Textdaten
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Autor: A. Godin
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Titel: Hängende Fäden
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 36–38, S. 588–591, 606–610, 623–626
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1887
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Hängende Fäden.

Erzählung von A. Godin.

Die letzten Strahlen der feurig untergehenden Sonne spielten zwischen den Zweigen der Eschenreihe, welche einen der schönsten Plätze Münchens begrenzt, und erhellten ein nach dieser Seite gelegenes Zimmer der Pension Fischer noch hinreichend, um der am Sofatisch sitzenden Dame die Vollendung ihres Briefes möglich zu machen. Ihre Gedanken schienen den rasch über den Bogen laufenden Zeilen noch vorauszueilen; ein zufriedener Zug umspielte den feinen Mund.

Während sie so lautlos beschäftigt saß, verhielt sich ein am offenen Fenster stehendes junges Mädchen eben so schweigend. Jede Bewegung der schlanken, noch fast kindlichen Gestalt, jeder Zug des beredten Gesichtchens verrieth aber sprühendes Leben. Die leise Heiterkeit der Mutter erglühte in der Tochter zur hellen Freude, ihre rothen, vollen, in diesem Moment etwas getheilten Lippen schienen alle Luft des Lebens einathmen zu wollen; das aus der Stirn zurückgestrichene Haar äffte muthwillig die moderne Stirnzierde nach, indem krause, der Zucht entschlüpfte Löckchen sich im Windhauche regten. Selbst in der Haltung der erhobenen, von einer Strähne rothen Garnes umspannten Arme lag etwas Triumphirendes, und die kleinen Hände wickelten so energisch ab, als gälte es, wirkliche Fesseln eiligst zu lösen, während übermüthige nußbraune Augen darüber fort nach den Anlagen des Platzes schweiften. Da sprang unversehens der rothe Knäuel aus der Hand auf das Fensterbrett und von dort in raschem Satz hinab auf den zwischen Haus und Allee führenden Weg.

Das dunkle Köpfchen beugte sich lachend zum Fenster hinaus, begegnete zwei blauen, aufwärts gerichteten Augen und erblickte den Flüchtling zwischen den Fingern eines jungen Mannes, auf dessen blonder Mähne ein breitrandiger Filzhut saß, der eben leicht gelüftet wurde. Ein Zeichen des Stehengebliebenen deutete an, daß sein Fund zur Eigenthümerin zurückkehren solle. Er machte sich einen Moment mit dem Knäuel zu schaffen, kurz genug, um dem Bilde im Fensterrahmen, mit dem ihn der hängende Faden verband, kaum Zeit zur Besinnung zu lassen, bis der rothe Ball mit geschicktem Wurf emporflog und von eben so gewandter Hand flink aufgefangen wurde.

Beide jungen Menschen lachten einander einen Augenblick an; dann grüßte der Schlanke nochmals und ging seines Weges. Das Mädchen sah ihm fröhlich nach, bis sein wallendes Haar und der leichte Fuß zwischen den Bäumen verschwanden; dann fiel ihr Blick auf den Knäuel, und ein überraschter Laut entschlüpfte ihr, der die Mutter aufschauen und fragen ließ:

„Was ist, Lisbeth,“

„Ein Abenteuer!“ rief Lisbeth mit blitzenden Augen und frischer Schminke auf dem brünetten Gesicht. „Sieh nur – so kehren verlorene Habseligkeiten vom Münchener Pflaster zurück!“

Ein kleiner Strauß frischer Veilchen war zwischen die rothen Fäden geschoben. Indem sie ihn löste und an das zierlich geschwungene Näschen führte, sprach sie lebhaft weiter:

„Und ein Münchener Künstler war es, der mich’s erleben ließ, Mama! Ist das nicht ein glückliches Omen? Er sah aus wie Balder, der Gott des Lichtes – ich will ihn Dir zeigen!“ Sie zog den Bleistift aus einem auf dem Tische liegenden Notizbuche und entwarf mit kecken Strichen die Kontour der Jünglingsgestalt mit aufwärts gerichtetem Kopfe, eine lose gehaltene Mappe unter dem linken Arm, den rechten zum Wurfe gehoben. „Denke Dir leuchtende Blauaugen hinzu, Mama, und Du hast eine Vorstellung vom Helden meines Fensterabenteuers.“

„Tollkopf!“ schalt die Mutter, „zettelst Du, drei Schritte von mir, bereits Unsinn an, wie soll ich Dich allein lassen?“

Lisbeth fiel ihr um den Hals. „Ach, Mama, ich werde ja so vernünftig sein, als ob ich meine eigene Großmutter wäre; nur heute, heute nimm es damit nicht so genau! Ich bin zu glücklich; es ist mir wie ein Märchen, daß ich nun wirklich hier sein und bleiben, daß ich Künstlerin werden darf, wonach sich mir die Seele verzehrt hat, seit mir träumt, was Kunst bedeutet. Soll ich nun an diesem ersten Glückstage meine fünf Sinne am Schnürchen halten? Unmöglich, Mama! Sie tanzen in mir wie Mücken im Sonnenstrahl.“

Die Augen der Majorin wurden feucht; das nahe Scheiden kam ihr gerade in diesem Moment schmerzlich zum Bewußtsein, doch unterdrückte sie jede Aeußerung, welche die Freudigkeit ihres Kindes hätte trüben können.

„Es wird Zeit, zu Ahrens zu gehen,“ sagte sie und schob ihren Brief in das Kouvert. „Mache Dich fertig!“

„Sehr neugierig bin ich auf meine Kollegin,“ äußerte Lisbeth, indem sie ihr graues Hütchen feststeckte, „die Frau Doktor hat mir bei unserem gestrigen Besuche und auch heut, als sie hier bei uns war, sehr gut gefallen, und ihre Tochter scheint recht nett zu sein. Wenn der Student und die Kunstschülerin eben so angenehme Leutchen sind, wird sich’s dort gut hausen lassen!“

Ein kurzer Weg führte Mutter und Tochter in die Arcisstraße, wo die Freundin wohnte, unter deren Obhut Majorin Rüttiger ihr Kind zurücklassen wollte. Scharfe Herbstkühle war mit dem Scheiden der Sonne eingetreten, und die Dämmerung brach rasch heran. Als die bereits Erwarteten im Wohnzimmer der Doktorin freundlich empfangen wurden, war dasselbe schon erleuchtet und die Familie am runden Tisch in der Mitte des traulichen Gemaches versammelt: die Hausfrau, zwei hübsche Mädchen und ein junger Mann von einnehmender Erscheinung, den Frau Ahrens als ihren Sohn vorstellte, nachdem sie zuvor Martha Brohl, ihre Pensionärin, genannt hatte. Der jugendliche Gast, als baldige Hausgenossin Mittelpunkt des Interesses Aller, fand sich schnell zurecht und war im zutraulichsten Geplauder mit ihren Altersgenossen, als sich, nach dem Thee, die Mütter auf ein Ecksofa zurückzogen.

„Wie schwer muß es Dir fallen, Dich von diesem Kinde zu trennen,“ sagte Frau Ahrens mit hellem Blick auf Lisbeth, „solcher Frische und Natürlichkeit bei so viel geistiger Begabung begegnet man nicht oft bei unseren heutigen jungen Mädchen!“

„Ja! es fällt mir schwerer, als sich sagen läßt, und doch, liebe Marie, betrachte ich es als großes Glück, so weit zu sein. Jedes ausgesprochene Talent fordert sein Lebensrecht. Seit Lisbeth’s kurzem Aufenthalt bei unseren Berliner Verwandten, der sie zuerst mit wirklichen Kunstwerken bekannt machte, hat die heiße Sehnsucht sie nicht mehr verlassen, ihre eigene Anlage ausbilden zu dürfen. Du machst Dir keine Vorstellung von den Kämpfen, die es kostete, bis Rüttiger dazu seine Einwilligung gab. Er fand den Gedanken abenteuerlich und nicht standesgemäß, der Kostenpunkt war auch eine harte Klippe. Weißt Du, mein Mann hält es, wie viele Andere, im Grunde für selbstverständlich, daß Alles, was etwa vorhanden sei, in erster Linie dem männlichen Theil der Familie zukomme. Da er aber bei Alledem eine heimliche Schwäche für sein Töchterchen hat und ich ihr tapfer zur Seite stand, brachten wir ihn endlich dahin, ihr für ein Jahr das Kunststudium zu gestatten. Daß Du, liebe alte Freundin, so bereitwillig meiner Anfrage zustimmtest, erwies sich dabei als sehr wesentlich, denn nach Berlin, wo wir eine Menge Bekannte haben, hätte Rüttiger das Kind keinenfalls gehen lassen. Er verbindet merkwürdiger Weise mit der Vorstellung, seine Tochter wolle Künstlerin werden, die Idee, daß sich dies für Fräulein von Rüttiger nicht schicke.“

„Das giebt sich! Aber – ein Jahr, sagst Du? In diesem Punkte scheinst auch Du Dir falsche Vorstellungen zu machen. So begabt Lisbeth sein mag, hat sie mit dem Beginn anzufangen, und es bedarf langer Zeit, um etwas zu erreichen. Martha Brohl ist nun anderthalb Jahre hier und noch lange nicht über den Zeichensaal hinaus.“

Die Majorin lächelte fein: „Kommt Zeit, kommt Rath. Hier war nur der Anfang schwer, ihn weiter zu führen, ist mir nicht bange. Ich habe Dich als die alte treue Seele wiedergefunden, in Deiner Häuslichkeit weht gute, reine Luft, und so lasse ich Dir meine Lisbeth in der Zuversicht, daß Du sie liebgewinnen wirst und sie selbst sich hier wohl fühlt.“

Als Lisbeth am Schlusse dieses Abends ihre Mutter zur guten Nacht küßte, war sie durch alle erlebten Eindrücke so freudig erregt, daß Frau von Rüttiger den Gedanken an die letzte gemeinschaftliche Nacht nicht zu Worte kommen lassen mochte. Der Seufzer des Mutterherzens verklang ungehört. Ehe das Mädchen [589] in ihr Bett schlüpfte, vertauschte der kleine Veilchenstrauß seinen provisorischen Platz im Wasserglase mit dem dauernden in Lisbeth’s Skizzenbuch. Er sollte dort als Omen heimathberechtigt bleiben; ein Datum daneben zu verzeichnen schien nicht nöthig. –

Die neuen Eindrücke, welche Lisbeth in München empfing, halfen ihr über den Schmerz der Trennung von ihrer Mutter hinweg.

