Textdaten
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Autor: Leo Silberstein
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Titel: Hochbahnen
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aus: Die Gartenlaube, Heft 6
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1893
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Fortschritte und Erfindungen der Neuzeit.

Hochbahnen.
Von Leo Silberstein.

Wie die Elektrizität Licht, Kraft und Rede auf weite Entfernungen vermittelt, so ist auch die Beförderung von Personen und Gütern eine ihrer vorzüglichsten Aufgaben. Auf dem Gebiet der Straßenbahnen hat diese Aufgabe bereits eine annehmbare Lösung gefunden. Der Strom eilt in einer Drahtleitung dem fahrenden Wagen nach, fließt aus einer metallenen Gleitstange in ihn über und versetzt den Motor in Drehung. Dieser Motor befindet sich in der Regel unter dem Gefährt, ist äußerst einfach, leicht und billig, und seine ursprüngliche Empfindllchkeit gegen Erschütterungen, sowie gegen den Unrath der Straße ist durch Verbesserungen endlich glücklich überwunden; er kann gereinigt werden, ohne eine besonders zarte Behandlung zu beanspruchen. Endlich ist er leicht zu lenken, in Gang zu setzen und anzuhalten, und was noch mehr als alle diese Bequemlichkeiten bei einem großen Verkehr in die Wagschale fällt: seine Einträglichkeit ist so gut wie gesichert, wenn es auch den Anschein hat, als ob auf europäischem Boden dies nicht in demselben Maße wie drüben in Amerika sich herausstellen wollte. Und so wird es doch wohl noch soweit kommen, daß überall das Straßenbahnpferd, diese thierische Maschine mit ihren Bedürfnissen an Fütterung, Pflege, Schonung, Stallraum, durch die viel anspruchlosere metallene Maschine ersetzt wird.

Hochbahn nach dem System „Enos“

Auf dem Gebiet der elekkrischen Straßenbahnen machen sich zwei Richtungen geltend, in denen der erfinderische Geist auf die Suche gegangen ist: die eine arbeitet mit oberirdischer, die andere mit unterirdischer Stromzuleitung. Die erste besteht darin, daß die elektrische Betriebskraft in einem Draht fließt, der hoch über den Köpfen der Fußgänger und Fuhrwerke, 6 Meter über der Straßenlinie, gespannt ist.

Die Telpherlinie, zur Personenbeförderung eingerichtet.

Für das zweite, das unterirdische System, wäre es wohl am einfachsten gewesen, die Elektrizität durch die bloße Fahrschiene zuzuleiten. An diesen Gedanken knüpften sich die ersten Hoffnungen, und in dieser Weise baute auch der kürzlich verstorbene Werner v. Siemens seine erste Bahn in Lichterfelde, überhaupt die erste elektrische Bahn der Welt für den Alltagsverkehr. Allein diese allzugroße Einfachheit hat sich nicht bewährt. Benutzt man nämlich eine der Schienen zur Stromleitung, so geht, abgesehen von anderen Unannehmlichkeiten, zu viel Elektrizität durch das Erdreich verloren. Zur Stromrückleitung hingegen ist die Schiene vollkommen verwendbar. Man sah sich daher genöthigt, für die Zuleitung eine Kupferstange zu benutzen, die entweder in einem offenen oder in einem geschlossenen Kanal zwischen den Schienen, oder in dem Hohlraum einer der beiden Fahrschienen, die zu diesem Zwecke kastenförmig gegossen wurde, dahinlief. Ist der Kanal offen, dann reicht durch seinen Schlitz ein Arm vom Wagen hinunter und holt sich dort seinen Strombedarf. Ist der Kanal geschlossen, dann wird natürlich die Art, wie der Wagenmotor zu seiner Elektrizität kommt, eine sehr verwickelte. Alles in allem genommen sind die unterirdischen Anlagen sehr theuer, durch ihre Kompliziertheit unangenehm und häufigen Reparaturen unterworfen, und die mit offenen Kanälen noch nebenbei allerlei Beschädigung durch schlechtes Wetter oder Bubenhand ausgesetzt.

