Textdaten
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Autor: Wilhelm Kästner
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Titel: Heiße Stunden
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 30, S. 481–484,
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1883
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
3-teilige Erzählung
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Heiße Stunden.

Ein Idyll aus Bayreuth von Wilhelm Kästner.

Nach Wochen unaufhörlich strömenden Regens schien die langvertriebene Augustsonne endlich wieder einmal auf die kleine fränkische Stadt herab, in welcher der große Meister der Töne auf den Wink seines Taktstockes die motivbegierige Menschheit um den Gral versammelte. In den Bahnhof dieses modernen Olympia, der für solche eventuelle Völkerwanderungen in großstädtischer Weitläufigkeit und Eleganz errichtet ist, brauste soeben, mit der herkömmlichen königlich baierischen Gemüthlichkeitsverspätigung von einer guten halben Stunde, der von Neumark kommende Mittagszug ein, und Schaaren neuer Ankömmlinge entströmten aufathmend den sonnendurchglühten Coupes. Während ein Theil der Reisenden sich der vor dem Bahnhof harrenden stattlichen Anzahl von Droschken bemächtigte, eilten Andere vorerst in das wenige Schritte entfernt liegende Haus des Banquiers F., um da in dem „Bureau des Verwaltungsrathes“ den schuldigen Tribut von dreißig Mark zu entrichten und dagegen die Einlaßkarte für das Bühnenweihfestspiel einzutauschen.

Unter den Letztgenannten befand sich auch ein junger, etwa fünfundzwanzig Jahre zählender Mann von stattlicher Gestalt und frischen, einnehmenden Zügen. Sein Reisekofferchen in der einen, die errungenen Theater- und Quartierbillets in der anderen Hand, trat er als der letzten Einer wieder auf den inzwischen menschenleer gewordenen Bahnhofsplatz heraus, wo nur noch eine einzige Droschke melancholisch in der heißen Mittagssonne briet. Er hatte bereits das Gefährt erreicht, den eingeschlafenen Kutscher angerufen und den Schlag geöffnet, um sich und sein Kofferchen hineinzuschwingen, als von der anderen Seite her zwei Damen, gefolgt von einem schwerbeladenen Gepäckträger, auf den Wagen zugeeilt kamen.

„Ach, Mama, wie schrecklich! Dieser letzte Wagen ist schon besetzt,“ rief die Eine, Verzweiflung und Enttäuschung in der jugendlichen Stimme.

Die etwas corpulente Mama aber kam trotzdem vollends heran und sagte dann erst ungläubig, gedehnt: „So –?“ als der höfliche junge Mann, wie man von ihm nicht anders erwarten konnte, sein Kofferchen mit einem „Bitte, meine Damen,“ wieder zurückzog.

„Komm doch, Rosa!“ ermuthigte sie die zögernde Tochter, während sie sich bereits ganz bequem im Fond zurechtsetzte.

Einen Augenblick später rollten Beide davon, und der junge Mann, der grüßend seinen Hut zog, erhielt von der Mama ein gnädiges Lächeln, von dem blonden Töchterchen aber unter dem aufgespannten Sonnenschirm ein schüchternes „Danke sehr!“ und ein allerliebstes Kopfnicken zum Lohn dafür, daß er nun an der Seite des übriggebliebenen Gepäckträgers zu Fuß und im Schweiße seines Angesichts die Wohnung aufsuchen mußte, welche ein löbliches Bayreuther Wohnungscomité ihm gütigst angewiesen hatte. –

Zwei Stunden darauf sehen wir unsern jungen Reisenden die buntbelebte Straße hinauswandern, an deren Ende der weltberühmte Festtempel aus sanftgeschwungenen waldigen Hügeln und grünen Matten hervor winkt und lockt. Ein endloser Zug von Wagen aller Arten und Rangstufen bewegte sich in der Mitte der Straße, ein unabsehbares Gewimmel auf den Fußwegen zu beiden Seiten vorwärts.

Es ist Sonntag Nachmittag, und so sind in der Menge nicht nur die Fremden, die, festliche Spannung auf dem Gesicht, den kommenden Genüssen mit Ungeduld entgegen sehen, sondern auch die biedere Bevölkerung von Bayreuth, Alt und Jung, strömt neugierig mit hinaus, um wenigstens das bunte Schauspiel draußen, vor und zwischen dem „Bühnenspiel“, sich entfalten zu sehen.

Immer dichter wird der Menschenknäuel auf dem Festplatze, immer stärker der Andrang der Wagen – da schweben plötzlich feierlich-ernste Trompetenklänge über das Gewühl hin und laden zum Eintritt in die Hallen der Kunst. –

Es giebt bisweilen ebenso freundliche, als merkwürdige Zufälle in diesem Leben, wer wollte das leugnen? Just auf Reisen spielt der launische Glücksgott so manchen liebenswürdigen Streich, und Niemand wird daher besonders erstaunt sein, zu hören, daß unser junger Bekannter, den wir von jetzt an bei seinem Namen, Alfred Berger, nennen wollen, der Nachbar eben jener zwei Damen wurde, welchen er vor einigen Stunden einen kleinen Dienst zu leisten Gelegenheit gehabt hatte.

Als er sich mühsam durch die enge Sitzreihe an denselben vorüberzwängte, um zu seinem Platz zu gelangen, erkannte er die junge Blondine sogleich wieder, obschon sie inzwischen den grauen Reise-Anzug mit einem zarten, rosenfarbenen Gewand vertauscht hatte, in welchem sie, wie Alfred Berger sich innerlich gestand, geradezu entzückend aussah.

Auch sie erkannte offenbar den jungen Mann, denn sie erwiderte seinen Gruß mit einem freundlichen Neigen ihres lockigen Blondköpfchens. Selbst die Mama blickte einen Moment grüßend von der Partitur des „Parsifal“ auf, in der sie gleich darauf eifrig weiter las und blätterte.

Während sich Alfred Berger, nicht unzufrieden über den angenehmen Zufall, den bevorstehenden Genüssen an der Seite einer so reizenden Nachbarin entgegen sehen zu dürfen, auf seinem [482] Platze zurecht rückte und sich neugierig in dem Theater umsah, das er heute zum ersten Mal betreten, hörte er die ältere der Damen sagen:

„Sieh, Rosa, das ist die himmlische Stelle im Vorspiel, auf die ich Dich besonders aufmerksam mache. Hier – die Figur in As-dur 4/4 Tact mit der Tremolandobegleitung - hast Du es? O, ergreifend!“

Der zarte Spitzenfächer, den Rosa unablässig bewegte, ruhte einen Augenblick, während sie sich gehorsam nach der Seite der Mama über das Buch beugte und die gefeierte Stelle mit den Augen suchte, aber matt und klagend kam es von ihren Lippen:

„Ah, es ist so furchtbar heiß hier!“

„Nun, Rosa, das ist doch in diesem Augenblick Nebensache,“ wurde vorwurfsvoll erwidert.

Der Fächer spielte weiter, und Rosa seufzte leise, Alfred Berger aber ließ sich diese vorzügliche Gelegenheit zum Anknüpfen eines Gespräches nicht entgehen und wagte eine bestätigende Bemerkung über die Temperaturverhältnisse. Er wurde durch eine kleine Erwiderung beglückt in der halb befangenen, halb reservirten Weise, die sehr junge, wohlerzogene Damen bei der Annäherung Fremder anzunehmen pflegen. Weitere Conversation wurde jetzt unwillkürlich gehemmt, als plötzlich tiefe Dunkelheit das zuvor glänzend erleuchtete Haus überschattete. Die angenehme Kühle, welche anfangs in dem riesigen Raume herrschte, war, nachdem die Tausende von draußen hereingeströmt, längst entflogen, und unter schwüler, erstickender Hitze begannen aus der unsichtbaren Tiefe des Orchesters die ersten geheimnisvoll fesselnden Töne des Vorspiels zum „Parsifal“ aufzuschweben.

Doch wer hat noch Sinn, an irdische Drangsal, an Hitze und Mattigkeit zu denken, wenn die weihevollen Klänge des Gralmotivs, siegreich die elegische Klage der Schuld und des Leidens bekämpfend, erschallen, wenn endlich der Vorhang vor der Bühne sich getheilt und Gurnemauz-Scaria mit der mächtig tönenden Stimme die schlummernden Knappen erweckt hat? Wohl dauert er einunddreiviertel Stunden, der erste Act des „Parsifal“, aber Zeit und Raum sind verschwunden für die athemlos lauschende und schauende Menge, welche den „thörichten Reinen“ in die Wunderwelt des Gralheiligthums begleitet.

Sowohl Alfred Berger, wie seine jugendliche Nachbarin hatten von Anfang bis zu Ende in höchster Spannung das auf der Bühne Dargebotene verfolgt, und Mamas Gesicht strahlte in höchster Begeisterung, als der Vorhang sich schloß und das blendende Gaslicht den Zuschauerraum wieder überfluthete, aus dem jetzt Alles hinaus eilte.

