuerschienenen trefflichen Werke: „Die Wohnungen der arbeitenden Klassen in Londen“ von Dr. Wilhelm Ruprecht (Vandenhoeck und Ruprecht’s Verlag, Göttingen).