Textdaten
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Autor: Jean Nötzli
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Titel: Heilige Erde
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aus: Die Gartenlaube, Heft 23, S. 383–386
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1871
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Heilige Erde.
Von J. Nötzli.


Etwa eine halbe Stunde unterhalb Rappersweil, noch im Schatten des waldigen Etzels, entsteigen den dunkeln Gewässern des lieblichen Zürichsees zwei kleine, freundliche Eilande, der schönen Landschaft noch einen erhöhtern Reiz verleihend.

Das kleinere, die Lützelau, umrahmt von einem breiten Kranze üppig sprießenden Uferschilfes, in dem die schlanke, muntere Möve ungestört ihr neckisches Spiel treibt, umspannt nur wenige Morgen Landes, die sich in ihren höchsten Punkten kaum zwanzig Fuß über die Spiegelfläche des Sees heben. Offenbar war die Insel einst größer, denn die Chronik erzählt, daß schon im achten Jahrhundert ein Frauenkloster darauf gestanden; bald aber verließen die frommen Frauen die einsame Stätte; die Mauern verwitterten, stürzten zusammen und keine Hand hat sie wieder aufgebaut. Dann sind sie herüber gekommen aus dem aufblühenden Rappersweil und haben für ihre Feste Steine geholt und so den muntern Wellen des Sees geholfen das kleine Eiland noch kleiner zu machen. Von da an blieb die Lützelau unbewahrt und unbebaut bis auf die heutigen Tage. Nur an schönen Sommersonntagen kommt die Bevölkerung der nahen Rosenstadt, Alt und Jung in bunter Schaar herüber und freut sich bei fideler „Suntigswirthschaft“ ihres Lebens.

In jeder Beziehung bedeutender als die Lützelau ist die davon südwestlich gelegene Ufnau, d. h. die obere Au, zum Unterschiede von der Au, einer bei Horgen liegenden Halbinsel, in deren reicher Waldung einst Klopstock mit seinen Freunden aus Zürich gewandelt und deren er in seiner schönen „Ode an den Zürichsee“ so dankbar gedenkt.

Die Ufnau ist vielleicht dreimal so groß als die Lützelau aber immerhin ein unverhältnißmäßig kleiner Fleck Erde zu der reichen Geschichte, die sich an ihre Scholle knüpft. Die ganze Insel – kaum eine Juchart ist mit Reben und Maiskorn bebaut – deckt freundlich grünes Weideland, dem wenige Obstbäume die Einförmigkeit des Anblicks verschönern.

Jäh und schroff steigt am südlichen Rande der Insel der malerische Arnstein, ein mächtiger Nagelfluhfelsen, aus dem See, auf seinem Rücken ein kleines Lusthäuschen mit reizender Fernsicht. Auf der entgegengesetzten Seite, auf niedriger Anhöhe, „auf Felsen gebaut“ zwei alt-ehrwürdige Kirchlein, das eine mit einem Glockenthurm und beide reich bedacht mit all jenem Bilderschmuck, zu dem die fromme Andacht so gern ihre Augen aufschlägt. Mitten in der Insel steht die Wohnung des Pächters, der das ewige Lichtlein in den Kirchen zu unterhalten und das tägliche dreimalige Läuten zu besorgen hat. Bei ihm findet der Besucher der Insel eine treffliche Bewirthung, einen delicaten Fisch und einen köstlichen Tropfen Wein, den vielberühmten „Leutscher“, der vis-à-vis der Insel auf Schwyzerboden wächst.

Es war an einem regnerischen Julitage des Jahres 1523, als, von Schirmensee kommend, ein leichter Kahn auf die Ufnau zuruderte; weit aus holte der Fährmann, doppelt eilig, doppelt kräftig schlug das Ruder den Spiegel des Sees, als ob es ihm recht angelegen sei, den stummen Fremden, der blaß und sinnend im Vordertheile des Kahnes saß, bald an’s Land zu bringen. Am Ufer stand der Pfarrer der Insel, Hans Schnegg, ein Conventualer des Klosters Einsiedeln, und harrte des Kommenden. Der Kahn legte an, mühsam erhob sich der Fremde, doch das große, dunkle Auge leuchtete auf, über das fahle, edle Antlitz flog ein Strahl der Freude, als ihm der Harrende mit freundlichem Willkomm die Hand entgegenstreckte, und Ulrich von Hutten betrat die Erde seines Grabes.