„Ach bitte, liebe Mama, laß uns schnell fort,“ drängte Rosa, da erstere noch beschäftigt war, allerlei geheimnißvolle Manipulationen mit den Blättern der Partitur vorzunehmen.

„Gleich, gleich, Kind. Ich breche nur schnell die Seiten ein, auf denen die schönsten Stellen vorkommen, damit wir sie gleich nachlesen können, so lange sie uns noch frisch im Gehör sind.“

„Vor allen Dingen wollen wir zusehen, daß wir etwas zu trinken bekommen, denn ich verschmachte beinahe,“ jammerte das Töchterchen, während Beide in dem hinausfluthenden Gedränge mit fortgeschoben wurden.

Gaslicht und Theaterraum erweckten unwillkürlich die Illusion, draußen, wie nach sonstigen Vorstellungen, Dunkelheit und Kühle zu finden, und erst als man auf den von grell heißem Sonnenlicht durchglühten Festplatz trat, erinnerte man sich halb verwundert, halb enttäuscht, daß ja die Uhr kaum die sechste Nachmittagsstunde zeigte.

Der von allen Treppen und Thüren hervorquellende Menschenstrom hatte gleich nach dem Verlassen des Gebäudes Alfred Berger von seinen Nachbarinnen getrennt, und dieser wandelte nun belustigt einige Zeit unter dem bunten, alle Sprachen und Nationalitäten vereinigenden Gewühl umher, in dessen einzelnen Gruppen allerwärts die eben gehabten Eindrücke in erregtem Meinungsaustausch, mit enthusiastischen Lobsprüchen, oder auch hier und da mit kopfschüttelndem Tadel, besprochen wurden. Nachdem er in einem der beiden Restaurationszelte mit Mühe einen frischen Trunk erobert hatte, schlenderte er auch hinüber nach dem größeren und eleganteren Restaurant des Festplatzes.

Hier entdeckte er, an einem Seitentischchen der Veranda, die beiden bekannten Damen, die Mutter schon wieder über die unvermeidliche Partitur gebeugt, indeß die Tochter eben mit matter, schüchterner Stimme einem Kellner nachrief, dessen Frackschöße bereits um die nächste Ecke verschwanden.

Sofort trat der junge Mann an den Tisch und frug, mit höflichem Anstand seinen Hut ziehend:

„Kann ich Ihnen vielleicht zur Erlangung einer Erfrischung behülflich sein, mein Fräulein?“

„Ach ja, ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie diese Güte haben wollten. Die Kellner stürzen immer so schnell vorbei und hören nicht, wenn man sie ruft.“

Die schwarzen Fracksittige flatterten soeben in geringer Entfernung vorüber, wendeten aber augenblicklich und nahmen ihren Flug auf Alfred Berger zu, als dieser in männlich befehlendem Tone ein „Kellneeer!“ donnerte.

Nach kurzer Besprechung mit der jungen Dame:

„Schnell eine Flasche Selterwasser und eine Flasche Rothwein, aber sogleich, die Damen warten schon seit einer Viertelstunde!“

In weniger als einer halben Minute stand das Verlangte auf dem Tische. Alfred mischte selbst den Trank und sah mit andächtiger Befriedigung zu, wie das arme durstige Kind dankbaren Blickes das Glas ergriff und es hastig leerte. Selbst die Mama ließ sich jetzt durch das Sprudelmotiv der Flaschen aus ihren musikalischen Forschungen reißen und nahm einen Trunk.

„Sehr freundlich von Ihnen, mein Herr, daß Sie uns schon wieder zu Hülfe gekommen sind,“ bemerkte sie. „Wollen Sie nicht Platz nehmen?“

Der liebenswürdige Zufall hatte nämlich für einen dritten, leerstehenden Stuhl gesorgt.

„Erlauben die Damen zuvor, daß ich mich Ihnen vorstelle: Alfred Berger, Referendar aus Leipzig.“

„Commerzienräthin Jung aus Berlin, meine jüngste Tochter Rosa.“

„Also Rosa Jung,“ dachte Alfred. „Sie trägt ihren Namen in der That, denn jung ist sie, und wie ein Röschen ist sie mir gleich erschienen.“

Die Unterhatung wurde nun von der Commerzienräthin mit einigen Präludien über die Aufführnug eingeleitet, wobei sich Alfred mit verschiedentlich eingestreuten „Wundervoll!“ „Ganz ausgezeichnet!“ „Wirklich ergreifend!“ abzufinden suchte, da er sich der Motivkenntniß der partiturfesten Dame durchaus nicht gewachsen fühlte. Er war, wie wir vorhin gehört, seines Zeichens ein Jurist, mit liebevollem Interesse und leidlichem Verständniß für Musik im Allgemeinen und Wagner-Opern im Besonderen begabt. Auf einer Ferienreise nach der Schweiz begriffen, die ihn in nächster Nähe an Bayreuth-Olympia vorüber führte, wollte er sich die gute Gelegenheit nicht entgehen lassen, eine Aufführung in Richard Wagner’s viel berühmtem und besprochenem Bühnentempel anzuhören. Wie viele Andere, gehörte er zu der Classe jener Harmlos–Neugierigen, welche bereit sind, die in Augen und Ohren fallenden Schönheiten Wagner’scher Bühnenspiele freudig anzuerkennen, ohne daß sie in die tiefsten Geheimnisse symphonischer Ton- und Themataverschlingungen eingedrungen wären. Auch Fräulein Rosa schien in diesem Punkte noch nicht auf der Höhe des Verständnisses und des Enthusiasmus angelangt, denn sie erklärte der Mama, als diese behufs weiterer Auseinandersetzungen die Partitur wieder öffnete, sie wolle die Pause lieber zur Erholung benutzen, da sonst ihre Kräfte und namentlich ihre Augen für die kommenden Stunden nicht ausreichen würden.

„Ich glaube, Sie gebrauchen das Opernglas zu häufig und anhaltend, gnädiges Fräulein,“ erlaubte sich Alfred Berger zu bemerken.

„Dieses junge Geschlecht kann doch gar nichts aushalten,“ schalt die Commerzienräthin dagegen. „Nimm Dir ein Beispiel an mir, Kind, die ich bei solchen Genüssen weder an Speise und Trank, noch an Hitze und Müdigkeit denke.“

„Ja, liebe Mama, Du hast aber auch während der Fahrt die ganze Nacht geschlafen, während ich leider im Eisenbahnwaggon nie ein Auge schließen kann,“ wandte Rosa ein.

„Wie, die Damen sind die vorhergehende Nacht durch und dann wohl gar noch den halben Tag gefahren?“ frug Alfred erstaunt. „Es ist allerdings eine starke Anforderung an zarte weibliche Nerven, gleich darauf sechs Stunden im Theater zubringen zu müssen.“

[483] „Und bei solcher Hitze!“ wurde von Rosa bestätigt.

„Es machte sich nicht gut auf andere Weise mit unserer Fahrt von Tölz, wo wir uns einige Wochen aufgehalten haben.“

„Aber übermorgen ist doch wieder eine Vorstellung,“ wagte Alfred zu erwähnen, bereute aber die voreilige Einwendung, als die Commerzienräthin mit unverkennbarem Mißfallen im Ton erwiderte:

„Halten Sie es für möglich, daß wir den heutigen Nachmittag unthätig in der Stadt zugebracht hätten, während hier der ‚Parsifal‘ in Scene geht? – Rosa, es ist Dir wirklich nicht gut, so viel zu trinken, nachdem Du den Tag über fast noch nichts gegessen hast, denn das Mittagsmahl hast Du ja kaum angerührt. Wahrhaftig, die Flaschen sind beide fast leer!“

„O, und mein Durst ist trotzdem noch nicht gestillt!“

„Werden die Damen in der nächsten Pause nicht soupiren?“ frug Alfred. „In diesem Falle wäre es gut, einen Tisch zu belegen und den Kellner zu instruiren.“

„Sie haben Recht, Herr Referendar. Werden wir auch das Vergnügen Ihrer Gesellschaft haben?“

„Wenn Sie gestatten, gnädige Frau –“

„Gewiß, gewiß – sehr angenehm. Wir müssen Ihnen nur dankbar sein, daß Sie sich unser so freundlich annehmen, um so mehr, als wir vorläufig noch allein hier sind. Unsere Herren, mein Mann und ein Verwandter, kommen erst morgen an. – Aber horch! Das ist schon das Trompetensignal. Wir müssen eilen!“

Alfred bestand natürlich darauf, die Sorge für die Shawls und Hüte der Damen zu übernehmen, und nachdem er alles in der Garderobe abgeliefert hatte, mußte er sich schleunigst auf den Platz neben Rosa drängen, da schon das Gaslicht erlöschte und das Klopfen des Capellmeisters zur Stille ermahnte.