Es erscheint nun als ein Ausweg, die Idee der oberirdischen und der unterirdischen Leitung gewissermaßen miteinander zu verbinden, indem man die Betriebskraft zwar durch die Fahrschiene zuleitet, die Fahrschiene selbst aber samt den Wagen in die Luft hängt. Die so gewonnene Bahn würde in sich mit den Vorzügen der zwei Systeme einen dritten vereinigen: sie wäre eine Hochbahn; sie würde weder den ungeheuren Straßenverkehr der modernen Riesenstädte stören, noch von demselben gestört werden.

Werfen wir einen Blick auf das Bild eines solchen Projektes, von dem eine Versuchsstrecke in der Länge von 2 Kilometern zu St. Paul im Staate Minnesota ausgeführt wurde. In Nordamerika finden ja neue Ideen jederzeit rasche Hände und hilfbereite Kapitalien.

Diese Hochbahn, nach ihrem Erfinder als das „System Enos“ bezeichnet, ruht nur auf einer einzigen Säulenreihe, wie der Storch auf einem Bein, beansprucht also sehr wenig Raum. Die Säulen sind 13 Meter voneinander entfernt, lassen demnach dem Droschkenverkehr den nöthigen Durchpaß; sie sind 8½ Meter hoch, so daß selbst hochbeladene Fuhrwerke darunter hinweg können. Die zu beiden Seiten der Säulen wie Arme ausgebreiteten Gerüste tragen starke Fahrschienen, welche ihrer Länge nach durch ein Gitterwerk unterstützt sind; an diesen Schienen hängen die Wagen mit ihren Insassen. Sie hängen an Rollen, die über der Schiene hinlaufen, aus dieser den elektrischen Strom schöpfen und ihn dem seitlich angebrachten Motor zuführen, der sie dafür in Bewegung setzt. Unterhalb der Fahrschiene befindet sich eine kleinere Schiene, welche von kleineren Rollen rechts und links gefaßt wird, damit der Wagen nicht baumelt. Diese Führungsschiene dient auch zugleich zur Rückleitung des Stromes nach der Centralstation, wo die Kraftquellen, die großen Dynamomaschinen, stehen. Die Art der Aufhängung der Wagen ist natürlich eine solche, daß der Schwerpunkt derselben sich senkrecht unter der Trag- und Fahrschiene befindet. Die Unterkante der Wagen schwebt nie tiefer als 4,27 Meter über dem Pflaster. Auf unserem Bilde sind zwei Wagen angedeutet, der eine rechts, der andere links; sie kreuzen sich, der eine geht, der andere kommt.

So einfach dieses System ist, so würde es doch für geringwerthigere Güter, als der Mensch eines ist, also z. B. für Sand, Erz, Thonerde, Kohle, noch immer allzugroße Kosten erfordern und den Preis dieser Dinge unverhältnißmäßig in die Höhe treiben. Man mußte sich deshalb nach einem schlichteren Beförderungsmittel umsehen, einem solchen, das keiner Straße benöthigt, also gleichsam den Flug des Vogels nimmt, für das demnach kein Boden augekauft werden muß, das den Bau von Brücken, Dämmen, Durchlässen erspart, das über Bäche, Gräben, Erdspalten, Ungleichheiten des Bodens wegsetzt, das weder Begleitung noch Führung beansprucht, sondern ganz allein seinen Weg verfolgt, das die Landwirthschaft nicht stört wie jene Bahnböschungen, welche dem Pflug des Bauern Halt gebieten. Ein solches Betriebsmittel ist gefunden; es ähnelt der eben beschriebenen Enos’schen Hochbahn so sehr, als ob es daraus entsprungen wäre; es ist aber bedeutend älter und unterscheidet sich von jener durch einen viel weniger soliden Bau: wir meinen die elektrische Seilbahn, oder die „Telpherage“.

Die Telpherlinie.