Lisbeth athmete das neue Leben in vollen Zügen. Ihr war, als sei sie eben erst auf die Welt gekommen, und wirklich ließ sich ihr gegenwärtiger Zustand dem eines Kindes vergleichen, das in den ersten Lebensjahren mehr in sich aufnimmt als jemals später: eine ganze Sprache, die Kenntniß aller Dinge um sich her, das Aufdämmern eigener Gedanken. Und einem Kinde gleich machte das junge Mädchen jetzt instinktiv alle Schritte und Bewegungen, welche ihre Phantasien in das Wirkliche übersetzten. Jeder, der um diese Zeit mit ihr in Berührung trat, hatte seine Freude daran, sie gleich einem Schmetterling dem Lichte zufliegen zu sehen – nicht dem Feuer, das die leichten Flügel verbrennt, sondern der Sonne, die den Farbenschmelz erhöht. Freudigste Wärme ging von der jungen Seele aus und wirkte belebend auf ihre Umgebung.

Zwischen den vier jungen Hausgenossen herrschte schönste Harmonie. Jedes von ihnen war in seiner Weise begabt und eigenartig genug, um den anderen stets interessant zu bleiben und allerlei Räthsel aufzugeben. Besonders die Abende dieses Hauslebens schienen Lisbeth aller Freuden voll. Im elterlichen Hause war, wenn die Lampe auf dem Tische stand, Schweigen die Losung. Die Brüder saßen bei ihren Schularbeiten, der Vater las, und auch später, bei Tische, kam selten eine gute Familienplauderei in Gang. Wie anders hier! Nach vollbrachtem Tagewerk gewann die Stunde, welche Alle wieder zusammenführte, gleichsam etwas Leuchtendes. Es gab zu berichten; Jedes hatte irgend etwas erlebt, das jugendliche Quartett überbot sich in guten Einfällen. War der Student zu Hause, was häufig geschah, da er, im letzten Semester seines Studiums der Philologie stehend, mit verdoppeltem Eifer arbeitete, so wurde er die Zielscheibe für den Witz der drei Mädchen, den er in bester Laune parirte, dabei aber oft durch eine geschickte Wendung die ganze Tafelrunde tieferem Fahrwasser zuführte. Seine Schwester Resi, „die Talentlose“, wie sie sich selbst zu bezeichnen liebte, besaß in hohem Maße das Talent guter Einfälle und den weiblichen Sinn, das Haus zu schmücken. Sie war ihrer Mutter rechte Hand. Der Sonnabend blieb ein- für allemal geselligem Verkehr gewidmet. Einige Freunde Richard’s fanden sich dann zur Theestunde ein, auch die Zahl der Mädchenköpfe vermehrte sich durch geladene oder Zufallsgäste. Es wurde musicirt, zuweilen etwas vorgelesen, improvisirte oder vorbereitete Charaden, naiv in Ausführung, geistreich in Erfindung, kamen zur Darstellung, und der Ehrgeiz, Neues zu ersinnen, förderte manchen originellen Einfall zu Tage. Um alles in der Welt hätte Lisbeth nicht eingestanden, daß jeder dieser Samstage leise Spannung in ihr weckte, daß sie, so oft sich die Thür aufthat, Jemand erwartete, der niemals erschien. Es fehlte nicht an schlanken Blondins, keiner glich aber nur entfernt dem Veilchenspender. Mehr als einmal war sie in Versuchung, Letzteren Richard Ahrens zu schildern und zu fragen, ob er seines Gleichen kenne. So oft das Wort auf die Lippe wollte, spürte Lisbeth aber schon im Voraus, daß sie roth werden würde wie eine Granatblüthe, und schwieg still, um nicht eine Fluth von Neckereien heraufzubeschwören. Sie selbst war zu harmlos, um sich darüber zu verwundern, daß die so flüchtig geschaute Erscheinung sich wiederholt die Freiheit nahm, in ihren Träumen umherzuspazieren, ganz unwillkürlich sah sie aber auf der Straße oder bei größeren Versammlungen nach dem Bilde aus, das ihr wie ein Titelbild des Münchener Lebensbuches vorkam. Es blieb unverrückt und mit unverwischbaren Zügen auf der ersten Seite stehen.

Der Winter brachte manchen Anlaß zu solcher vergeblichen Ausschau. Theater oder Koncerte zu besuchen, war Lisbeth selten vergönnt, da Luxusausgaben nicht in Betracht kommen konnten. Doktorin Ahrens lebte zurückgezogen, seit sie Wittwe geworden war, schlug aber im Interesse des jungen Völkchens niemals die Einladungen aus, welche zu den alljährlichen Künstlerfesten an sie gelangten. Die Pracht und Schönheit dieser Feste, der Reichthum an Farben und Formen, welche vergangene Zeiten wiederspiegelten, wirkten auf Lisbeth förmlich berauschend. Während sie [590] ganz Auge war, mischte sich dennoch die Phantasie ein und zeigte ihr von fern unter irgend einem Sammtbarett, einer Straußenfeder das wallende, wehende Blondhaar, um dann am zufällig Näherkommenden einem gleichgültig fremden Gesichte zu begegnen.

Vielleicht war es diese geheime Spannung auf ein bestimmtes Bild, was Lisbeth mancher Huldigung gegenüber so unbefangen erhielt. Obgleich Martha Brohl und Resi Ahrens viel hübscher waren als sie, zog doch Lisbeth’s interessantes Köpfchem das koncentrirte Feuer ihres Naturells die jungen Leute, welche in dem Hause verkehrten, sichtlich am meisten an. Vor Allen wurde es Richard Ahrens nichts weniger als leicht, dem strengen Hausgesetze seiner Mutter, daß er keiner ihrer Schutzbefohlenen den Hof machen dürfe, stets zu gehorchen. So sehr ein junger Mann aber auf der Hut sein möge, wird seine Erkorene doch immer recht gut wissen, wie es um ihn steht, und blieb auch des Mädchens Herz unberührt, empfand sie doch, ohne eine Spur von Koketterie, das stäte Bemühen, ihr Angenehmes zu erweisen, als Erhöhung der tausendfachen Freuden und Genüsse ihres gegenwärtigen Lebens. Die Korrespondenz mit der geliebten Mutter war eine hohe Ziffer in diesen Freuden, und die Aussicht, bei Ferienschluß der Schule nach Hause zu reisen, glänzte in die reichen, gegenwärtigen Tage hinein.

Ehe diese Zeit herangekommen war, traf unheilvolle Botschaft ein. Major von Rüttiger, dessen Regiment zum Manöver ausrückte, stürzte bei einer Uebung mit dem Pferde und verletzte sich schwer. Seine Frau war sogleich zu ihm geeilt, an Lisbeth erging die Weisung, zu bleiben, wo sie war, da der Kranke zunächst an Ort und Stelle gepflegt werden mußte. Es fiel ihr überaus schwer, in der Ferne weilen zu sollen, während die Eltern litten; ihr ganzes Herz drängte heim; doch blieb ihr nichts übrig, als sich zu fügen. Die nächsten Wochen brachten beruhigendere Nachrichten. Des Vaters Leben war nicht bedroht; er kehrte unter Obhut und Pflege seiner Frau in kleinen Etappen nach der Garnison zurück. Dennoch klangen der Mutter Briefe bedrückt, sie deutete auf Unentschiedenes, auf mögliche Veränderungen hin, ohne Lisbeth’s dringende Fragen anders zu beantworten, als daß sie mahnte, alles Weitere in Geduld abzuwarten. Das lastete schwerer auf des Mädchens Seele als eine bestimmte Sorge, der sie einen Namen hätte geben können – so glaubte Lisbeth wenigstens. Mit ihrer Fröhlichkeit war es vorbei, sie wurde still und schweigsam, eine Ahnung drohenden Unheils ließ sie nicht mehr los.

Da traf Doktorin Ahrens Lisbeth eines Mittags, als sie nicht auf den Glockenschlag bei Tische erschien und deßhalb von ihr aufgesucht wurde, ganz aufgelöst in Thränen. Vor einem Stuhle knieend barg sie das Gesicht in beiden Armen und schluchzte so gewaltsam, daß die gute Frau heftig erschrak.

„Schlimme Nachrichten?“ sagte sie, als sie einen offenen Brief auf dem Tische liegen sah.

Lisbeth fuhr in die Höhe, strich sich wie betäubt die Haare aus dem Gesicht und nickte. „Des Vaters Knie bleibt steif; er ist um seinen Abschied eingekommen; wir ziehen nach Braunschweig und ich – ich – soll nach Hause!“

Die Doktorin legte den Arm um ihr vor Erregung bebendes Pflegekind und strich ihr leise über das Haar.

„Leider sagst Du mir nichts Neues!“

„Nichts Neues?“ rief Lisbeth mit weit geöffneten Augen. „O, gewiß haben Sie nicht verstanden! Ich soll meine Studien aufgeben, für immer, das Geld, welches meine Ausbildung kostet, müsse zu Nöthigerem verwendet werden, schreibt Papa, und auch die Mama scheint dieser Meinung zu sein. Giebt es denn Nöthigeres als vorwärts zu kommen? Mitten auf dem Wege umzukehren ist doch nicht möglich! Gerade jetzt gilt es, alle Kräfte anzuspannen, in ein paar Jahren kann ich den Meinigen eine Stütze werden. Unbegreiflich, daß sie dies nicht einsehen –“

Als Frau Ahrens nicht antwortete und nur theilnehmend das Mädchen ansah, warf Lisbeth beide Arme um ihren Hals und rief leidenschaftlich:

„Helfen Sie mir! Ich will auf Alles verzichten, eine Dachkammer ist mir recht; von Wasser und Brot will ich leben, nur nicht loslassen, woran mein Leben hängt, nicht jetzt nach Hause müssen, wo ich doch nichts helfen und auf meiner Bahn nie, nie vorwärts kommen kann!“

„Wir haben lange überlegt, Deine Mutter und ich, liebes Kind! Mancher Brief ist über diesem Thema gewechselt worden; Du solltest wenigstens nicht mit der Ungewißheit zu kämpfen haben, so lange ein Fünkchen Hoffnung blieb, Dir dies Leid zu ersparen. Daß ich hierzu that und vorschlug, was in meinen Kräften stand, darfst Du mir glauben, und Deine arme Mutter war zu jedem Opfer bereit. Der Wille Deines Vaters ist aber unbeugsam, er fordert entschieden, daß Du heimkehrst und den Gedanken an Malerei als Lebensberuf aufgiebst. Das steht da wie eine Mauer, denn leider läßt sich nicht leugnen, daß noch Jahre vergehen müssen, ehe Deine Kunst nach Brot gehen kann.“

Lisbeth senkte den Kopf ohne zu antworten. Also auch hier kein Verständniß ihrer Noth, auch hier die Ansicht, daß sie sich mit Unabänderlichem abzufinden habe.