Die düster wogende Orchestereinleitung des zweiten Actes paßt durchaus nicht zu seiner befriedigt angeregten Stimmung, und mit einem kühnen Sprunge flieht sein Geist über die dämonischen Melodien, die auf und ab wogenden chromatischen Gänge, die schneidenden Wehlaute der Amfortas-Klage hinweg, nach dem eben verlassenen Restaurationszelte zurück, wo er in der Eile nochmals dem Kellner einschärft, das lauschige Eckplätzchen auf der Veranda um keinen Preis einer anderen Gesellschaft zu überlassen.

Selbst das Erscheinen Klingsor’s auf der Bühne und die grauenvolle Beschwörungsscene der Kundry vermögen nicht, ihn seinen privaten Gedanken zu entziehen. Erst die aufsteigende Pracht des Zaubergartens und die unwiderstehliche Anmuth der lockenden und kosenden Blumengestalten fesseln Blick und Ohr wieder so vollständig, daß er nur noch mit innerer Befriedigung die Bemerkung macht, wie Fräulein Rosa, wahrscheinlich auf seinen Rath hin, die Hand mit dem Opernglase gar nicht mehr erhebt.

Wäre es nicht so dunkel gewesen, so würde er wahrgenommen haben, daß tiefe Blässe das Antlitz seiner reglos sitzenden Nachbarin überzogen hatte, während die langen seidenen Wimpern sich immer tiefer über ihre Augen senken.

Das arme, ermüdete Kind sah und hörte bereits nichts mehr von Rosenmädchen und Schmeichelgesang, sondern kämpfte mit der drückenden Hitze in dem menschengefüllten Raum um sie her und der bleiernen Schwere, welche sich als Nachwirkung des rasch genossenen Weines über ihre Glieder legte, einen hoffnungslosen Kampf.

Ein Traum begann schon ihre Sinne mit der teuflischen Vorspiegelung zu umfangen, daß sie nicht hier, im Bühnentempel, im „Parsifal“, sondern zu Hause in dem jungfräulichen Schlafgemache weile, wo das kühle, weiche, spitzenbesetzte Kissen auf ihrem Lager sie mit magischer Gewalt zu sich herabzog. – Jetzt schlossen sich die Lider vollends, jetzt neigte sich ihr Körper, instinctiv den erträumten Ruheplatz suchend, zur Seite.

„Parsifal, bleibe!“ lockte unten aus Rosengebüschen Kundry’s Stimme mit schmeichelndem Wohllaut.

Da sank das Köpfchen Rosa’s in seliger Weltvergessenheit an die Brust des Referendarius Alfred Berger.

Es war so dunkel im Zuschauerraum, daß dieser die süße Last anfänglich nur fühlte. Glücklicher Weise gelang es ihm, eine rasche Bewegung des Erstaunens zu unterdrücken, die unfehlbar die Schlummernde wieder aufgeschreckt hätte. Nach und nach fing sein Blick an das Halbdunkel zu durchdringen, und er konnte deutlich die Umrisse des feinen Köpfchens mit dem im Nacken geschlungenen Goldhaar und den Löckchen an den Schläfen unterscheiden. Das Opernglas aus Elfenbein wurde nur noch lässig von der einen Hand gehalten und drohte, im nächsten Augenblick polternd zur Erde zu gleiten, wie Alfred mit Entsetzen entdeckte.

Seinen linken dem Störenfried nächsten Arm durfte er nicht bewegen, weil Rosa’s Schulter an demselben ruhte. Mit größter Vorsicht und Anstrengung gelang es ihm, den rechten Arm unvermerkt zu erheben und das Glas leise aus ihrer Hand zu nehmen, worauf er es, zu einstweiliger Unterbringung, in seine Rocktasche gleiten ließ. Kaum war dieses schwierige Geschäft unter ängstlicher Vermeidung aller unnöthigen Bewegungen ausgeführt, so zeigte sich, daß der Fächer in Rosa’s anderer lässig an der Seite herabhängenden Hand die gleiche erdbodensuchende Tendenz hatte, wie vorher das Opernglas.

Der Angstschweiß trat unserem Referendarius auf die Stirn, während er unter äußerster Anspannung seiner Muskeln auch diesen gefahrdrohenden Gegenstand glücklich mit den Fingerspitzen erfaßte.

Nun aber, nachdem auch der Fächer in die bergende Rocktasche gewandert war, konnte sich unser junger Freund mit Ruhe dem Genuß hingeben, den Schlummer seiner reizenden Nachbarin zu bewachen. Er empfand deutlich die sanften, gleichmäßigen Athemzüge, die ihre Brust hoben und senken, und ein ungenanntes, seliges Gefühl durchschauerte ihn.

Zum ersten Mal in seinem Leben überkam ihn die Ahnung und das Verlangen, wie süß es sein müsse, solch ein zartes, hingebendes Wesen sein Eigen nennen, es auf jedem Schritt hegen und pflegen zu dürfen. Mußte er sich auch vor jeder Bewegung hüten, so konnten doch seine Augen, die sich immer mehr gewöhnten, das Halbdunkel zu durchdringen, ungehindert hinunter schweifen auf das lockige Haar, das sich so weich um den schlanken Hals und das kleine reizende Ohr schmiegte, auf die mädchenhafte Gestalt, die mit Grazie und Nachlässigkeit an seiner Schulter lehnte. Er hätte ewig so verharren, ewig diese liebliche Rosenknospe schirmen und halten mögen mit seinem starken Mannesarm.

Und Parsifal? Und Kundry?

Für Alfred Berger waren sie und die übrige Welt augenblicklich im Nichts versunken. Zwar verschmolzen, ihm selbst unbewußt, die liebedurstigen Töne und Worte, in denen Kundry den reinen Jüngling zu umstricken sucht, mit seinen eigenen Träumereien, aber die Klänge kamen wie aus weiter, dämmernder Ferne an sein Ohr.

Erst als Parsifal–Winkelmann, durch den Liebeskuß der schönen Sünderin aufgeschreckt aus seiner knabenhaften Unschuld, plötzlich „wissend“ wird und mit voller Stimme einsetzend „Amfortas! Amfortas!“ ruft, wandte Alfred sein Auge erschrocken und indignirt dem Sänger zu, dessen ungebührlich laute Töne seine schöne Schläferin zu erwecken drohten. Zum Glück zeigten ihre ruhigen Athemzüge an, daß ihr Schlummer noch immer tief und fest sei. Aber Alfred sah jetzt mit Schmerz den Moment kommen, wo er selbst die Ursache ihres Erwachens werden mußte. Aus der Lectüre des Textbuches erinnert er sich, daß der Schluß des zweiten Actes herannahte, und er darf natürlich das Schließen des Vorhanges und das Hellwerden des Hauses nicht abwarten, ehe er sie stört.

Wahrhaftig, da versinkt schon der Zaubergarten Klingsor’s in die Tiefe! Könnte er doch mit versinken sammt seiner süßen Last!

Noch einen letzten Blick auf das holde Kind in seinem Arme – noch einen Athemzug, der ihn wonnig durchschauert – dann macht er plötzlich eine starke Bewegung mit dem linken Arme – und während er nun mit der rechten Hand krampfhaft das nach der Bühne gerichtete Opernglas vor die Augen hält, fühlt und sieht er, wie sie jäh in die Höhe schreckt und sich tiefaufathmend die Löckchen aus der Stirn streicht. Nun wendet sie den Kopf erstaunt nach seiner Seite, dann nach der Bühne, und jetzt – jetzt ist ihr offenbar das Bewußtsein von Zeit und Ort zurückgekehrt, denn mit einem heftigen Rucke legt sie die weiteste Entfernung zwischen sich und ihren Nachbar, die ihr momentan gestattet ist; das heißt, sie rückt auf dem schmalen Sitze, wie er dem Musentempel Richard Wagner’s leider eigen ist, um einige [484] Zoll näher zu der Mama hin, welche, versunken in Begeisterung und Genuß, weder hiervon nach von der vorangegangenen Schlafscene ihrer Tochter das Geringste bemerkt hat. Alfred Berger dagegen fühlt den Entfernungsruck schmerzlich genug, wenn er auch noch immer unverwandt die Trümmer des Zaubergartens zu besichtigen scheint, unter denen auch für ihn die Seligkeit der letzten halben Stunde unwiderbringlich begraben ist.

Der losbrechende Beifallssturm zeigt ihm das erfolgte Schließen des Vorhanges an, und da er annehmen zu können glaubt, daß Fräulein Rosa inzwischen Zeit genug gehabt hat, sich von etwaiger Bestürzung und Verlegenheit zu erholen, befreit er endlich sein Gesicht von dem Opernglase und will sich mit erkünstelter Unbefangenheit zu seiner Nachbarin wenden. Das ist aber vorläufig vergebene Mühe, denn sie kehrt ihm energisch die Rückseite ihrer rosenfarbenen Gestalt zu und scheint plötzlich von dem Enthusiasmus der Mama mit erfaßt zu sein, die, gleich dem übrigen Publicum tapfer applaudirend, nach der Loge Wagner’s hinaufschaut, wo indeß der Meister mit der ihm eigenthümlichen Zurückhaltung der Menge den Anblick seiner vergötterten Persönlichkeit – nicht gewährt. Unter Ausrufen der Entrüstung hierüber beginnt man schließlich, da nichts Anderes übrig bleibt, in’s Freie zu strömen, wo die inzwischen eingetretene abendliche Kühlung zur Erholung ladet.