Ein jäher Schmerz muß jedes fühlende Herz durchzucken bei dem Momente, da der große, edle Kämpe verfolgt, vertrieben, zum Tode krank, zerrissen von dem innern Drange noch weiter zu kämpfen, zu schaffen, getragen von der Hoffnung hier zu gesunden, seine Hand in diejenige des Freundes legt, die ihm schon nach wenig Wochen die Augen zudrückt.

Hutten kam von Zürich, wohin er vor wenigen Tagen aus dem Bad Pfäffers zurückgekehrt war. Freunde hatten ihm gerathen, für seine schwere Krankheit die warmen Bäder in Pfäffers zu gebrauchen; aber die Hoffnung auf baldige Genesung trog ihn und seine Freunde: kranker, als er gegangen, kehrte er wieder zurück. Ein strömender Regen fiel während der ganzen Dauer seines Dortseins; die damals noch nicht gefaßten warmen Quellen wurden von der hereindringenden Regenfluth abgekühlt und verloren ihre Heilkraft. Vergebens unterzog sich Hutten der Mühe, der Qual und Gefahr, der sich die Badenden aussetzen mußten; an Stricken wurden sie zu den Quellen hinuntergelassen und verweilten dann zehn bis zwölf Stunden hintereinander in dem dunkeln, unheimlichen Orte. Bald hatte Hutten dies satt, und er schrieb an Ulrich Zwingli, daß er fort, fort wolle in freie Luft. Vergebens lud ihn der Abt von Pfäffers, J. Jac. Russinger, ein warmer Freund der Reformation, ein, besseres Wetter abzuwarten, Hutten ließ sich nicht länger halten, und von dem gastlichen Abte auf’s Sorgfältigste zur Reise gerüstet, trat der kranke Dichter die Rückkehr nach Zürich an.

Aber dort konnte seines Bleibens um keinen Preis sein; wie bald hätten ihn die Argusaugen der ihn unerbittlich verfolgenden Geistlichkeit gefunden und was wäre dann aus ihm geworden! Doch stand Hutten nicht ohne Freunde da und deren vorzüglichsten einer war der Schweizerreformator Ulrich Zwingli: dessen milde Hand hielt ihn fest und sicher und sorgte in hochherziger Weise für den „letzten deutschen Ritter“. Nachdem er ihm das Asyl auf [384] der Ufnau ausgewirkt, rüstete er ihn mit allem Nöthigen zur Reise aus, versah ihn mit Büchern und Geld; denn mittellos, von dem Nöthigsten entblößt stand der kranke Dichter da, und selbst der Ort, wo er sein Haupt hinlegen sollte, mußte seinen Feinden abgeklügelt werden, den stolzen Namen Hutten für alle Uneingeweihten verheimlichend.

Im Studienzimmer Hans Schneggen’s verbringt Hutten den größten Theil seiner Zeit; so krank er auch war, rastlos thätig war Geist und Feder. Bei stets frischer Geisteskraft arbeitete er unablässig daran, alle seine Schriften zu verbessern, sie für eine neue Ausgabe vorzubereiten. Neue Werke sind nicht entstanden, wenigstens nicht über den Plan hinaus, und die Beantwortung ihm zukommender Briefe nahm ihm nur wenige Zeit in Anspruch. Freundliche, ermunternde Worte kamen ihm von Zeit zu Zeit von Zwingli zu; aber durch diesen erhielt er auch eine Notiz, welche die Züge des Grams noch tiefer in sein edles Antlitz grub, sein so namenlos leidendes Herz noch mehr quälte und bekümmerte.


Insel Ufnau im Züricher See.


Nicht genug, daß ihn sein einstiger Freund, der große Gelehrte Erasmus, als er in Basel Hülfe suchend bei ihm vorsprechen wollte, aus Feigheit verleugnete und verrieth, trat ihm dieser nun offen als Feind gegenüber, gleichgültig gegen das Urtheil der Freunde und Gesinnungsgenossen, die sein Gebahren des Bittersten rügten und mißbilligten, und nicht ermessend, wie sehr ihn dieser perfide Act als Mensch entwürdigte.

Erasmus hatte sich in einem Schreiben an den Rath von Zürich gewendet, worin er Hutten in schonungsloser Weise angriff und verlangte, man solle ja ein wachsames Auge auf den Dichter haben, sonst könnte dieser die ihm gewährte Freistätte zu böswilligen Schriften mißbrauchen; je energischer man einem solchen Muthwillen Hutten’s entgegentrete, desto größer sei der Dienst, den man der Landschaft und den Wissenschaften leiste.