Entsagung ist und bleibt ein bitteres Kraut, auch für Die, welche den Kelch schon wiederholt geleert haben. Mit neunzehn Jahren, in einem von leidenschaftlicher Sehnsucht erfüllten Herzen, wo jede Blutwelle von Feuer durchströmt ist, hat Vernunft kein ausreichendes Gewicht, um schwerem Verzicht die Wage zu halten. In Lisbeth’s glühenden Schmerz mischte sich ein Trotz, der ihr im Augenblick jede Anschauung verdunkelte. Der Gedanke, nicht zu gehorchen, stieg in ihr auf – Alles, was sie je über Menschen gehört und gelesen hatte, die allen Hindernissen, der Armuth, dem Alleinstehen zum Trotze ein hochgestecktes Ziel zu erreichen gewußt hatten, glitt an ihrem erregten Geiste vorüber. Es fiel ihr nicht ein zu bezweifeln, daß die schaffende Kraft in ihr wirklich jedes Opfers fähig und würdig sei, der Gedanke an ihre Mutter genügte jedoch, die Versuchung aus dem Felde zu schlagen.

Während der Abschiedstag näher rückte, durchwandelte Lisbeth bald mit überströmenden, bald mit starren Augen noch einmal alle Stätten, die ihr hier vertraut und theuer geworden waren, riß sich von jedem Bilde, jeder Statue einzeln los und hätte in der brausenden Isar, deren weißschäumende Gefälle sie so liebte, ihr Leben hinströmen mögen.

Mit dem natürlichen Egoismus der Jugend, die jede Wallung zu Worte kommen läßt, erschwerten die bisherigen Hausgenossen Lisbeth das Scheiden durch lebhafte Klagen und eben so lebhafte Zeichen ihrer Zärtlichkeit. Wo junge Leute beisammen sind, behält elegische Stimmung aber nur für kurze Zeit das Uebergewicht. So schlug das Bedürfniß der Freudigkeit alle Abschiedsgedanken nieder, als die Mädchen am letzten Tage vor Lisbeth’s Abreise unter Richard’s Geleit eine Morgenwanderung nach dem Nymphenburger Parke ausführten. Das seit einer Woche naßkalte Wetter hatte sich über Nacht plötzlich geändert, einer der sonndurchwärmten Oktobertage, wie sie München öfters beschert werden, blaute nieder, und der während des Frühstücks vorgeschlagene Gang im sonnigen Morgenlichte weckte die fröhliche Laune des jungen Völkchens. Lisbeth selbst vergaß ihr Leid, um sich mit der ihr eigenen Genußfähigkeit ganz an die Stunde hinzugeben.

Der schöne Park stand im Herbstschmuck. Die Natur hatte ihre kräftigsten Farben mit unübertrefflichem Geschmack vertheilt; die stillen Wasserflächen spiegelten all die bunte Pracht leuchtend zurück. Kein Lüftchen regte sich, kein anderer Fuß, als der unserer jungen Leute, wandelte zu dieser Stunde im Umkreis der weitgedehnten Anlage. Ringsum war Alles still, frisch und glänzend; die mythologischen Gestalten sogar schienen ganz ungeziert von ihrem hohen Sockel niederzulächeln.

Als die Spaziergänger den Teich umschritten, bemerkte Richard, der neben Lisbeth ging, daß diese auf einmal wortkarg wurde, bald hier, bald dort stehen blieb, um einen purpurrothen Blätterzweig zu knicken oder träumerisch zu den Baumkronen aufzuschauen. Sein Herzensinstinkt verrieth ihm, daß Lisbeth nach Alleinsein verlange, und schnell knüpfte er an ein von den vorausgehenden Mädchen zurückgeworfenes Wort, um sich ihnen anzuschließen.

Er hatte richtig empfunden. Lisbeth fühlte sich hier plötzlich wieder von heißem Weh überfallen. Da lagen die Kähne, in denen sie während des Sommers das ruhige Wasser überschifft hatte; sie liebte überhaupt diese Stätte, besonders seit der erste Ausflug, den sie in München erlebte, sie nach Nymphenburg geführt – auch im Herbst, als der Park, wie heute, in allen Farben des Feuers stand.

Als sie jetzt den Steg betrat, der einen der Kanäle überbrückte, blieb sie, vom Teiche abgekehrt, gedankenvoll stehen und blickte, über das Geländer lehnend, stumm zum Wasser hinab, auf dem goldige Blätter einzeln, träge hinschwammen! Das erschien ihr wie ein Bild der eigenen Existenz. So golden hatten [591] ihre Tage geglänzt; nun sollten sie langsam, langsam weitergleiten, nicht von lebendiger Welle geschaukelt, sondern auf regloser, fast stagnirender Oberfläche, deren dunkler Grund ohne Tiefe war. Der schöne Tag leuchtete ihr nicht mehr in das Herz; sie neigte sich weit über das Geländer und starrte tiefsinnig hinab auf ihr eigenes Spiegelbild, das ihr unbewegt entgegensah. Da erblickte sie auf einmal drunten neben ihrem Gesicht einen zweiten Kopf mit wallendem lichten Haar, dem sie träumerisch zulächelte, seine Züge glitten oft genug durch ihre Phantasie, um ihr jetzt nicht befremdlich zu erscheinen. Als aber das Bild nicht verschwand, sondern sich regte und gleichfalls lächelte, fuhr sie zusammen und wendete unwillkürlich den Kopf. Hinter ihr, den schlanken Oberkörper etwas vorgebeugt, stand ein junger Mann, der nun höflich den Hut vor ihr zog.

[606] Lassen Sie mich nicht für allzu unbescheiden gelten, Fräulein!“ begann der junge Mann mit wohlklingender Stimme. „Als ich Sie hier so unerwartet erblickte, war die Versuchung zu mächtig. Wenn Sie sich aber eines gewissen rothen Deserteurs gar nicht mehr entsinnen könnten, wüßte sich der unberufene Wegelagerer freilich nicht zu entschuldigen.“

Lisbeth wurde schnell roth; ein Blitz der braunen Augen gab genügende Antwort, während ihre Lippen nicht gleich eine Entgegnung fanden. Auch blieb ihr dazu kaum Zeit, denn der Blonde fuhr lebhaft fort:

„Ist es nicht der wunderlichste Zufall, daß ich hier vor Ihnen stehe – diesmal auf gleichem Niveau? Als Ihr hängender Faden eine Verbindung zwischen uns hergestellt hatte, war ich für einen Tag nur in München, und heute wieder ist es nach einer Woche Aufenthalt mein letzter Münchener Tag!“

„Damals war es ebenfalls mein erster,“ sagte Lisbeth zutraulich, „und leider Gottes ist es heute auch mein letzter!“

„Darf man fragen, wohin Ihr Knäuel zunächst rollen wird?“

„Nach Norden,“ seufzte sie, schon im Begriff, den blauen Augen, die so treuherzig und zugleich so strahlend auf sie gerichtet waren, ihren ganzen Herzenskummer anzuvertrauen; doch besann sie sich und stellte, mit etwas höher schattirten Wangen, nur die Gegenfrage: „Und wohin gehen Sie?

„Nach Süden!“ rief er mit einem Freudeblitz. „Ueber die Alpen, ins gelobte Land, das Sie gewiß schon kennen, da man in München gleichsam auf der Schwelle steht.“

„Ich kenne nichts davon!“ sagte Lisbeth, und ihre verlangenden Augen verloren sich wie in unabsehbare Ferne. „Wie beneidenswerth sind Sie! Italienische Kunst zu sehen –“

„Sie interessiren sich für die Künste?“

„Ueber Alles!“

Während dieser rasch getauschten Worte wechselte Lisbeth die Stellung und bemerkte nun Richard Ahrens, der zwischen den Bäumen hervorkam und mit erstauntem Gesichte stehen blieb. Es schien ihr plötzlich, als habe sie sich schon seit undenklicher Zeit von ihrer Gesellschaft getrennt und müsse nun Rechenschaft ablegen. Mit verabschiedender Verbeugung gegen den Fremden sagte sie etwas hastig:

„Ich habe warten lassen –“

Dieser, welcher sie bisher unverwandt angeblickt hatte, wendete die Augen; ein schalkhafter Zug glitt über sein ausdrucksvolles Gesicht, als er den jungen Mann erblickte, und er machte keinen Versuch, Lisbeth aufzuhalten, als sie mit dem schnell hervor geathmeten Worte: „Glückliche Reise!“ den Steg verließ.

Während er ihr nachsah, sichtlich gespannt auf die Art ihrer Begegnung mit diesem Begleiter ihres Morgenspazierganges, tauchten wenige Schritte hinter Richard zwei Mädchenköpfe auf, und er hörte rufen:

„Aber wo bleibst Du, Lisbeth? Wenn wir noch in die Amalienburg wollen, ist es höchste Zeit. Mama hat uns eingeschärft, zur Tischzeit heim zu sein!“

Ein heiterer Zug spielte um die Lippen des Blonden. Er sah der Gruppe nach, bis sie zwischen dem Gehölz verschwand; wenn er darauf gerechnet hatte, daß die ihm interessante Brünette noch einmal den Kopf wenden würde, irrte er freilich, doch schien ihn das keineswegs anzufechten. Den weichen, zum Gruße abgenommenen Filzhut noch in der Linken, fuhr er sich mit der Rechten durch das Haar und ging raschen Schrittes in entgegengesetzter Richtung um den See.

Als die vier jungen Leute vor dem äußerlich so unscheinbaren Schlößchen anlangten, dessen innere Einrichtung als Juwel seines Zeitgeschmackes gelten darf, fanden sie es nicht nöthig, der Frau des Portiers zu klopfen. Die Eingangsthür stand offen, und bei dem ersten Schritt, welcher Lisbeth in die reizenden Räume führte, denen sie heute einen letzten Blick gönnen wollte, trat ihr der Blonde entgegen und bat, ihn ihrer Gesellschaft vorzustellen.