Alfred Berger hatte mit rühmlicher Schnelligkeit die Garderobe der Damen erobert und genoß das Glück, die Commerzienräthin in ihren Mantel hüllen zu dürfen. Rosa hatte ihren Spitzenshawl hastig und wortlos von seinem Arme genommen und so schnell umgeschlungen, daß er ihr nicht mehr dabei behülflich sein konnte. Er glaubte in den Zügen der jungen Dame eine tiefe Verstimmung zu bemerken und mußte sich sogar für die Ursache derselben zu halten anfangen, da sie es consequent zu überhören schien, wenn er versuchte eine Bemerkung an sie zu richten, während sich alle Drei nach dem Restaurant begaben.

Die Commerzienräthin dagegen strahlte vor Behagen und Wohlwollen. Anfänglich behauptete sie zwar, zu begeistert und aufgeregt zu sein, um essen zu können, widerstand jedoch schließlich nicht länger, als man an dem reich besetzten Ecktische Platz nahm.

Wie hatte sich unser junger Freund auf die gegenwärtige halbe Stunde gefreut, und wie wenig erfüllte sie seine Erwartungen! Fräulein Rosa vermied seinen Blick und dankte nur kurz, in eisigem Tone, wenn er ihr eine Schüssel reichte oder ihr Glas füllte. Im Uebrigen verhielt sie sich fast immer schweigend. – Sie schien ihm wirklich ernstlich zu zürnen. Aber worüber denn? Weil sie, an seinen Arm gelehnt, eingeschlafen war? Das ist doch wahrhaftig nicht seine Schuld!

O lieber, unschuldiger, unerfahrener Referendar, und fast möchte ich sagen: reiner Thor! Ahnst du denn gar nicht, welche gerechte Ursache das liebliche Kind hat, dir zu zürnen? Kann sie dir denn je vergeben, daß ihr Köpfchen eine halbe Stunde lang an deiner, eines fremden Mannes, Brust geruht hat? Sie schämt sich ja so ungeheuer darüber, daß sie es nicht einmal der Mama anvertrauen möchte! Es ist zu entsetzlich! – Und du wagst noch zu fragen, ob es deine Schuld sei? –

„Nun sagen Sie selbst, Herr Referendar. War dieser zweite Act nicht von einer hinreißenden Schönheit? Ich begreife nicht, wie einige ihn zu lang finden können,“ rief jetzt die Commerzienräthin.

Der also Angeredete betheuerte im Gegentheil, daß der zweite Act für seinen Geschmack eher zu kurz sei, und daß er gern noch eine Stunde länger im Zaubergarten geweilt haben würde. Diese Anspielung wurde von Fräulein Rosa leider verstanden und mit einem indignirten Aufblick bestraft, der sich aber schnell wieder auf den Teller senkte, noch ehe er Alfred’s Auge begegnet war.

„Du bist ja noch ganz still und ergriffen, Kind, von dem herrlichen Genuß. – Warst Du nicht auch ganz entzückt davon, wie z. B. die Solostimmen über dem Kosegesang schwebten?“

Rosa gestand mit leichtem Erröthen ein, sie erinnere sich nicht, dies besonders bemerkt zu haben.

„Nicht? Unbegreiflich! Aber Du mußt doch wissen, welche Stelle ich meine? Hier –“ und damit erschien die Partitur wieder auf dem Tisch, als eben die Fanfare zum letzten Act rief.

„Mama, hast Du mein Opernglas und meinen Fächer aufgehoben?“ fragt Rosa plötzlich erschrocken.

„Ich, Kind? Wie käme ich dazu? Vielleicht liegen sie dort unter dem Mantel.“

Alfred zog die vermißten Gegenstände aus seiner Tasche und überreichte sie lächelnd der Suchenden mit einer Verbeugung, besann sich aber während dieser Handlung plötzlich, daß es Fräulein Rosa wahrscheinlich sehr unangenehm sei, auf diese Weise an einen Moment erinnert zu werden, in dem sie nicht fähig war, das Verschwinden ihres Eigenthums zu bemerken.

„Bitte, Fräulein – ich dachte – ich wußte nicht – ich habe die Sachen – einstweilen eingesteckt,“ stotterte er dunkelroth vor Verlegenheit.

Fräulein Rosa hatte den Zusammenhang offenbar sogleich begriffen, denn auch sie war tief erröthet, und in ihren Augen blitzte sogar eine kleine Thräne des Zornes und der Scham, als sie die stummen Zeugen der Vergangenheit in Empfang nahm. Beider Blicke hatten sich dabei eine Secunde lang getroffen, Alfred hatte zu seinem tiefsten Bedauern die verrätherische Thräne bemerkt und nahm sich vor, das arme Kind durch einige Worte, etwa eine Versicherung ewigen Stillschweigens über das Geschehene, oder eine Bemerkung, daß die Sache ja gar nichts zu bedeuten habe, zu beruhigen.

„Ich kann Ihnen versichern, gnädiges Fräulein –“ fing er gutmüthig und immer noch sehr verlegen an.

„Hast Du gesehen, Mama, daß Geheimrath Hofmann’s, da drüben in der Ecke, uns gegrüßt haben?“ fiel Rosa kühl ein, indem sie, Alfred’s Anrede gänzlich überhörend, das Köpfchen schnell nach der bezeichneten Seite wandte.

Verblüfft und schweren Herzens folgte er den Damen, die jetzt den Weg nach dem Theater einschlugen.

Während des letzten Actes des „Parsifal“ ließ Fräulein Rosa’s Kunstinteresse nichts zu wünschen übrig. Sie saß steif und gerade auf ihrem Platz und nahm das Opernglas fast nie von den Augen, sodaß ihr Nachbar, wenn er einen forschenden Blick nach der Seite schweifen ließ, nur die kleine, von elegantem Handschuh bedeckte Hand statt des Gesichtes zu sehen bekam. Er hatte daher vollkommen Muße, den Vorgängen auf der Bühne seine Aufmerksamkeit zu schenken. Namentlich widmete er dem siechen König Amfortas die regste Theilnahme. Brennt nicht auch in seinem Herzen jetzt eine Wunde, die nie, das fühlte er, wieder heilen wird?

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Autor: Wilhelm Kästner
Titel: Heiße Stunden
aus: Die Gartenlaube 1883, Heft 31, S. 506-507

[506] Nachdem die Vorstellung unter stürmischen Beifallsbezeigungen zu Ende gegangen war, beschloß Alfred die mannigfachen Ritterdienste dieses Tages mit der Aufsuchung des Wagens, der die Damen nach ihrem Hôtel, der „Sonne“, zurückbringen sollte.

Am anderen Morgen erachtete er es als seine erste Pflicht, nach dem Bureau des Verwaltungsrathes zu stürzen, um sich seinen Platz für die nächste Vorstellung, den kostbaren Platz an Rosa’s Seite zu sichern – Frau Commerzienräthin ließ ja die Plätze im Theater für die nächsten zwei Vorstellungen reserviren. Dann wurde ein Clavierauszug des „Parsisal“ von ihm erworben und möglichst ostentativ unter dem Arm getragen, denn Alfred wollte sich auf alle Fälle die Gunst der Mutter erhalten, da sie nach aller Erfahrung den Weg zum Herzen der Tochter bahnt.

Mit dem beruhigenden Gefühl, die weitere Belagerung der Feste in zweckentsprechender Weise eingeleitet zu haben, schlenderte er nun den Rennweg auf und ab, sich in nächster Nähe der „Sonne“ haltend. Der sehnlichst erwartete goldblaue Sonnenstrahl erschien jedoch nicht, wohl aber nach Verlauf einer halben Stande die Frau Commerzienräthin, glänzend und behaglich wie immer. Und wahrlich, der Clavierauszug verhalf ihm zum Sieg.

So sah man den auch den Referendar Nachmittags im Garten der „Sonne“, bei einer Tasse Kaffee, seinen Clavierauszug geöffnet auf den Tisch legen, während die Commerzienräthin, mit der Partitur und einigen Leitfäden und Erklärungen bewaffnet, ihm gegenüber Platz nahm und nun erläuternd und vergleichend ihren Redestrom zwischen den Büchern durchfließen ließ. Von einem benachbarten Tische klang das fröhliche Lachen Rosa’s zu ihm herüber, denn sie mied ihn augenscheinlich und hatte sich nach dem Mittagessen einer befreundeten Damengesellschaft angeschlossen, während er einige Dutzend Motive aussuchen, umkehren, bewundern mußte.