Wie bitter dieses Schreiben, das ihm auf Verlangen in Abschrift zugestellt wurde, den kranken Dichter berühren mußte, läßt sich denken, obschon der Rat von Zürich, edeldenkender als der große Gelehrte, dasselbe stillschweigend auf die Seite gelegt hatte. Jedenfalls waltete auch hierin Zwingli’s sorgende Hand, und wenn Hutten in einem bezüglichen Schreiben an den Rath sich dahin vertheidigte, daß er ebenso redliche und gute Absichten gegen die Eidgenossenschaft hege, wie er sich stets eines unantastbaren Lebenswandels bewußt sei, so waren jedenfalls alle Bedenken gehoben und Erasmus hatte in seiner Engherzigkeit Niemandem als sich selbst geschadet.

Wie einsam, wie verlassen mag sich doch Hutten oft in seiner Abgeschiedenheit gefühlt haben! Ihm blieb nichts als das erhebende Bewußtsein, stets redlich und ohne Prunk seinem innern hohen Berufe nachgekommen zu sein, mit Feuereifer gekämpft zu haben „für Bildung und Befreiung der Nation von jedem verdumpfenden Joche, mochte es durch den Einfluß der römischen Hierarchie oder durch das verkrüppelte Staatsleben herbeigeführt worden sein“.

Und der Eine, der ihn in diesem Kampfe unterstützt, der treu zu ihm gehalten in jeder Fahr und Noth, Franz von Sickingen, das männlich, ehrlich und trutzig Gemüth, war auch dahin seit wenig Wochen, gefallen, das Schwert in der Hand, unentwegt, trotzig und kühn, festhaltend an der mit Liebe und Ueberzeugung gehegten Idee, Deutschland politisch und kirchlich neugebaut zu sehen.

Trotz des Grams um den verlorenen, trotz des Schmerzes um den gestorbenen Freund, trotz alles niederdrückenden Gefühls ohnmächtiger Kampfeslust, scheint Hutten nie eine Ahnung seines frühen Todes gehabt zu haben; nirgends wenigstens deutet eine Stelle seiner Briefe darauf hin. Ob der stille Frieden seines Zufluchtsortes, ob das Hineinträumen in die schöne Landschaft, die blaue, tiefklare Fluth des Sees, die freundlichen, traulichen Dörfer an beiden Ufern, oder der Blick auf die stolzen Berge, die in ihrer majestätischen, ewigen Ruhe hineinragen in die Aetherbläue des Himmels, ihm jeden solchen Gedanken verschwinden machten oder ob sie der eiserne Wille, „es muß gehn!“ zurückdrängte, wer weiß es?

Aber der eiserne Wille war nicht eisern genug, noch eine belebende Kraft in den von der Krankheit verzehrten Körper zu bringen, ihn zu zwingen, gleichen Schritt mit der feurigen Seele zu halten. Schon am 31. August 1523 erlag Hutten einem

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Ansicht des Züricher Sees mit der Insel Ufnau.
Nach einer Originalskizze von C. Toeche in Zürich.

[386] neuen heftigen Krankheitsanfalle, erst fünfunddreißig Jahre alt, nichts hinterlassend als seine Feder und einen hellglänzenden Namen im Buche der Geschichte. Nicht einmal ein Schwert besaß „der letzte deutsche Ritter“ mehr und auch der Dichterkranz, den er so sehr liebte, war entblättert, verschwunden, verloren. Hutten’s literarischer Nachlaß, ein Bündel Briefe von und an Freunde, kam in die Wasserkirche zu Zürich.

Seine Leiche ruht sehr wahrscheinlich auf der Insel in der von der frommen Alemannenherzogin Reginlind vor neunhundert Jahren gegründeten Peters- und Paulskirche; eine genaue Kunde hierüber ist nicht auf die heutigen Tage überkommen, und wenngleich man jetzt noch zwischen den beiden Kirchen einen verwitterten Stein mit zerbrochenem Kreuze zeigt, der auf dem Grabe Hutten’s stehen soll, so deuten doch die eingegrabenen Namen darauf, daß er eher das Monument einer hervorragenden kirchlichen Persönlichkeit der Insel, als das Hutten’s sein mag.