Lisbeth lachte. Das Leuchtende, was mitunter von ihren Augen ausging, erhellte das beredte Gesicht.

„Vorstellen? als wen? Ritter vom rothen Faden etwa?“

„Ja so! – mein Name ist Rank.“

Richard, gegen den er sich leicht verbeugte, erwiederte diese Begrüßung in gleicher Weise, ohne nöthig zu finden, auch die jungen Damen zu nennen. Lebendiges Geplauder entspann sich, während die kleine Gesellschaft in den Rokokosälen des Schlößchens verweilte, und die feinen, eigenartigen Bemerkungen des Fremden weckten steigendes Interesse bei den Einheimischen. Der Gast hatte offenbar Vieles gesehen und verstand es, jede Schilderung oder Kritik, wozu das hier Vorhandene ihn anregte, scharf zu charakterisiren, wobei lebendigste Frische des Ausdrucks den überlegenen Geist stets liebenswürdig erscheinen ließ.

Als die jungen Leute zusammen in das Freie traten, erschien es selbstverständlich, daß der Fremde sich für den Rückweg nach München anschloß. Vielleicht theilte Richard das unverhohlene Vergnügen der Mädchen über diesen Zuwachs nicht ganz. Es war ihm aufgefallen, daß die sonst so offene Lisbeth das kleine Abenteuer, welches sie vorhin als Erklärung ihres Gespräches mit einem Fremden flüchtig berichtet hatte, nie früher erwähnte, [607] während es doch offenbar eine bleibende Stelle in ihrem Gedächtnisse eingenommen und beiden Betheiligten nach so langer Zwischenzeit ein rasches Wiedererkennen ermöglicht hatte. Eine Regung heimlicher Eifersucht raunte ihm zu, daß es doch damals schwerlich bei so flüchtiger Berührung sein Bewenden gehabt haben möge, und er beobachtete die Beiden, ohne das selbst recht zu wissen oder zu wollen. Bald mußte er sich sagen, daß der Fremde jedenfalls seinen Vortheil nicht unbescheiden ausnützte, da er während der anderthalbstündigen Wanderung Lisbeth keineswegs in Beschlag nahm, auch nicht die geringste Neugier blicken ließ, etwas über sie zu erkunden.

Während einer ziemlichen Strecke des Weges geriethen die jungen Männer sogar in eifrige Unterhaltung, die sie für eine Weile isolirte. Als die ersten Häuser der Vorstadtstraße sichtbar wurden, strebte Rank freilich ganz entschieden an Lisbeth’s Seite und vertiefte sich mit ihr in ein Gespräch, dessen lebhaftes Tempo sich auch den Füßen mitzutheilen schien, das leicht ausschreitende Paar war bald den Andern weit voraus.

„Sagen Sie mir ganz ehrlich, Fräulein,“ unterbrach Rank ganz unvermittelt ein Geplauder, dessen Thema unpersönlich gewesen war, „hätten Sie, ohne meinen Appell an Ihr Gedächtniß, wirklich eine Ahnung davon gehabt, solchem Menschenkinde schon einmal begegnet zu sein?“

„Natürlich! Und warum nicht? Sie erkannten mich doch auch!“

„O, das ist etwas Anderes. Ich bin Künstler von Metier, unser Einem prägt sich Zeichnung und Farbe schnell ein.“

„Nun, vielleicht gilt dieser Satz auch für mich!“

„Ah –“ erwiederte Rank und sah ihr scharf in das Gesicht: „Sie wären – eine Kollegin?“

„Und wäre das etwa ein Verbrechen?“ entgegnete Lisbeth rasch, da sein Ton ihr auffiel.

„Nicht gerade ein Verbrechen – vielleicht aber doch eine Sünde. Sehen Sie mich nicht so dräuend an, bitte! Leider bleibt mir nicht Zeit, Ihnen über dieses Thema alle Variationen zum Besten zu geben, die es in reichlicher Menge darbietet. Nur Eines! Keine Sünde meint’ ich gegen den heiligen Geist der Kunst, nur gegen den Geist, der mir aus Ihren Augen entgegenschaut. Wer sich mit Leib und Seele den Künsten ergiebt, muß durch Feuer gehen – das läutert, zuvor aber brennt es, verbrennt sogar, und – das wäre schade!“

Lisbeth ward purpurroth vor Entrüstung.

„Das hätte ich Ihnen nicht zugetraut! Gönnen Sie es keiner Mädchenhand, Schönes zu bilden, so dürften Sie auch keinem Mädchenauge gönnen, Schönes zu sehen. In meinem Falle freilich können Sie ruhig sein – ich werde nichts malen, nichts schaffen, und wenn ich durch Feuer gehe, ist es ein Fegefeuer, ohne Himmel danach!“

Große Tropfen, die sie nicht zurückzuhalten vermochte, stürzten ihr über die heißen Wangen.

Mit ganz veränderter Miene beugte Rank sich zu ihr nieder und rief, indem er den Schritt anhielt, sehr betroffen:

„Ich habe Sie verletzt! Das wollt’ ich wahrlich nicht, verzeihen Sie meiner Kühnheit, meinem Uebermuthe. Wie durfte ich wagen, so frei zu sprechen, fremd wie ich Ihnen bin. Und doch – nicht fremd! Darin allein liegt meine Entschuldigung, daß Sie mir von der ersten Sekunde an so heimisch, so sympathisch waren – aber ich bin ein allzu offener Geselle, und auch was ich jetzt vorbringe, bedarf vielleicht der Absolution.“

Die ernsten, ehrlichen Augen, der herzliche Ton löschten Lisbeth’s raschen Verdruß mit einem Male aus. Sie schüttelte den Kopf und sagte dringend:

„Nein, nein – denken Sie nicht, daß ich kein offenes Wort vertragen könnte – ich bin nur so erregt, weil – weil –“ und nun kam all ihr Leid zu Tage. Wie einem Freunde, einem Bruder vertraute sie dem jungen Manne ihre zerstörte Hoffnung, ihr Verzichtenmüssen, mit tiefster Ueberzeugung verstanden zu sein, und fühlte sich, als sie Alles vom Herzen gesprochen hatte, mit einem Male so leicht, als gäbe es nun nichts mehr zu beklagen, als müsse Alles sich zum Guten wenden.

Er hörte ihr ernsthaft zu, die Gluth, womit ihr Sehnen und Entsagen zu Worte kam, ergriff ihn mit der Macht voller Wahrheit.

„Verlieren Sie den Muth nicht, was sein soll, das wird!“ sagte er kräftig. „Vielleicht hören wir noch einmal von einander. Wenn ich Großes und Schönes sehe, werde ich es Ihnen im Geiste zeigen – wollen Sie mir Gleiches versprechen? Es wäre schön, so an einander zu denken!“

Er streckte ihr seine Hand entgegen, sie legte die ihrige hinein, und Beide standen einen Moment schweigend einander gegenüber. Ehe die Folgenden herankamen, hatte das Paar jedoch seinen Weg langsam fortgesetzt, der bereits durch die Nymphenburger Straße nach dem Stiegelmayerplatze führte.

„Wir müssen die Pferdebahn benutzen, Lisbeth,“ rief Resi eilig. „Es hat schon Eins geschlagen.“

„Ich verabschiede mich,“ sagte Rank, zu Richard gewendet. „Haben Sie Dank, daß mir Anschluß verstattet ward. Wäre es vielleicht möglich, uns heute Abend noch einmal zu treffen?“

„Wenn Sie uns das Vergnügen machen wollen, würde ich Sie gern meiner Mutter vorstellen,“ entgegnete Richard nach kaum merklichem Zögern. „Wir erwarten einige Gäste.“

Rank überlegte einen Moment und warf einen kurzen Blick auf Lisbeth, deren erwartungsvolle Augen ihn trafen.

„Es thut mir leid,“ sagte er dann rasch, „Ihr freundlicher Vorschlag wäre große Versuchung, aber ich bin gebunden. Es handelt sich um eine Abschiedsfeier, welche hiesige Freunde mir bereiten; dafür dachte ich eben Sie anzuwerben.“

„Leider nicht möglich, da wir, wie gesagt, daheim Besuch erwarten. Also Ade, und glückliche Fahrt gen Rom!“

Der Pferdebahnwagen stand, es war höchste Zeit. Indem Rank Lisbeth die Hand zum Aufsteigen bot, drückte er leicht die ihrige und sagte warm:

„Wir begegnen uns doch noch einmal!“

Sie machte ein verneinendes Zeichen, welchem jedoch ihr Wort widersprach, denn als der Zug sich in Bewegung setzte, klang es in leisem Altton zu ihm nieder:

„Auf Wiedersehen!“

„Rathet einmal, mit wem wir heute nach Hause spaziert sind?“ sagte Richard bei Tische, entschlossen, Lisbeth nicht anzusehen, und doch einen durchdringenden Blick auf sie werfend, sobald das Wort von seinen Lippen war.

„Nun?“ riefen Martha und Resi gleichzeitig.

„Kein geringeres Menschenkind, als derselbe Joachim Rank, von dem wir neulich lasen, daß er in Berlin den großen Akademiepreis für Bildhauer davongetragen hat. Mit diesem Stipendium geht der Glückliche jetzt für ein paar Jahre nach Italien.“

Das Aufleuchten in Lisbeth’s Augen gab dem Berichterstatter einen Stich, der ihm momentan den Athem versetzte: er sah sie trotzig und zugleich spöttisch an und dachte: „Weit davon!“

Je mehr der Tag aber vorrückte, desto völliger schwand jede Regung von Neid vor dem Gedanken an das unerbittlich nahe Scheiden, und am folgenden, letzten Morgen that der junge Mann seiner Herzenstrauer keinen Einhalt mehr, so gut er auch wußte, daß er für die Scheidende nur eine kleine Ziffer in der großen Summe ihrer Verluste bedeutete.

Als der Schnellzug, welcher Lisbeth entführte, brausend von dannen fuhr, schloß sie die Augen, als ließe sich darin die Welt einschließen, welche ihr versank. Indem sie des Tages gedachte, an welchem sie gekommen war, schien es ihr plötzlich, als flösse zwischen heut und damals ein tiefer, unüberschreitbarer Strom und sie stehe gebannt am jenseitigen Ufer.



2.