Mit Mühe bezwang er sich, diese Seelenqual zu ertragen, weil er immer hoffte, Rosa würde nach einiger Zeit an dem Tische erscheinen, aber auch in dieser Hoffnung sah er sich getäuscht, da gegen vier Uhr die Commerzienräthin ihren Vortrag mit dem Bemerken schloß, daß sie sich mit neuangekommenen Freunden zu einer Spazierfahrt verabredet habe. Als er im Begriff war, sich zu verabschieden, überbrachte ein Kellner der Commerzielträthin ein Telegramm. Fräulein Rosa’s scharfe Augen mußten dies bemerkt haben, denn sie kam sogleich herbeigehüpft und frug eifrig:

„Kommen sie endlich?“

„Ja, morgen mit dem Mittagszug, wie ich sehe.“

„Wie ich mich freue!“ rief Rosa.

„Wir haben Papa auch wirklich sehr lange nicht gesehen.“

„Und ich freue mich auch sehr auf Max.“

„Mein Mann,“ berichtete die Commerzielträthin dem bescheiden wartenden Alfred, „kommt morgen hier an. Er war vorher zur Cur in Karlsbad, mußte Geschäfte halber auf einige Tage nach Berlin zurück und bringt nun von da noch einen sehr lieben Verwandten von uns, Herrn Max Hillmann, mit.“

„Ich begreife gar nicht, wie es Max ausgehalten hat, so spät erst hierher zu kommen,“ meinte Rosa.

„Es war sehr freundlich von ihm, auf Papa zu warten, denn wer weiß, ob dieser sonst nicht unter dem Vorwand von Geschäften in Berlin sitzen geblieben wäre. Und es liegt mir doch so viel daran, daß Dein Papa den ‚Parsifal‘ kennen lerne.“

„Der arme Papa! Es wird ihm freilich recht heiß dabei werden,“ seufzte Rosa. Dann wurde sie plötzlich sehr roth und sah einen Moment scheu zu Alfred hinüber, dessen hübsches Gesicht gleichfalls verlegene Röthe überzog, obgleich er sich stellen wollte, als dächte er an gar nichts bei dieser unbedachten Ideenverbindung von Parsifal – und Hitze.

„Der Wagen wartet sicher schon seit einer halben Stunde auf uns,“ mahnte jetzt die Mama. „Adieu, Herr Referendar, lassen Sie sich morgen bei Zeiten sehen,“ rief sie diesem noch in gewohnter Leutseligkeit zu.

Alfred schaute dem davonrollenden Wagen eine Weile nach, ehe er sich anschickte, den Rest des Nachmittags und den Abend allein in dem fremden Städtchen zu verleben. Große Fortschritte, sagte er sich dabei, hatte er heute in der Gunst des Fräuleins nicht eben gemacht, aber doch auch keine weiteren Rückschritte. Ja, eine innere Stimme flüsterte ihm sogar zu, daß sie ihn einige Male unvermerkt sehr freundlich angesehen habe. – –

Auf dem Rennweg standen und promenirten am nächsten Tage die Fremden zahlreich umher, aber die Damen Jung konnte er zu seinem Verdruß nicht unter ihnen entdecken. Der ganze Vormittag verstrich unter fruchtlosem Warten und Suchen, bis ihm kurz vor ein Uhr einfiel, daß jetzt die Damen wahrscheinlich auf dem Bahnhof sein würden, um die Ankommenden zu empfangen. Es war zu spät für ihn, jetzt noch vor dem Eintreffen des Zuges dahin zu gelangen, und er zog daher vor, nochmals in der Nähe des Hôtels Posto zu fassen, da ihm so die Erwarteten nicht entgehen konnten.

Nach kurzer Zeit begannen Wagen und Omnibusse vom Bahnhof heranzurasseln, denen bald zahlreiche Fußgänger folgten. Auch Familie Jung schien bei dem kühlen, trüben Wetter, das heute herrschte, eine Wanderung zu Fuß einer Fahrt vorgezogen zu haben. Sie wurde soeben, die Straße herankommend, sichtbar, voran der Commerzienrath, ein gutmüthig aussehender dicker Herr, am Arm seiner Gattin, hinter ihnen ein zweites Paar, bei dessen Erblicken unserem Referendar ein Stich durch das Herz ging. Der schöne, hochgewachsene Mann von etwa dreißig Jahren, mit blondem Vollbart und etwas träumerisch blickenden grauen Augen, konnte nur der oft erwähnte „Vetter Max“ sein, denn Fränlein Rosa hing, vertraulich plaudernd und oft eifrig zu ihm empor sehend, an seinem Arm.

Ob sie Alfred’s tödtlichen Schrecken auf seinem blassen, verstörten Gesichte las? Wer kann die Gedanken errathen, die hinter solchen krausen blonden Stirnlöckchen in einem achtzehnjährigen Mädchenkopfe wirbeln? Gewiß ist nur, daß sie Alfred mit plötzlich aufstrahlendem Lächeln einen Gruß zunickte, wie er ihm so holdselig und verbindlich noch nie von der kleinen Schönen zu Theil geworden, worauf sie, immer noch mit dem strahlenden Lächeln, zu dem großen blonden Vetter hinaufsah.

Die Commerzienräthin wollte mit ihrem Manne in den Thorweg des Hôtels einbiegen, als sie Alfred, welcher in der Nähe stand, bemerkte, ihn zu sich heranwinkte und ihm eilig zurief:

„Wo stecken Sie denn den ganzen Morgen, Herr Referendar? Wir glaubten, Sie auf unserem Spaziergange in der Stadt irgendwo zu treffen. Ich habe Sie wieder zu uns decken lassen, wenn es Ihnen recht ist. Wir kommen sogleich nach dem Speisesaale.“

Dort hatte die vorsorgliche Dame die Plätze am Ende der Tafel belegen lassen, sodaß man, als Alle erschienen waren, sich sehr behaglich gruppiren konnte. Der Commerzienrath saß obenan, seine Gattin und Alfred Berger an seiner linken, Rosa und Vetter Max an der rechten Seite. Die Commerzienräthin stellte Alfred vor und erzählte rühmend, wie er ihr und der Tochter vom Augenblicke der Ankunft an fortgesetzt die liebenswürdigsten Gefälligkeiten erwiesen habe. Der Commerzienrath machte bald die Entdeckung, daß der junge Mann der Neffe seines besten Jugendfreundes, eines Justizrath Berger sei, und diese glücklich entdeckte Verwandtschaft bildete eine vortreffliche Grundlage für Alfred’s ferneren Verkehr mit der Familie Jung, der er, wie der Commerzienrath versicherte, als Neffe eines Jugendfreundes kein Fremder mehr sei. Die Unterhaltung bei Tisch wurde zwanglos und allgemein. Auch Fräulein Rosa nahm an dem Gespräche Theil, lachte herzlich mit und war überhaupt in so vergnügter Stimmung, daß sie ihren vorherigen Groll gegen Alfred ganz vergessen zu haben schien und ihn über den Tisch hinüber gelegentlich freundlich anblickte. Das wäre nun Alles ganz erfreulich für Alfred gewesen, wenn er sich dabei nicht mit innerer Wuth gesagt hätte, daß diese Umwandelung doch augenfällig erst seit dem Erscheinen des hübschen Vetters eingetreten war. Es blieb ihm indeß jetzt nicht Zeit, viel darüber nachzudenken, denn die Commerzienräthin mahnte zum Aufbruche nach dem Theater.

[507] Draußen auf dem Festplatze hing sich Rosa wieder eilig an den Arm des Vetters und sagte, sich zur Mama wendend, wobei sie vermied, Alfred anzusehen:

„Ich habe Papa gebeten, mir heute den Platz neben Max zu überlassen. Ich möchte wissen, ob man von da besser sehen kann, da er um einige Reihen tiefer ist, als die anderen.“

„Wie Du willst, Kind, aber störe Max nicht etwa durch Schwatzen und Unaufmerksamkeiten.“

„Ha ha, liebe Mama, Du weißt sehr wohl, daß er sich nicht stören läßt bei solcher Gelegenheit. Im Gegentheil, ich hoffe von seiner Andacht und Versunkenheit angesteckt zu werden. Nicht wahr, Max, Du hast nichts dagegen, wenn ich neben Dir sitze?“

„Wie? Was sagtest Du? Stören? Ganz und gar nicht, Röschen,“ erwiderte dieser zerstreut. „Aber laß uns endlich eintreten.“

Da saßen sie nun, um wenige Sitzreihen tiefer, dicht vor Alfred, der zähneknirschend auf sie hinabschaute.