Da sind Paare von Holzpfosten 20 Meter weit voneinander in den Erdboden eingerammt; auf jedem liegt ein Querbalken. Ueber die Querbalken laufen statt der Schienen zwei starke Drähte (S) aus Bessemerstahl für zwei in entgegengesetzter Richtung fahrende Züge. Jeder Draht hat die Doppelaufgabe, einerseits die Rollen (P) der fahrenden Körbe (N) und der Lokomotive (M) zu tragen, somit als Schiene zu dienen – freilich eine sehr schwankende Schiene – andererseits die Stromzuleitung zur Lokomotive zu besorgen. Wenn die Tragkörbe an der Endstation angekommen sind, stoßen sie an einen Auslöser, kippen infolgedessen selbstthätig um und entleeren sich. Unter der Lokomotive dürfen wir uns natürlich nicht vorstellen, was wir gewöhnlich darunter verstehen, so ein rundliches rauchendes Ungeheuer mit pustendem Schlot und schriller Pfeife. Sie ist eher etwa einem eisernen Stuhl ohne Beine zu vergleichen, der also nur aus Sitzbrett und Lehne besteht. Auf dem Sitzbrett ist ein kleiner Elektromotor von wenigen Pferdekräften festgeschraubt; die Lehne hängt mit einigen Rollen (Q) am Drahtseil. Das Gewicht der ganzen Lokomotive ist nicht größer als das eines beladenen Tragkorbes. Sie würde deshalb bei einem größeren Lastzug zu gleiten anfangen und nicht von der Stelle kommen, wenn nicht ihre Fahrrollen mit Gummireifen überzogen wären, wodurch eine stärkere Reibung auf dem Geleisedraht erreicht wird.

Der Erfinder des Telphersystems ist der verstorbene Professor Fleeming-Jenkin, [094] der die erste Linie zu Glynde in der Grafschaft Sussex auf dem Gute des Lord Hampden im Jahre 1885 in Angriff nahm. Damals hat auch die „Gartenlaube“ (Jahrgang 1885, S. 880) kurz darüber berichtet. Die Linie war eine englische Meile lang und beförderte Thonerde nach der Sussex-Portland-Cement-Fabrik. Da Jenkin während des Baues starb, wurde die Strecke von Professor John Perry zu Ende geführt. In Amerika sind die Telpherlinien vielfach in Verwendung. Die längste mißt etwa 300 Kilometer; sie befördert die Briefschaften zwischen Buenos-Ayres und Montevideo in regelmäßigen Zwischenräumen von je zwei Stunden hin und her. Eine der späteren Anwendungen, welche das Auge der Fachmänner und das Interesse des Publikums auf sich lenkte, war die Telpherlinie auf der letzten elektrischen Ausstellung zu Edinburgh im Jahre 1890 (siehe die Abbildung auf Seite 93). Ihre Neuheit bestand darin, daß sie zur Personenbeförderung benutzt wurde. Ein Zug von drei Wagen lief über ein starkes Drahtseil aus Stahl in der Dicke von 33 Millimetern, das an den Wegkrümmungen durch eine gebogene Schiene ersetzt war. Jeder Wagen hing an seinen Laufrädern mittels Federn (M), so daß er durch sein Gewicht immer in senkrechter Lage verblieb, selbst wenn das Seil etwas bergan stieg; er enthielt Sitzplätze für vier Passagiere. Die Lokomotive entnahm ihre Triebkraft einem zweiten dünnern Drahte, der auf Isolatoren, ähnlich den Porzellanglocken der Telegraphenstangen, ruhte. Den Rückweg nach der Centralstation dagegen suchte der Strom durch das Geleisedrahtseil selbst.

Ob eine solche Anlage für den Personenverkehr in größerem Maßstabe sich eignet, hauptsächlich angesichts der Gefahren, welche aus der geringen Festigkeit des Baues oder einem Seilbruch drohen, mag noch dahingestellt bleiben. In Edinburgh war es das Schwanken des Seils und das damit verbundene Auf- und Niederhüpfen der Wagen, worüber die Fahrenden nicht gerade entzückt waren, und das ist erklärlich in einem Jahrhundert, das mit demselben Recht das elektrische wie das nervöse genannt wird. Manche Leute freilich würden selbst eine etwas gewaltsame Schaukelbewegung jenem entsetzlichen Rasseln, Schütteln und Stoßen vorziehen, das leider noch immer so viele unserer Eisenbahnwagen auf festem Schienenstrang auszeichnet.