Braunschweig stand in Flaggenschmuck. Doch flatterte heute nicht das lebhafte Blau-Gelb der Landesfarben auf den Giebeln der charaktervollen Häuser über die launenhaft gewundenen, malerischen Straßen der alten Residenzstadt. Zahllose Trauerfahnen regten ihr ernstes Schwarz im Winde des frischen Oktobertages. Ein Telegramm hatte die Botschaft vom Ableben Herzog Wilhelms gebracht, dessen sterbliche Hülle in der folgenden Nacht vom Lustschlosse Sibyllenort nach dem Residenzschlosse übergeführt werden sollte. In den Straßen wogte eine theils neugierige, theils beschäftigte Menge, doch drängten sich alle diese Leute in den Hauptstraßen, während es in den abgelegeneren Vierteln der Stadt heute noch stiller war als gewöhnlich. Dies galt namentlich für eine neuerer Zeit zugehörige Straße, welche, in der Nähe eines Thores beginnend, sich zwischen Kasernenmauern und einzelnen, [608] durch öde Flächen getrennten Gartenwirthschaften nüchtern hinspann, um dann, je mehr sie sich dem Stadtparke näherte, freundlicheren Charakter zu gewinnen. Hier standen helle, zum Theil schmucke Häuser mit kleinen Vorgärten zwischen vereinzelten Baumgruppen in ländlicher Ruhe, die durch keinerlei Geschäftsbetrieb gestört, auch durch städtisch elegantes Treiben selten belebt wurde. Als Durchgangsweg zu Schulen bevölkerte sich diese stille Gasse während der betreffenden Stunden mit lustigem jungen Gesindel. Heut aber waren alle öffentlichen Schulen geschlossen, und nachdem die mit Hunden bespannten Milchkarren vorüber waren, regte sich zur Morgenstunde nichts auf dem Pflaster als etliche Sperlinge, welche mit geringem Erfolg nach etwas Verspeisenswerthem spähten.

Es hatte eben Neun geschlagen, als ein etwa sechsjähriges Knäblein eilfertigen Schrittes um die Ecke bog und die menschenleere Straße entlang kam. Ein Schulranzen kleinsten Kalibers von grünem Saffian war ihm auf den Rücken geschnallt; dichte, lockige Haare umgaben ein Gesicht von köstlicher Frische, das in erwartungsvoller Freudigkeit leuchtete. Die behende kleine Gestalt strebte mit flinken Schritten, fast in Sprüngen, einem zweistöckigen Hause zu, das isolirt stand, etwas tiefer von der Straße abgerückt als seine Nachbarn, und sich in der Umgebung herbstlich gefärbter Bäume und mit der hübsch dekorirten Giebelfronte sehr gefällig ausnahm.

Hinter dem breiten Giebelfenster der zweiten Etage saß eine weibliche Gestalt eifrig beschäftigt; der dunkle Kopf beugte sich über eine Arbeit, der alle Aufmerksamkeit hingegeben schien. Dieser Fleiß war dem Bübchen, dessen lachende Blauaugen unverwandt zu dem Fenster aufschauten, vor dem er Halt gemacht hatte, offenbar sehr störend. Nachdem er es, auf den Zehen erhoben, mühsam fertig gebracht, die Klinke der Zaunthür zum Vorgärtchen niederzudrücken, stand er mit verblüfftem Gesicht innerhalb, unschlüssig, ob er wieder umkehren müsse oder nicht. Schon hatte er mit vorgeschobenem Mäulchen Kehrt gemacht, da kam ihm ein leuchtender Gedanke: er stellte sich breitspurig hin und fing mit seinem glashellen Kinderstimmchen zu singen an: „Wenn ich ein Vöglein wär’ –“

Im nächsten Moment klang das Fenster, eine schlanke Mädchengestalt erschien im Rahmen und rief mit heiterem Zunicken hinab:

„Bist da? ich glaubte, heute gäb’s keine Schule?“

„Beim Fräulein giebt’s immer Schule!“

„Wart’ ein Bischen!“

Sie verschwand, um schnell wieder zu erscheinen, die schmale Hand ließ einen langen Bindfaden zur Straße niedergleiten, bei dessen Anblick der kleine Mann einen Luftsprung that. Nun schwankte die zwischen den Maschen eines am Schnurende befestigten Netzes glänzende Apfelsine dicht vor seinem rothen Mündchen, gleich darauf befand sie sich in der schnell zufassenden Kinderhand. Ein glückseliges „Danke!“ flog auf, der Kleine lüpfte sein Filzhütchen und setzte trällernd und hüpfend seinen Weg fort.

Lisbeth sah ihm nach, bis er unfern in einer Thür verschwand. Ein fast kindlicher Ausdruck harmloser Freudigkeit beseelte ihre Züge, die eben so jung erschienen als zur Zeit der Münchner Tage. Als sie aber das Fenster geschlossen hatte und den Stift, mit dem sie zuvor beschäftigt gewesen, wieder zur Hand nahm, saß doch eine Andere hinter den Scheiben als die Lisbeth jener Zeiten. Das interessante Gesicht war während der dazwischen liegenden vier Jahre etwas länglicher geworden, der schalkhafte Zug um die Lippen einem nachdenklichen gewichen. Doch entbehrte die zarte Kontour ihrer Wangen nicht der Fülle und die braunen Augen blickten klar und tief unter der schöngewölbten Stirn hervor. Jetzt waren sie zu einer aufgeschlagenen Mappe gesenkt und prüften den Entwurf einer in kleinem Format leicht und keck hingezeichneten Waldidylle: ein Reh, das in einem von Bäumen besetzten Teich seinen Durst stillt. Sie schien die lebensvolle Skizze nicht unzufrieden zu betrachten, dennoch seufzte sie, indem sie die letzten Striche that, worauf sie begann, das Bildchen in Farbe auszuführen.

Diese Arbeit war noch nicht beendet, als im anstoßenden Zimmer laute Schritte und starkes Räuspern hörbar wurden und eine Männerstimme polternd rief:

„Die Lisbeth nicht da? Wo steckt das Mädel?“

Sie stand hastig auf und ging in das Nebenzimmer, um dem Vater guten Morgen zu sagen und sein Frühstück herbeizuholen. Major Rüttiger pflegte, „seit er dem lieben Herrgott die Tage abstehlen mußte“, in diese Tage hineinzuschlafen und kam erst lange nach der Frühstücksstunde seiner Familie in das Wohnzimmer, wo er unter allen Umständen Frau und Tochter seiner harrend erwartete und nur aus Lisbeth’s Hand den Kaffee haben wollte. Während diese das Spiritusflämmchen anfachte, nahm der Major die bereitliegende Morgenzeitung zur Hand und machte seiner Frau ein Zeichen, welchem diese schon zuvorgekommen war, indem sie das in der Ecke stehende Rauchtischchen herbeitrug. Frau von Rüttiger’s Haar zeigte manchen Silberstreifen; sie war hagerer geworden, und eine Sorgenfalte hatte sich in das gute Muttergesicht eingegraben, noch immer verriethen aber ihre Bewegungen die Anmuth, welche sich aus dem Seelischen in das Körperliche übersetzt.

Der Hausvater erhob einen Moment die Augen von seinem Blatt, um der eben aus dem Zimmer verschwindenden Tochter nachzuschauen, und knurrte:

„Sag’ doch der Lisbeth, daß sie keine Albernheiten machen soll wie vorhin wieder. Hat sie Leckerbissen, dann mag sie es selbst aufessen oder ihren Brüdern schenken. Dummes Zeug! so recht ’was für Die da drunten –“ er klopfte mit dem Fuße gegen den Boden – „sie raisonniren ohnedies genug!“

Ein leiser Zug von Humor verjüngte das Gesicht der Majorin.

„Warum sagst Du es Lisbeth nicht selbst, wenn Dir etwas nicht recht ist? Uebrigens weiß ich nicht, wovon Du sprichst.“

Der alte Herr brummte unverständlich in seinen Bart hinein, als er aber den schalkhaften Ausdruck seiner Frau gewahrte, polterte er Lisbeth, die mit frischen Weißbrötchen zurückkam, im tiefsten Baß entgegen:

„Wer ist der Junge, den Du aus Deinem Fenster fütterst? Laß das bleiben! Oder macht es Dir Spaß, der ganzen Nachbarschaft ’was zum Klatschen zu geben? Das freche Bürschchen scheint sich hergewöhnt zu haben wie ein Spatz an Brotkrumen.“

Lisbeth lachte und sah dem Scheltenden dicht in die stark überbuschten Augen, während sie ihm die vollgeschenkte Tasse näher rückte.

„Der ist mein Schatz, Papa,“ sagte sie heiter, „und Du weißt sicherlich aus eigener ehemaliger Erfahrung, daß Verbote bei Herzensangelegenheiten nichts ausrichten. Das Verhältniß ist sehr intim, aber nicht gefährlich! Wie mein kleiner Schatz heißt, kann ich Dir nicht verrathen, ich habe mich nur in seine Schönheit verliebt, und da er bei seinen täglichen Fensterparaden durchaus nichts von meiner heimlichen Anbetung merken wollte, verfiel ich darauf, mir sein Herz auf dem Umwege seiner weißen Mausezähnchen zu erobern. Will die Nachbarschaft über dies Verhältniß klatschen, so mag sie’s thun, ist mir ganz einerlei. Uebrigens geht die Sache nicht ohne Heimlichthun vor sich, trotz ihrer Öffentlichkeit und Mündlichkeit, denn mein Liebster weiß genau, daß wir nur dann in Rapport treten, wenn kein anderes Kamerädchen um den Weg ist.“

Des Papa’s verdrießliches Gesicht entwölkte sich während der spielenden Worte; er zwinkerte mit den Augen und sah wohlgefällig zu dem Mädchen auf; die Gewohnheit, über alles Vorkommende zu knurren, ließ sich trotzdem nicht so schnell aus dem Felde schlagen und kam mit der Bemerkung zu Worte:

„Wüßte nicht, daß Dein Taschengeld für solche Spendagen bestimmt wäre.“

Ein Schatten ging über Lisbeth’s eben noch so heitere Stirn. Sie richtete den Kopf auf, sagte rasch: „Für mein Taschengeld sorge ich selbst, Papa,“ und setzte sich, eine Arbeit zur Hand nehmend, an den Nähtisch. Ein ängstlicher Blick der Majorin streifte ihren Mann, doch brach das gefürchtete Ungewitter nicht los. Er zuckte nur die Achseln, vertiefte sich, stark sich räuspernd, in sein Zeitungsblatt und begann abwechselnd Kaffee zu schlürfen und große Wolken aus der kurzen Morgenpfeife zu dampfen, bis er nach einer Weile die im Zimmer herrschende Stille mit der Bemerkung unterbrach:

„Heute Nacht wird des Herzogs Leiche vom Bahnhof nach dem Schlosse übergeführt. Ein Galazug in der Finsterniß, der wohl des Anschauens werth sein mag, so weit sich etwas sehen läßt. Wer geht mit?“

[610] „Nicht ich,“ sagte Frau von Rüttiger, „der bloße Gedanke daran ist mir unheimlich.“

„Dir auch, Lisbeth?“ fragte der Major etwas barsch, nachdem er eine Minute auf eine Aeußerung seiner Tochter gewartet hatte.