Es war ja ganz klar, daß sie in diesen Vetter verliebt, wahrscheinlich schon mit ihm verlobt war, denn er nahm ja die Huldigungen der reizenden Cousine mit souverainem Gleichmuth, wie etwas Selbstverständliches hin. Dafür also war er hier geblieben, um, neben dem dicken Commerzienrath eingepreßt, einer Aufführung beizuwohnen, für die er in seinem jetzigen Zustand weder Stimmung noch Verständniß haben konnte. Und da sah sie sich auch noch von Zeit zu Zeit nach ihm um, als ob sie ergründen wollte, welchen Eindruck ihr Benehmen auf ihn gemacht habe. Nun, sie sollte wenigstens nicht den Triumph genießen, ihn noch länger schmachten zu sehen. In der Vorstellung mußte er noch aushalten, aber dann ging ja wohl ein Nachtzug, den er benutzen konnte, um endlich sein eigentliches Reiseziel zu erreichen und in den Schweizer Bergen bald die ganze Episode zu vergessen.

Als man nach dem Schluß des ersten Actes wie gewöhnlich das Haus verließ, nahm sich Alfred vor, die Zwischenzeit nicht mit der Familie Jung zu verbringen. Unter dem Vorwande, er habe sie im Gedränge plötzlich aus den Augen verloren und nicht wieder finden können, wollte er seinen gekränken Gefühlen wenigstens die Qual ersparen, Rosa beständig am Arme des verhaßten Vetters neben sich zu sehen. Er war im Begriff, unbemerkt um eine Ecke zu verschwinden, als die junge Dame sich gewandt zu ihm und dem Papa durchdrängte und rief:

„Wenn es Ihnen recht ist, Dir, Papa, und Herrn Berger, so schließe ich mich hier an, denn auf Maxens Ritterdienste kann ich augenblicklich nicht zählen. Sieh nur, wie er auf Mama losgestürzt ist und es kaum erwarten kann, bis er all seinen Enthusiasmus in ihr mitfühlendes Herz ausgeschüttet hat! Ich denke, wir Drei gehen ein wenig hinüber nach der anderen Seite des Platzes, wo es nicht so gefüllt ist. Sie werden uns jetzt nicht vermissen.“

Der Papa folgte gutgelaunt den Anordnungen des Töchterchens, und auch Alfred konnte nicht widerstehen, so sehr er sich innerlich ob dieser Schwäche schalt. Veranlaßt durch die reizende Aussicht, welche sich vom Festplatz aus bietet, gerieth das Gespräch auf die lieblichen Umgebungen von Bayreuth.

„Hast Du mit Mama schon eine Fahrt nach der ‚Fantasie‘ gemacht?“ frug der Commerzienrath die Tochter.

„Nein, noch nicht. Wir warteten, weil Mama meinte, Du würdest gern dabei sein. Weißt Du, Papa, wir sollten morgen dahin fahren, und Du solltest Herrn Berger einladen mit uns zu kommen. Nicht wahr, Sie kennen die berühmte ‚Fantasie‘ auch noch nicht?“ wandte sie sich mit ihrem bezauberndsten Lächeln zu Alfred, der plötzlich vergaß, daß er noch heute, mit dem Nachtzug, aus dem Banne dieser schelmischen Augen entfliehen wollte.

Der Commerzienrath versicherte, Herr Berger sei selbstverständlich auch bei dieser Gelegenheit als Gast willkommen. Dieser zögerte noch einen Augenblick, nahm aber schließlich die Einladung dankend an, worüber Fräulein Rosa sichtlich in die Stimmung gerieth, die sie durch erhöhte Liebenswürdigkeit bethätigte.

Aber besonders gut erging es ihm am folgenden Tage, auf der verabredeten Fahrt nach dem Schlößchen „Fantasie“, eben nicht. Herr und Frau Commerzienrath nahmen den Fond des bequemen, offenen Landauers ein, Max und Rosa den Rücksitz und unserem Referendar fiel, als dem Jüngsten in der Gesellschaft, der Platz neben dem Kutscher zu.

Da saß er nun, in stillem Ingrimm vor sich hinstarrend, während hinter seinem Rücken Rosa’s Stimme von Zeit zu Zeit mit einem „Lieber Max“ oder „Bester Vetter“ und dergleichen Süßigkeiten an sein Ohr schlug. Dann gerieten sie wieder auf musikalisches Gebiet.

„Finden Sie nicht die Gegend hier sehr hübsch, Herr Berger?“ erklang es auf einmal hinter Alfred.

Aha, jetzt ließ sie sich herab, auch ihm zur Abwechselung einen Brocken der Unterhaltung zuzuwerfen!

Er stellte sich, als habe er nichts gehört, und blieb unbeweglich sitzen.

„Herr Berger!“ flötete es wieder, dringlicher, und da er noch immer taub blieb, erhielt er einen ganz kleinen Schlag mit dem Sonnenschirm auf die Schulter, sodaß er nicht mehr umhin konnte, sich umzusehen.

Der Commerzienrath lag, resignirt und widerstandslos, mit geschlossenen Augen in seiner Ecke, im Begriff, ein Schläfchen zu machen. Die Gemüther der beiden göttlichen Streiter dagegen waren so erhitzt, daß sie unversehens, nachdem ihr eigentlicher Gegner den Kampfplatz geräumt hatte, sich in Meinungsverschiedenheiten über die Bedeutung einiger Motive verwickelten und tapfer weiter stritten.

Fräulein Rosa lehnte, vermutlich gelangweilt von diesem Thema, nach Alfred umgewandt auf ihrem Sitz und sah voll zu ihm auf, was ihr so gut stand, daß dieser vergaß, sich wieder abzuwenden.

Von den Bewertungen über Gegend, Wetter und dergleichen, die Beide, in ihren Stellungen verharrend, wechselten, hätte Alfred am Ende der Fahrt den Inhalt nicht angeben können. Er wußte und fühlte nur, wie er berauscht in die blauen Augensterne dicht vor ihm sah, in denen es oft so schelmisch und warm zugleich aufblitzte. Waren seine Blicke endlich der jungen Dame zu beredt geworden? Jedenfalls wählte sie ein gründlich wirkendes Abkühlungsmittel dafür. Vetter Max, der in der Hitze des Gefechts bereits den Hut abgenommen und neben sich gelegt hatte, vertheidigte soeben in steigender Erregtheit einen neuen Satz gegen die Angriffe seines weiblichen Feindes. Da legte sich ein zartes Händchen schmeichelnd auf sein blondes, lockiges Haupt.

„Ruhig, ruhig, Du Wilder! Hörst Du noch immer nicht auf zu streiten? Sieh doch, wie Du Mama aufgeregt hast. Machen wir dazu eine Spazierfahrt?“

„Ja, Du hast Recht, Röschen. Wir wollen es auch nun lieber ruhen lassen,“ seufzte der Angeredete tief auf, faßte dabei das Händchen, das ihn streichelte, und führte es galant an seine Lippen.

Alfred fuhr zurück, wie von einer Natter gebissen, und wandte den Kopf nicht wieder bis zum Ende der Fahrt.

„Auf Wiedersehen, lieber Herr Berger. Auf morgen!“ sagten Herr und Frau Jung herzlich, als man am Abend im Begriff stand, sich zu trennen.

„Ich werde mir allerdings morgen noch erlauben, Ihnen vor meiner Abreise Lebewohl zu sagen,“ entgegnete Alfred mit einem plötzlichen, heftigen Aufschwung zu männlicher Entschlossenheit, die ihn selbst überraschte.

„Wie, Sie wollen fort? Wie schade! Ich dachte, Sie würden uns noch nach Nürnberg begleiten. Sie müssen doch Fräulein Malten noch als Kundry sehen!“

Alfred blieb fest und versicherte, er habe schon allzu lange seine geplante Ferienreise verzögert.

Die Commerzienräthin wandte mit Nachdruck ein:

„Aber um welchen Preis auch, Herr Referendar! Nach der Schweiz können Sie noch jedes Jahr reisen, Bayreuth und ‚Parsifal‘ dagegen –“

„In der nächsten Aufführung bitte ich wieder um meinen alten Platz. Er gefiel mir doch besser, als der neben Max,“ sagte auf einmal Fräulein Rosa mit der harmlosesten Miene von der Welt, und als ob sie, in halblauter Unterhaltung mit dem Vetter begriffen, von dem übrigen Gespräch nichts gehört habe.

Textdaten
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Autor: Wilhelm Kästner
Titel: Heiße Stunden
aus: Die Gartenlaube 1883, Heft 32, S. 520-523
Schluß

[520] Wie kam es nun, daß Alfred am nächsten Morgen doch schon wieder in dem Bureau des Verwaltungsrathes stand, um sich ein gewisses Billet mit einer gewissen Nummer darauf zu sichern? Kaum hatte er die gewünschte Karte in der Hand, so bereute er seine Schwäche und wandte sich mißvergnügt zum Gehen.

Auf den Stufen, die hinausführten, stieß er, in seine Gedanken vertieft, an einen aufgespannten Regenschirm, den eine Dame im Begriff stand zu schließen.

Eine Entschuldigung murmelnd, wollte er vorüber. Da klappte das regentriefende Dach zusammen, und Rosa Jung’s Antlitz kam strahlend und reizend darunter zum Vorschein.