Zwar hat zwanzig Jahre nach dem Tode Hutten’s ein fränkischer Edelmann einen Stein auf das Grab setzen lassen mit folgender, in lateinischer Sprache abgefaßter, schöner Inschrift:

„Ritter vom goldenen Rang und begabt als Redner und Dichter
     Ruht hier Hutten, zugleich mächtig mit Lied und mit Schwert.“

Aber auch dieser Stein ist längst verschwunden und kein neuer ersetzte seine Stelle. Im vorigen Jahrhundert dachte man neuerdings daran, dem großen Todten ein Denkmal zu setzen, aber – die Insel gehört dem Kloster Einsiedeln und jetzt so wenig als früher können die Söldner der katholischen Kirche ein solches ketzerisches Heiligthum auf ihrem Boden dulden. So ist nun die ganze Insel zum Wallfahrtsort und Heiligthum geworden für Alle, die in dem ritterlichen Sänger und hochherzigen Patrioten den freien, großen entschiedenen Geist der Reformation und des Humanismus erblicken; das Monument baute die Geschichte schöner, erhabener auf, als es die Hände hätten meißeln können, und wenn der Biograph Hutten’s, Fr. Strauß, mit folgenden eindringlichen Worten schließt:

„In zürnender Stellung halten wir Hutten’s Schatten fest; in ihr möge er denen erscheinen, welche die Schlüssel der Gewissen und der Geistesbildung deutscher Stämme, durch die Kämpfe wackerer Vorfahren kaum zurückerobert, kampflos auf’s Neue an Rom und eine römisch gesinnte Priesterherrschaft ausliefern; noch zürnender womöglich denen, welche im Schoße des Protestantismus selbst ein neues Papstthum pflanzen möchten; den Fürsten, die ihr Belieben zum Gesetz erheben; den Gelehrten, denen Verhältnisse und Rücksichten über die Wahrheit gehen. Er flamme in Haß in uns auf gegen alles Undeutsche, Unfreie, Unwahre; aber glühe auch als Begeisterung in unserem Herzen für Ehre und Größe des Vaterlandes; er sei der Genius unseres Volkes, so lange als diesem ein zürnender, strafender, mahnender Schutzgeist Noth thun wird“ – so ist das Jahr 1870 in seinen gewaltigen Bewegungen manchem dieser Worte gerecht geworden; der Same, der so lange ausgestreut war, ist mit einem Mal in volle Blüthe aufgegangen und Frucht geworden; im Riesenkampfe zweier Nationen hat die deutsche gelernt, daß die Einigkeit der siegende Factor, das Selbstbewußtsein das schwellende Moment des Fortschritts und die Bildung durch alle Schichten der stets belebende, unzerstörbare Nerv des blühenden, segenreichen Fortbestandes ist.

Es ist dies eine so lang ersehnte Errungenschaft der deutschen Nation, bei deren Anblick das zürnende Antlitz Hutten’s sich verklären würde, so sprühend auch das Auge funkeln würde beim Anhören der Concilskomödie in Rom, wo sich ein alter, gebrechlicher Mann, einst dem Fortschritt ein vielversprechender, glühender Jüngling, unfehlbar erklären läßt durch ein halbtausend Hirten der Christenheit.

Aber beinahe in demselben Moment, da das Anathem donnerte, die Glocken der Siebenhügelstadt der Unfehlbarkeit ihren Gruß zuriefen, in demselben Moment erzitterte der hohe Hirtenstuhl; an dem Tage von Sedan brach auch die ganze weltliche Herrschaft des Papstes zusammen und mit ihr ein großer Theil der geistlichen, vermodert, verwittert, unrettbar dem Fall hingegeben; das hohle, eitle, phrasenreiche, die Völker entsittlichende Schauspiel, dessen Urheber zu Rom im Vatican saß, ist zu Ende gespielt, das donnernde non possumus der Zeit ist erklungen und neues Leben blüht aus den Ruinen.

So hat das verflossene Jahr unserm großen Hutten ein Denkmal aufgerichtet, das weithin glänzen möge, immer frischer, immer lebendiger in späte Jahrhunderte hinein, und so findet das Wort, das der kühne Sänger einst ausgerufen, heute eine tiefere Wahrheit, eine größere Berechtigung:

„O Jahrhundert! Die Geister erwachen, die Wissenschaften blühen! Es ist eine Lust zu leben!“