„Durchaus nicht, Papa – es würde mich das sehr interessiren, und ich dank’ Dir, wenn Du mich mitnehmen willst.“

„Gut!“ Er stand auf, rückte den Sessel geräuschvoll ab und schickte sich an, in sein Zimmer hinüberzugehen. Als er bereits unter der Thür war, drehte er sich noch einmal um, wirbelte den grauen Schnurrbart in die Höhe, dessen struppige Linie das starkgefärbte Gesicht gleichsam in zwei Theile schied, und sagte, während er mit dem Zeitungsblatt auf Lisbeth’s Schulter schlug, sehr nachdrücklich: „Trotzkopf!“

„Das ist gnädig abgelaufen,“ seufzte die Mutter, als er draußen war. „Lisbeth, wie konntest Du nur –“

„Entschuldige, Mama! Aber ich durfte den Vorwurf, als ob ich aus Papa’s Kasse meine Privatvergnügungen bestritte, nicht auf mir sitzen lassen. Papa weiß recht gut, daß und wie ich erwerbe, was ich für mich selbst bedarf.“

Sie hatte rasch und nicht ohne Empfindlichkeit gesprochen und wurde ein wenig roth, als die Mutter nun dicht vor ihr stand und sie ernsthaft ansah:

„Du solltest aber auch nicht vergessen, liebes Kind, wie ungern Papa Deine Beschäftigung zuläßt, und solltest ihn darin schonen. Wir Alle wissen ja, wie viel Du im Grunde über ihn vermagst, wenn Dir auch dann und wann eine seiner Bemerkungen nicht lieb ist – warum antworten? Er würde heute überhaupt schwerlich etwas gesagt haben ohne den Gedanken an die Spötteleien der Tante.“

„Das ist’s, Mama!“ rief Lisbeth sehr lebhaft. „Dieser allgegenwärtige Gedanke ist es, den ich nicht vertragen kann. Laß mich’s einmal frei heraussagen, daß ich nicht verstehe, warum Ihr Euch solche Bevormundung gefallen laßt, warum wir nicht aus diesem Hause ziehen, um in den bescheidensten vier Wänden unsere eigenen Herren zu bleiben. Was läge daran, arm zu sein, wenn man es auf eigene Weise sein dürfte! Wir schulden Niemand etwas, so viel ich weiß, auch diese Wohnung schulden wir nicht, der Onkel hat sie uns angeboten –“

„Zu sehr mäßigem Miethpreise, Lisbeth, und Du weißt, wie viel Papa auf standesmäßige Räume hält. Mein Bruder hat viele Gefälligkeiten für uns, auch die Tante –“

„Ist immer bereit zum Protegiren, ja!“ unterbrach Lisbeth. „Aber sie macht sich dafür bezahlt. Wir sollen an ihrem Theetische sitzen, wenn sie Gäste hat, sie nimmt es übel, wenn wir ausbleiben, eben so übel nimmt sie es aber, wenn wir selbst einmal bescheidene Gastfreundschaft üben wollen! Kannst Du es leugnen, Mama, daß ihr dann auf dem Gesicht geschrieben steht, wie sie Alles, was wir aus frohem, ehrlichem Gemüthe bieten, auf den Kostenpunkt taxirt und uns zu verstehen giebt, das doch lieber bleiben zu lassen, denn wir hätten es nicht dazu? Hast Du Dich nicht beinahe entschuldigt, daß Du Dich für meine Brüder hast photographiren lassen, was sie so überflüssig fand? Dies Alles drückt mir das Herz ab! Jeder Blumenstrauß, den ich nach Hause trage, läuft auf der Treppe Gefahr, durch solchen Taxator- und Vormundschaftsblick seinen Duft und Reiz einzubüßen!“

„Du übertreibst!“

„Ich übertreibe nicht und es erscheint mir empörend, daß mit dem Armen so gerechnet wird, daß ihm das einfach Menschliche, das Liebliche und Schöne nicht gegönnt sein soll, daß er nicht auch einmal verschwenden darf, wo sein Herz ihn treibt, während er freudig oder stolz auf tausend Anderes verzichtet. Und es quält mich, daß ich redliche Arbeit vor meinem Vater verleugnen soll, als sei es etwas Niedriges!“

Sie war aufgesprungen und stand rasch athmend der Mutter gegenüber, die sie traurig ansah.

„Du kannst nicht vergessen, Lisbeth, und ich kann Dir nicht helfen. In Allem, was Du klagst, liegt Wahres, und doch beschuldigst Du zu hart: Was Dir unerträgliche Bevormundung erscheint, ist auch eine Form von Theilnahme, freilich nicht immer die angenehmste, man muß aber bedenken, daß Jeder die Dinge nach seiner eigenen Anschauung auffaßt. Du selbst bist hier nicht an Deinem Platze, Kind! Ich glaubte Dir Gutes zu thun, als ich vor Jahren für Dich fast erzwang, was sich nicht zu Ende führen ließ, Dir nur den weiten Blick aufthat, der Dir jetzt Alles zu eng erscheinen läßt. Hättest Du doch Richard Ahrens’ Werbung nicht ausgeschlagen! Der junge Professor machte mir den angenehmsten Eindruck, als er uns diesen Sommer hier aufsuchte. Eine Neigung, die sich durch vier Jahre der Entfernung treu blieb, die ihn antrieb, Dir Herz und Hand zu bieten, sobald er dazu im Stande war, ist gewiß echt, und er hätte Dich in die Luft zurückgeführt, nach der Du Dich unablässig sehnst.“

„Was könnte ich Dir Anderes sagen als die Antwort, die ich ihm selbst gab, Mama? Er ist ein herziger Mensch, dem ich sehr gut bin, lieben kann ich ihn aber nicht. Ich weiß, wie treu, brav und begabt er ist; daß er sich so jung schon ehrenvolle, auskömmliche Stellung gewann, bezeugt das ja auch, aber, nimm es mir nicht übel, trotzdem er Professor genannt wird, konnte ich nichts Anderes in ihm sehen als den Studenten, den ich damals kennen lernte. Er imponirt mir nicht, wie könnte ich da geloben, er solle mein Herr sein?“ Sie unterbrach sich plötzlich und umschlang der Mutter schmächtige Gestalt mit beiden Armen. „Habe nur weiter Geduld mit mir, Liebste, Beste! Ich will ja gar nicht fort von Dir! Wenn ich auch mitunter etwas ungebärdig mit den Flügeln schlage, bei Dir fühl’ ich mich immer daheim, und, wart’ es nur ab, die Zeit kommt auch, wo ich Dir noch Freude mache, mein Mutterchen!“

„Soll die Zeit erst kommen? Kind, Du bist unser Aller Sonnenschein!“

Die Thür flog auf und zwei etwa zwölfjährige Knaben stürmten herein. Auf den ersten Blick ließ es sich erkennen, daß sie Zwillinge waren, sie glichen einander eben so sehr, wie ihr untersetzter Bau, die derb geschnittenen Züge, die vollblütige Gesichtsfarbe sie zu Abdrücken ihres Vaters stempelten. Es waren das die Nesthäkchen der Familie; schon für nächstes Jahr zum Eintritt in das Kadettenkorps angemeldet, wo zwei ältere Brüder bereits weilten, fühlten sie sich vorerst noch im Vollgenuß ziemlich unbändigen Freiheitsbewußtseins. Beide zugleich fuhren wie Blitze auf die Schwester zu und bemächtigten sich ihrer Arme.

Du mußt das machen, Lisbeth!“ rief Hans, und Kurt fiel mit lauterer Stimme ein: „Du kriegst es fertig; wenn’s bloß die Mama sagt, thut er’s nicht!“

„Ja, was denn?“ fragte Lisbeth lachend, mit vergeblichem Versuch, ihre Hände von den kleinen Klammern zu befreien.

„Schreie doch nicht so, Kurt,“ warnte Hans indessen. „Sonst kommt der Papa herein und schilt, und dann ist’s Essig! Weißt, Lisbeth,“ fuhr er mit nachdrucksvollem Flüstern fort, „wir möchten heut’ Nacht auf die Straße, den Herzogszug zu sehen; der Papa geht gewiß, mach’ Du, daß er uns mitnimmt!“

„Ja, ja, Du kriegst es fertig!“ wiederholte Kurt mit Zuversicht – „willst Du auch?“

„Wollen sehen, was sich thun läßt! Aber Barmherzigkeit, Ihr Kobolde, laßt mich los!“

Dieser Nothruf hatte guten Grund, denn jetzt hingen die Beiden an der Schwester Hals und küßten sie so stürmisch, daß ihr kaum möglich ward, das Gleichgewicht zu bewahren.

[623] Tiefes Dunkel lag über der tausendjährigen Stadt und ließ kaum die Umrisse ihrer seltsamen Häuser unterscheiden, deren viele noch heute die Signatur ihrer Zeiten tragen, jener Zeiten, wo Auftraggeber wie Baumeister dem erwählten Schnitzwerk in Holz oder Stein gleichsam ihre innersten Gedanken aufprägten – Häuser, von denen manche sich ganz träumerisch vornüber neigen und auf den durch den Mittelbau laufenden Balken die wundersamsten Erfindungen zeigen, deren mittelalterliche Holzarchitektur hier den Charakter der Gothik streng festhält, während dort reich ornamentirter Steinbau späterer Zeit an den Portalen und unteren Stockwerken durch Motive der Renaissance die Aufmerksamkeit fesselt.

Von Alledem ließ sich in dieser Stunde zwischen elf Uhr[WS 1] und Mitternacht nichts erkennen. Zwar brannten alle Gaslaternen der Stadt; doch waren sie mit schwarzem Flor umgeben, der den verhüllten Flammen etwas Melancholisches verlieh, als wären sie heute nur da, um das Dunkel zu zeigen, das zu erhellen sonst ihre Bestimmung war.