„Ah, Herr Berger, Sie sind es? Was thun Sie hier? Sie haben sich ein Billet genommen? Ich glaubte verstanden zu haben, Sie wollten heute abreisen,“ redete sie ihn in einem muthwillig neckenden Ton an. „Welch angenehmer Zufall, daß ich Sie hier treffe!“ plauderte sie weiter und erzählte mit fast zutraulicher Geschwätzigkeit, daß sie ebenfalls die Billets für morgen und natürlich für die bisherigen hübschen Plätze geholt, daß Mama daheim auf dem Kanapee sich für den Empfangsabend in „Wahnfried“ stärke. „Ich werde dahin nicht mitgenommen,“ schloß sie, „worüber ich aber gar nicht traurig bin.“

Sie waren inzwischen auf die Straße gelangt, wo Alfred den Regenschirm schützend über sie hielt.

„Wollen Sie so freundlich sein, mich in eine Buchhandlung zu begleiten, Herr Berger?“

Natürlich wollte er das, mit dem größten Vergnügen. Das gemeinschaftliche Aussuchen eines Buches für Fräulein Rosa war ein zu amüsantes Geschäft, als daß man es sehr schnell abgemacht hätte.

„Ach, ich will doch noch etwas für Max aussuchen,“ rief sie plötzlich voll Eifer. „Er sprach gestern von einer neuen Broschüre über ‚Parsifal‘, die er gern lesen möchte.“

[521] Es war wirklich nicht hübsch von ihr, den Vetter gerade jetzt, da sie ihn während der letzten halben Stunde vergessen zu haben schien, in solchem fürsorgenden, liebevollen Tone zu erwähnen. Sie mußte doch wissen, daß das für Alfred unangenehm sei.

Er zog sich denn auch sofort verstimmt in den Hintergrund des Ladens zurück und blätterte mechanisch in den dort aufgestellten Büchern, da er keine Lust hatte, für „Max“ etwas finden zu helfen. Er griff nach einem Bändchen in Goldschnitt – Mirza Schaffy’s liebliche Dichtungen – und schlug ein kleines Gedicht auf, das ihm alle diese Tage in den Ohren geklungen hatte, ohne daß er sich des Wortlautes genau erinnern konnte.

Da standen sie, die sechs Zeilen, die den glühenden Wunsch seines Herzens so duftig-zart ausdrückten; er las sie mit brennenden Augen wieder und wieder. Rosa mußte ihn dabei schon einige Zeit beobachtet haben, denn sie sagte plötzlich:

„Darf man fragen, was Sie so eifrig lesen?“ indem sie hinter ihn trat, um über seine Schulter in das Buch zu sehen. Noch ehe sie dazu gelangt war, schlug es der junge Mann hastig zu und steckte es an seinen Platz zurück.

„Solch ein Geheimniß machen Sie aus Ihrer Lectüre?“ lachte sie. „Wenigstens will ich mir den Verfasser ansehen. Es war dieses Bändchen hier, in rothgoldenem Einband; ich habe genau Acht gegeben, als Sie es fortlegten.“

Draußen vor dem Laden kam ihnen unerwartet der Commerzienrath entgegen. Der alte Herr, welcher für Alfred große Vorliebe gefaßt hatte, entführte ihn zu einem Frühtrunk und versuchte nun bei einem ausgezeichneten Spatenbräu den Referendar zu bewegen, daß er mit der Familie Jung von Bayreuth aus die Ausstellung in Nürnberg besuche.

„Hillmann und ich werden uns, als Geschäftsleute, auf der Ausstellung und auch in den Nürnberger Fabriken manches sehr [522] genau ansehen mussen,“ bemerkte er. „Sie könnten sich ein großes Verdienst erwerben, wenn Sie inzwischen meine Damen etwas beschützten. Und die Abende verbrächten wir dann gemeinschaftlich und vergnügt.“

„Wenn man nur endlich einmal wüßte, was es mit diesem Max Hillmann für eine Bewandtniß hat!“ dachte Alfred, und frug in anscheinender Verwunderung:

„Ist Herr Hillmann Kaufmann? Ich hielt ihn für einen Musiker von Fach.“

„Hahaha! Wirklich? Das wird Rosa amüsiren, die immer behauptet, er habe etwas von einem Künstler an sich. Nein, da haben Sie sich getäuscht! Er ist ein tüchtiger Kaufmann, jetzt nach Procurist und nächstens Theilhaber meines Geschäftes. Ein lieber, braver Mensch, mit einem Herzen wie ein Kind. Nur so lange er bis über die Ohren im Wagner-Cultus steckt, ist er nicht zu gebrauchen. Ich weiß nicht recht, ob meine Frau ihn damit angesteckt hat, oder er sie. Wenn ich ihn erst wieder in Berlin hinter seinem Pulte habe, ist er ganz vernünftig und zugänglich.“

Alfred zuckte zusammen bei dem leicht hingeworfenen „nächstens“, das ihm von der ganzen Rede allein noch in den Ohren klang. „Nächstens“ bedeutete natürlich: sobald er der Mann meiner Tochter wird! Diese Heirath war jedenfalls eine längst beschlossene, praktische, solide Verbindung auf geschäftlicher Grundlage, und der lange, blonde Max pflückte sein Rosenknöspchen, das sich, allem Anschein nach, nicht ungern von ihm pflücken ließ, mit der größten Gelassenheit und Seelenruhe.

Jetzt stand der Entschluß bei ihm fest, Bayreuth sofort zu verlassen, und in der That traf er am Abend die wenigen Vorkehrungen zur Abreise mit dem Nachtzuge.

Nach Einbruch der Dunkelheit hörte er zahlreiche Wagen unten vor seinen Fenstern vorbeirollen und erinnerte sich, daß jetzt die zum Empfang Geladenen vermutlich nach dem „Wahnfried“ fuhren.

Ob Rosa wohl in der That allein im Hôtel gebliehen war? Er nahm seinen Hut und begab sich, um ein Restaurant für sein Abendessen auszusuchen, auf die Straße. – Richtig, die zwei Fenster im ersten Stock des Hotels waren erleuchtet!

Und welcher Liebende an seiner Stelle hätte da der uralten, ewig neuen Versuchung widerstehen können, nach dem Schatten der Geliebten zu spähen? Vorläufig war jedoch nichts davon zu entdecken. Sie mochte wohl, in ihr Buch vertieft, in der Mitte des Zimmers am Tisch sitzen. Nach einer langen Zeit vergeblichen Harrens wanderte er weiter, verzehrte melancholisch in der Ecke eines lärmenden Wirthshauszimmers sein einsames Mahl und begab sich dann auf den Heimweg.

Sein Blick fiel im Vorübergehen auf das erleuchtete Fenster eines Blumenladens, in dem ein ganzes Bouquet frischer, zarter Moosrosenknöspchen prangte. Mit einem unwillkürlichen raschen Entschluß trat er hinein, kaufte den duftenden Strauß, eilte nach der „Sonne“ und übergab ihn hastig dem lächelnden Portier, mit der Weisung, ihn sofort auf Zimmer Nr. 2 zu Fräulein Jung zu tragen.

„Sie mag errathen, daß es mein Abschiedsgruß ist,“ dachte er dabei. Dann eilte er nach der gegenüberliegenden Seite der Straße. Er erkannte am Schatten, wie sich Jemand in dem erleuchteten Zimmer erhob, wahrscheinlich auf das Klopfen des Portiers hin. – Jetzt mußte sie die Thür geöffnet – jetzt die Blumen in Empfang genommen haben, denn der Portier war schon wieder in dem hellen Thorweg erschienen. Es vergingen einige Minuten, in denen sich der Schatten lebhaft hin- und herbewegte. Dann verdunkelte er auf einmal das Fenster, und jetzt – jetzt konnte Alfred deutlich in dem erleuchteten Rahmen die Umrisse einer schlanken, weiblichen Gestalt wahrnehmen, die nach der dunklen Straße hinaus zu blicken schien. Er verharrte unbeweglich auf seinem Platz, ohne zu wissen, wie lange er so hinaufgeschaut hatte. Endlich wandte sich die Gestalt ab, und er fühlte sich zusammenschauernd allein in der feuchten, kalten Nachtluft.

Hatte er sie jetzt wirklich zum letzten Mal gesehen? In der nächsten Stunde schon sollte ihn eine immer wachsende Entfernung von ihr trennen? Was hinderte ihn denn, ihr morgen noch die Hand zum Abschied zu drücken und dann erst zu scheiden? Es kam ihm plötzlich so sonderbar und auffallend vor, wenn er ohne persönlichen Abschied den Familienkreis verließ, der ihn so freundlich aufgenommen hatte. Er sagte sich, daß es viel männlicher sei, ein letztes Zusammensein mit Rosa, ein mündliches Lebewohl gefaßt und äußerlich ruhig zu ertragen, als feige zu flüchten.