Auch durch die Fenster der Häuserreihen drang nur gedämpftes Licht; sie waren dicht mit Menschen besetzt, deren Gestalten sich wie Schatten zeichneten, während die zahllose Menge, welche auf den Straßen Spalier bildete, als dunkle ununterscheidbare Masse erschien, wogend wie die Wellen eines eingedämmten Sees. Berittene Schutzleute hielten die Mitte der Straßen frei. Das Schweigen gespannter Erwartung lag gleich einem Bann über all den Tausenden; man vernahm nur kurzes, rasch abgebrochenes Flüstern, das mit den langsamen Hufschlägen dann und wann zusammenklang. Da schlug es Mitternacht von den Thürmen, und plötzlich ertönte ein militärisches Signal scharf und deutlich durch die Stille – nur wenige Takte, aber so schmetternd, daß ein Murmeln des Schauers über die Menge lief. Im nächsten Moment tönte eine Kanonensalve, und gleichzeitig begann es hoch in Lüften zu tönen – alle Glocken der Stadt regten ihre ehernen Stimmen.

Der Todeszug hatte sich in Bewegung gesetzt und nahm vom Bahnhofe aus seinen langsam vorschreitenden Weg nach dem Schlosse, umgeben von Nacht und Schweigen. Wie Gespenster, schattenhaft, ohne erkennbaren Umriß, zog das zahlreiche Geleite voran, bis schwacher Silber- und Fackelschimmer ein erschütterndes Bild in das Dunkel zeichnete. Auf hohem, silbernem, mit sechs Schimmeln bespanntem Wagen ruhte der Sarg, welcher Herzog Wilhelm’s sterbliche Hülle umschloß; zur Rechten und Linken ritt eine Reihe von Fackelträgern, deren flackernde Leuchten die breiten Silberflächen erschimmern ließen und die Kontouren der tief niederhängenden Trauerdecken der Pferde scharf hervorhoben. Und während diese düster feierliche Gruppe sich zwischen all den lautlosen entblößten Häuptern vorwärts bewegte, hallten unablässig die mächtigen Glocken, als sei die Luft in Schall verwandelt, als müßten diese erschütternden Laute nun in alle Ewigkeit so weitertönen.

Die Menge stand in feierlichem Schweigen – die Empfindung bemächtigte sich aller Gemüther, daß das Herrschergeschlecht, unter dessen Fürsten Glück und Wohlfahrt des Volkes sich steigend entwickelt hatten, erloschen war mit dem stillen Manne, den das von drei ruhmreichen Generationen seiner Väter bewohnte Schloß jetzt zum letzten Male beherbergen sollte. Noch lag die Zukunft des Landes verschleiert im Schoße dieser düstern Nacht.

Nur ein Bauwerk der Stadt stand glänzend erleuchtet: der Dom Heinrich’s des Löwen. Der goldene Lichtschein, welcher durch die hohen Fenster brach, warf schwache Reflexe auf die Krone der von diesem Fürsten gepflanzten Linde, auf den Löwen von Erz, welcher seit nahezu achthundert Jahren seinen Standpunkt auf hohem Sockel behauptet, und streifte die Mauerreste des herzoglichen Stammschlosses Dankwarderode.

Hier, auf dem Burgplatze, erwartete Major von Rüttiger mit seinen Kindern das Herannahen des Zuges unter dem Thorwege eines hochgiebeligen Hauses, dessen vorspringendes erstes Stockwerk und säulengeschmücktes Erdgeschoß hohes Alter verrieth. Es war dem raschen Soldatenblick geglückt, noch rechtzeitig eine der Stufen zu erobern, die zum Eingang hinaufführten. So stand er mit den Seinen rückenfrei und günstig.

[624] Lisbeth’s Künstlernatur wurde vom Eindruck des seltsamen Schauspiels stark erfaßt. Schon das schweigende Harren, Angesichts des leuchtenden Doms, des stummen Zeugen einer Vergangenheit, die nun ihren Abschluß gefunden hatte, ließ ihr Herz stärker klopfen; als dann die aufgewühlten Gedanken gleichsam leibhaftig in Bildern und Gestalten an ihr vorüberzogen, zitterte sie vom Scheitel bis zu den Füßen. Ihre Phantasie schwang sich dem verschwindenden Zuge nach und ließ sie einen Moment alles Gegenwärtige vergessen. So berührte des Vaters Wort: „Vorwärts jetzt, mit dem Strom, folgt mir auf dem Fuße,“ ihr Ohr nur wie von fern, bis sie auf einmal den Grund unter ihren Füßen verlor, indem aus dem Hause selbst, vor dem sie stand, wie auch dicht um sie her eine ganze Schar von Menschen vorwärts drängte. Nun fand sie sich von den Ihrigen getrennt, machtlos, nach eigener Wahl zu gehen oder zu stehen, fast des Athems beraubt in dem Knüttel von Gestalten, der sie von der eingenommenen Stufe hinabschob, und fühlte sich, trotz ihrer Beherztheit, einen Moment hilflos beängstigt. Da erfaßten sie von rückwärts starke Arme, hoben sie in die Höhe wie ein Kind und ließen sie erst wieder los, als sie sicher auf derselben Stufe stand, die sie eben unfreiwillig verlassen hatte. Noch nach Athem ringend, erblickte sie den Helfer in der Noth dicht neben sich und begegnete einem Gesicht, das die am Hause brennende Gaslaterne trotz des verhüllenden Flores deutlich genug erkennen ließ. Die blauen Augen, welche, der Zeit zum Trotze, noch immer durch ihre Träume blitzten, waren mit dem übermüthig strahlenden Blick auf sie gerichtet, der sich nie hatte vergessen lassen. Doch sprachen des jungen Mannes lächelnde Lippen kein Wort, behielten dazu auch kaum Zeit, denn der Major hatte nach wenigen Schritten seine Tochter vermißt, kam, eine Donnerwolke auf dem Gesicht, mit Anstrengung zurück und nahm die Säumige wie im Sturm mit sich hinweg.

Ein rasch geathmetes: „Danke!“ ein fragender Blick traf den jungen Mann, während sich des Vaters Arm in den der Tochter schob. Joachim Rank, denn er war es wirklich, lüftete den Hut, ohne den geringsten, in der That auch aussichtslosen Versuch zu machen, seinerseits ein Wort zu äußern, und Lisbeth gelangte, ohne von ihres Vaters Scheltworte viel zu hören, wie im Taumel nach Hause. Gegen ihre Gewohnheit gab sie der noch harrenden Mutter heute keinen Bericht des Geschauten, sondern drängte in ihr Zimmer, wo sie sich, ohne Licht anzuzünden, auf den Rand ihres Bettes setzte und in einen Strom von Thränen ausbrach.

Was war das? Welcher Stern oder Unstern führte ihr diesen Einen immer wieder zu, um ihn dann meteorgleich wieder entschwinden zu lassen? Warum dieser Tumult in ihr, dessen sie sich schämte und gegen den sie sich doch so widerstandslos fühlte? Sie wußte nicht einmal, ob der Künstler sie heute erkannt hatte – ganz sicher nicht, nach Jahren, deren tausend Erlebnisse die flüchtige Episode eines kurzen Begegnens längst verdrängt haben mußte. Und doch konnte sie sich eines unbegreiflichen Glücksgefühls nicht erwehren, ihn hier zu wissen, sich nicht des Glaubens erwehren, daß sie ihn wiedersehen würde. Das Schicksal konnte doch nicht zwei Menschen, wie ein paar Sandkörner, so oft zusammen und wieder aus einander wirbeln, ganz ohne Plan und Sinn! Fast unmöglich erschien ihr, daß der eben erlebte Augenblick keine Folge haben sollte, und doch war sie sich bewußt, wie geringe Wahrscheinlichkeit dazu bestand. Ohne Zweifel war Rank auf dem Wege nach Berlin, hatte in Braunschweig nur verweilt, um das Ereigniß der Nacht zu schauen, und würde die Stadt wieder verlassen. Sie war vor Kurzem dem Namen, nach welchem sie in jedem Bericht über Künstlerisches spähte, in einem Berliner Blatte begegnet, das eines ehrenvollen Auftrags erwähnte, der Joachim Rank von Staatswegen zugetheilt worden sei. Sie wußte längst aus ähnlichen Quellen, daß der junge Künstler bereits in Rom durch sehr gerühmte Schöpfungen Ruf und Ruhm gewonnen hatte; ein illustrirtes Blatt, das sein Portrait und die Reproduktion einer kleinen Marmorgruppe seines Meißels brachte, war in ihrem Besitz. Lange saß sie regungslos in Sinnen und tiefe Träumerei verloren; dann erhob sie sich, fachte Licht an und nahm dies Blatt aus ihrem Schränkchen. Das Bildniß Rank’s lag vor ihr; eine leise Kopfbewegung übte strenge Kritik – das waren ja doch seine Augen nicht! Als sie aber die Seite umschlug, begann ihr Herz von Neuem rasch zu schlagen! die antik schönen Gestalten, die edlen Köpfe dieser Dioskuren erschienen ihr vollkommen, und ein Stolz, wie nur das Weib ihn kennt: der hohe freudige Stolz auf die Größe des geliebten Mannes, schwellte ihre Brust.

Als Lisbeth ihr Lämpchen löschte und ihr Lager einnahm, schlug es zwei Uhr. „Ein neuer Tag –“ dachte sie, und mit einem Gefühl tiefer Ruhe, das sich weich und warm über sie breitete, schlief sie ein.

Vielleicht war es doch nur die kaum eingestandene Zuversicht, während des weiteren Verlaufes der Trauerfeierlichkeiten nochmals mit Rank zusammenzutreffen, was Lisbeth mit solcher Frische in die nächsten Tage hinein leben ließ. Das Strahlende ihres ganzen Seins fiel der Mutter auf; wenn Lisbeth aber wiederholt die Regung empfand, auf das leise Tasten vertraulich zu antworten, fühlte sie es doch als unmöglich, etwas von dem, was in ihr vorging, zu äußern. Es gab ja im Grunde nichts zu vertrauen! Im Gegentheil flüsterte tief innen die Ueberzeugung, daß vor einem lauten Worte Alles entfliehen müßte, was jetzt so lieb heimlich und hoffend in ihr blühte. Bei Alledem mochte sie aus eigener Initiative keinen Schritt auf die Straße thun, folgte hierbei nur bestimmten Aufforderungen des Vaters.