Lange zögerte er am nächsten Vormittag, ehe er den schweren Gang zu dem Abschiedsbesuch antrat. Unten im Thorweg der „Sonne“ stand der dicke Commerzienrath, die Hände in den Taschen, plaudernd mit Max Hillmann zusammen.

„Morgen, morgen, Herr Berger! Nun sagen Sie mir, warum Sie sich gestern nicht wieder blicken ließen? Sie waren doch nicht unwohl? Erbärmlich blaß sehen Sie allerdings aus,“ rief er Alfred besorgt und freundlich entgegen.

„Danke, Herr Commerzienrath, nein, ich bin ganz wohl. Aber ein Brief von zu Hause, den ich gestern erhalten habe, nöthigt mich –“

„Was, Sie haben doch nicht etwa betrübende Nachrichten von Ihrer Familie?“

In diesem Augenblicke öffnete sich in der ersten Etage ein wohlbekanntes Fenster, Fräulein Rosa’s blondes Köpfchen beugte sich aus demselben hervor und nickte freundlich grüßend zu Alfred hinunter, der seinerseits im Hinaufschauen fast den Gruß vergaß.

„Ach, hör’ mal, Röschen, habe ich nicht den Brief von meiner Frau oben bei Euch liegen lassen?“ rief da plötzlich Max Hillmann neben ihm vernehmlich hinauf. „Bitte, sieh doch nach, er muß auf dem Tische liegen,“ versuchte er noch hinzuzufügen, aber das Fenster war jäh zugeschlagen worden und das Gesicht von Fräulein Rosa spurlos verschwunden.

Vor Alfreds Augen flimmerten und tanzten die Häuser des Rennweges bunt durch einander, während er den Commerzienrath sagen hörte:

„Hat Deine Frau heute Morgen geschrieben? Wie geht es dem Jungen? Hat er glücklich seinen Zahn?“

Dann klopfte er Alfred liebevoll auf die Schulter:

„Nein, sagen Sie doch, lieber Berger, haben Sie wirklich etwas Betrübendes von zu Hause gehört? Doch nicht eine Erkrankung –“

„Ganz im Gegentheil, Herr Commerzienrath,“ brach jetzt Alfred endlich mit einem so strahlenden Gesicht los, daß ihn die beiden Herren erstaunt von der Seite ansahen. „Im Gegentheil, ich habe die besten, angenehmsten, erfreulichsten Nachrichten, die ich wünschen kann. Es geht Alles sehr gut, ganz ausgezeichnet, wirklich wundervoll!“

„Desto bester, lieber Freund. Freut mich sehr, zu hören. Aber warum kamen Sie gestern nicht?“

„Weil ich mich verirrt hatte, bester Herr Commerzienrath. Ich begreife jetzt selbst nicht mehr, wie es geschehen konnte, aber ich war in der That auf eine ganz falsche Spur geraten.“

„In dem kleinen Bayreuth verirrt?“ frug Max Hillmann ungläubig.

„Jawohl, in Bayreuth, Herr Hillmann. Können Sie es glauben? Ich weiß gar nicht, wo ich Augen, Kopf und Ohren gehabt haben muß.“

Es war ein behagliches, durch Heiterkeit gewürztes Mahl, das die drei Herren vereinte, während die Damen wegen eines leichten Unwohlseins der Frau Commerzienräthin auf ihren Zimmern blieben, um ihre Kräfte für die letzte Vorstellung zu schonen. Alfred, der heute von Lebenslust und Frohsinn übersprudelte, fand plötzlich großes Wohlgefallen an dem stillen, ernsten Max Hillmann, mit dem er bisher stets nur die unumgänglichsten Höflichkeitsphrasen gewechselt hatte. Namentlich schien er sich für dessen intimere Familienverhältnisse merkwürdig zu interessiren, denn er brachte das Gespräch alle Augenblicke auf „Frau Hillmann“, oder: „Ihr Söhnchen, Herr Hillmann.“

Klopfenden Herzens stand Alfred vor dem Hôtel an dem Wagen, der ihn und die Familie Jung zum letzten Male in das Bühnenweihfestspiel fahren sollte, und erwartete den Moment, da Rosa ihm nicht länger ausweichen konnte. Sie kam hinter der Mama die Treppe herab, versenkten Auges, liebliche Verwirrung auf dem reizenden Gesichte. An ihrer Brust leuchtete aus dem Spitzenschmucke ihres Kleides ein Sträußchen frischer Rosenknospen hervor, die Alfred mit geheimer Freude nur zu wohl erkannte. Welche Fertigkeit haben schöne junge Mädchen darin, mit halbgeschlossenen Lidern zu verharren, den Blick, der sie sucht, standhaft zu vermeiden, und doch vermutlich Alles zu sehen, was um sie vorgeht!

[523] Man saß wieder drinnen im Theater, umgeben von brausendem Stimmengewirre. Noch war Alfred weder Blick noch Wort von seiner Nachbarin zu Theil geworden, die, halb abgewandt von ihm, mit der Mama im Gespräche war. Er sah, daß sie noch bemüht war, die unzähligen Knöpfchen des eleganten Handschuhes an ihrer linken Hand zu schließen.

„Wollen Sie mir nicht erlauben, Ihnen zu helfen?“ fragte Alfred.

Sie reichte ihm folgsam, wortlos den Arm hin, der ein wenig zitterte, und während er, über denselben gebeugt, ziemlich ungeschickt die angebotene Hülfe zu leisten suchte, begann er, um einen Anknüpfungspunkt verlegen, in unsicherem Tone:

„Fräulein Rosa“ – so hatte er noch nie gewagt sie anzureden – „ich bin Ihnen noch die gestern verweigerte Auskunft über das bewußte Gedicht schuldig. Mögen Sie noch wissen, was es war?“

„Nun wohl?“ erwiderte sie leise.

Sie kennen ohne Zweifel die reizenden Zeilen Mirza Schaffy’s: ‚Neig’, schöne Knospe, dich zu mir –‘ seine gedämpfte, von verhaltener Bewegung zitternde Stimme stockte, als sie ihm rasch ihren Arm zu entziehen suchte. Zugleich aber schlug sie, halb widerstrebend, die Augen zu ihm auf in demselben Moment, da die Gasflammen im Hause verdunkelt wurden.

Wie ein einziger Sonnenstrahl hatte ihn ein verheißungsvoller, zärtlich-scheuer, seliger Blick getroffen, ehe er in dem plötzlich eintretenden Dunkel erlosch. Einen Ausruf des Jubels gewaltsam zurückdrängend, haschte er nach ihrer rechten, noch unbedeckten Hand und beugte sich tief hinunter, um seine Lippen in heißem Kuß darauf zu drücken.

In der Pause nach dem Schluß des Actes war es höchst merkwürdig, wie schnell Fräulein Rosa Jung und Herr Alfred Berger in der Abenddämmerung draußen durch das Menschengewühl von dem übrigen Theile der Gesellschaft getrennt wurden. Als sie nach Verlauf einer guten halben Stunde endlich wieder auf die besorgten Eltern und Vetter Max stießen, nach denen sie natürlich die ganze Zeit über eifrig gesucht hatten, glühten ihre Wangen und ihre Augen strahlten in ungewöhnlichem Glanze. Ob er inzwischen die übrigen Zeilen des Gedichtes recitirt hatte? Ob er ihr dann eine beredte Schilderung von der Seelenqual der letzten Tage entworfen? – Ob sie behauptete, ganz unschuldig an seinem Irrthum wegen Vetter Max zu sein, oder ob sie ihm gestanden, daß sie eine kleine Bestrafung des Verbrechens am ersten „Parsifal“-Abend für unumgänglich nothwendig gehalten habe?

Mit Sicherheit läßt sich nichts darüber behaupten. Wohl aber darf man berichten, daß Alfred Berger am nächsten Morgen in Begleitung der Familie Jung nach Nürnberg reiste, nachdem er vorher dem Herrn und der Frau Commerzienrath eine feierliche und inhaltschwere Visite abgestattet hatte, deren Erfolg zierlich bedruckte Karten für die gesammte Verwandt- und Freundschaft zweier bald in engste Verbindung tretenden Familien nothwendig machte.

So war es geschehen bei der Bayreuther „Parsifal“-Aüfführung im vorigen Jahre. Wir dürfen es dem Leser wohl verraten, daß bei dem diesjährigen Bühnenweihfeste in Bayreuth einzelne Familien-Scenen des vorigen Jahres im Zuschauerraume sich wiederholten. Wieder saß eine ältere Dame mit der „Parsifal“-Partitur da, und abermals neben ihr ein junges Paar, welches, auf seiner Hochzeitsreise begriffen, es nicht versäumen wollte, „Parsifal“ als seinem Ehestifter seine dankbare Huldigung darzubringen, und zwar zum stillen Entzücken der Frau Mama, welche das stolze Bewußtsein im Busen trug, dem Genius Richard Wagner’s zwei ewig treue Verehrer gewonnen zu haben.