Weder im Schlosse, wo der Herzog aufgebahrt lag, noch während des großartigen Begräbnisses begegnete ihr die Gestalt, welche nun wirklich wie ein Traumbild vorübergeglitten war. Da ergriff plötzliche Muthlosigkeit ihr Gemüth so heftig, daß sie davor erschrak und mit Aufgebot aller trotzigen Herzenskraft, die durch kein Entsagen, kein tödliches Einerlei ihrer Tage gebrochen war, sich dagegen zur Wehr setzte. Sollte sie sich gestehen, daß sie wirklich vier Jahre lang so thöricht gewesen sei, auf das Wahrwerden eines Traumes zu warten, eines Traumes, den sie ganz allein geträumt?

Das Leben kam ihr auf einmal völlig sonnenlos vor, die selbstergriffene Aufgabe, kleine Bildchen zu erfinden, die als bunt lithographirte Karten in die Welt hinausgingen, erschien ihr so ärmlich, das Leben so lang, der Himmel so fern! Des Dichters Wort, daß jedes Herz etwas hoffen, wünschen, sorgen müsse, kam ihr trostlos zum Bewußtsein. Oft richtete sie im Stillen den Blick auf ihre Mutter. Wie hatte die es wohl angefangen, sich unter allem Druck und so wenigen Freuden, unter Tagesmühen und vielerlei Verdruß den Gleichmuth, ja, mehr noch, den anmuthigen, leicht geweckten Humor zu bewahren? Sie war doch auch einmal jung gewesen!

Solche Betrachtungen gingen eben wieder durch Lisbeth’s Kopf als sie, acht Tage nach der Nacht, die sie so stark berührt hatte, mit Stift und Farben hantirend, an ihrem Giebelfenster saß und, ärgerlich auf sich selbst, daß es ihr nicht glücken wollte, froh zu werden, ein Inventar all ihrer stillen Freuden aufstellte, um damit dem Gefühl heimlichen Darbens siegreich entgegen zu treten. Lieblich glitt der Gedanke an den „kleinen Schatz“ ihrem Geiste vorüber. Sie lächelte, sah nach der Uhr und unterbrach ihr Werk einen Moment, um eine Chokoladecigarre an buntem Faden zu befestigen, den sie nicht vom Knäuel schnitt. Der blonde Liebste mußte bald seines Weges kommen, denn schon strebten seine Kamerädchen der Fräuleinsschule zu, während er sich wohlweislich erst mit dem Stundenschlage einzustellen pflegte. Heute ließ sich aber nichts sehen, obgleich die Glocke bereits ihr Neun verkündigt hatte. Lisbeth legte die bereit gehaltene Spende bei Seite und begann wieder fleißig zu arbeiten, bis ein zufälliger Blick auf die Straße sie heftig zusammenfahren ließ. Dicht vor dem Stacket, doch ohne durch dasselbe einzutreten, stand ihr kleiner Schatz, und neben ihm, des Bübchens Hand in der seinigen haltend, die schlanke Gestalt Rank’s. Beider Köpfe waren aufwärts gerichtet, und trotz des Schrecks, der Lisbeth durchzitterte, fiel ihr in diesem Moment eine schlagende Aehnlichkeit beider Gesichter auf. Unfähig sich zu regen, blickte sie unverwandt hinab, ohne die sehr ausdrucksvollen Zeichen des Kindes zu erwiedern. Erst als Rank grüßte und sie das Erglühen ihrer Wangen empfand, erhob sie sich wie von einer Feder geschnellt, doch nicht, um das Fenster zu öffnen, sondern um von demselben zu verschwinden.

Beide Hände gegen das klopfende Herz gedrückt, stand sie, ohne zu begreifen, weßhalb sie floh, was sie so sehnlich herbeigewünscht hatte, und wagte, von tiefster Scheu erfaßt, doch nicht, [626] sich dem Fenster wieder zu nähern, das ihr nun auch sicherlich die leere Straße gezeigt hätte. Da vernahm sie ein Geräusch im Vorzimmer und gleich darauf öffnete ihre Mutter die Verbindungsthür und sagte:

„Du bekommst Besuch, Lisbeth!“

Der kleine Schüler, welcher auf der Schwelle erschien, zeigte sich in diesem Moment bei weitem nicht so keck wie von fern. In reizender Unbeholfenheit stand er da, das grüne Ränzel auf dem Rücken, ein blödes Lächeln auf dem hübschen Gesicht, und streckte das rechte Händchen, womit er eine Karte krampfhaft festhielt, pfeilgerade vor sich hin.

Ein Strom von Freude nahm bei seinem Anblick alle Spannung, alles Beengende von Lisbeth’s Seele. Des Menschen Herz ist ja ein Orakel, das mehr weiß als alle Profanen – es verkündete dem Mädchen in diesem Moment, daß sein Glück hier eingetreten sei.

,Nun?“ rief sie mit strahlenden Augen, „komm doch!“ und breitete, niederkniend, beide Arme aus. Noch ein wenig unschlüssig schob der kleine Gast sein Mäulchen vor, dann rannte er plötzlich auf Lisbeth zu und ließ sich, hell aufjauchzend, von ihr fassen – freilich nicht halten, denn schnell genug machte er sich los und rief: „Du! ich muß ja ausrichten!“ wobei er sich bückte, um das ihm entfallene Kärtchen vom Boden aufzunehmen, sich dann ein Weilchen besann und mit der Wichtigkeit, womit kleine Leute alles Eingelernte betonen, hersagte:

„Um Antwort wird gebeten.“

Die Visitenkarte in Lisbeth’s Hand trug Joachim Rank’s Namen, darunter stand mit Bleistift geschrieben:

„Der Malonkel frägt an, ob die Fenstertante zu schicklicher Stunde seinen Besuch gestattet.“

Ihr Auge hing an den Scherzworten, als läge darin eine tiefe Räthselfrage verborgen, über die man erst lang nachsinnen müßte. Jedenfalls dauerte ihr Schweigen dem kleinen Boten zu lang.

„Sag’ doch was,“ rief er, an Lisbeth’s Kleide zupfend. „Um Antwort wird gebeten, und ich muß jetzt endlich in die Schule!“

Lisbeth neigte sich und küßte das Kind.

„Sage: Willkommen,“ flüsterte sie, wandte sich schnell ab und haschte, den Scheiben so fern wie möglich bleibend, nach dem kleinen Geschenk, das auf ihrem Arbeitstische lag. Der Schatz streckte aber keine Hand nach der lockenden Chokolade aus, sondern rief: „Am Faden! am Faden!“ und rannte davon.

Lisbeth zögerte ein kurzes Weilchen; dann trat sie entschlossen vor, öffnete den Fensterflügel und ließ den rothen Faden nieder, der von den bereits harrenden Händchen schnell erfaßt wurde. Hell blickte Rank zur Spenderin auf und erhob leicht, kaum merklich, seine Rechte. Da blitzte ein Strahl alten Uebermuthes in des Mädchens Gesicht, und – ob gewollt, ob entschlüpft, wer könnte das errathen, des Fadens Knäuel flog hinab. Indem er geschickt aufgefangen wurde, trafen zwei leuchtende Augenpaare einander über lächelnden Lippen. Dann war das Bild im Rahmen entwichen.

„Nun sag’ mir doch, was dies zu bedeuten hat?“ fragte die Mutter, Rank’s Karte in der Hand, als Lisbeth’s heißes Gesicht sich zu ihr wendete.

„Gutes, Liebes!“ athmete diese und fiel der Mutter um den Hals.

Lisbeth nahm sich vor, sehr ruhig zu sein, wechselte aber die Farbe bei jedem Klingelzug, der sich im Verlauf des Tages vernehmen ließ. Nachmittags, als es bereits dämmerte und der Major eben in das Kasino gegangen war, die Abendzeitungen zu lesen, wurde Rank gemeldet und erschien zur Ueberraschung Lisbeth’s und ihrer Mutter in Begleitung einer sehr hübschen jungen Frau.

„Erlauben Sie, Ihnen meine Schwester, Regierungsräthin Besser vorzustellen, gnädige Frau,“ sagte der Künstler zur Majorin, indem er sich in seiner leichten Weise verbeugte, „allerdings muß ich gestehen, daß sie mit gleichem Rechte mich vorstellen könnte, da wir Beide keine andere Entschuldigung dafür haben bei Ihnen einzudringen, als den Wunsch dazu.“

„Nicht doch,“ bestritt die Räthin, „meine Entschuldigung steht hier!“ Sie wandte sich graziös zu Lisbeth: „denn nicht wahr, Fenstertante und Mama mußten sich doch endlich kennen lernen! Unter diesem Namen freier Erfindung meines Fritz weiß ich längst, welches gütige Händchen ihm zahllose Freuden bereitet, und habe der Versuchung, ihn einmal zu begleiten, nur deßhalb widerstanden, weil ich mich scheute, das fröhliche Verhältniß zu stören. Nachdem sich aber nun der Gast unseres Hauses, mein lieber Bruder, auch Malonkel genannt, nicht eben so diskret erwiesen hat, was er mir beichtete, sah ich doch nicht ein, weßhalb ich mir die langgewünschte Freude versagen sollte, Ihnen zu danken!“

Die kleine Rede ward mit so anmuthiger Herzlichkeit hingesprochen, daß ihr beste Wirkung nicht fehlte. Lisbeth antwortete warm und natürlich, die Majorin ward sehr sympathisch berührt und kam, als die junge Frau neben ihr Platz genommen hatte, sogleich mit ihr in die Art vertraulichen Gespräches, welches sich zwischen Müttern jedes Alters leicht ergiebt. Während beide Damen sich so eingehend unterhielten, sagte Rank, der vor Lisbeth stehen geblieben war, im behaglichen Ton eines alten Freundes:

„Sind Sie neulich gut nach Hause gekommen? Sie verschwanden spurlos wie ein Hexchen; die Kunst sich unsichtbar zu machen, scheint Ihnen überhaupt nicht fremd zu sein! Aber Sie sehen, was dabei schließlich zu Stande kommt –“ seine Finger glitten in die Brusttasche und ließen ein kleines Wollknäuel sehen. Als sie rasch die Hand ausstreckte, um es an sich zu nehmen, schüttelte er lachend den Kopf und sagte nachdrücklich:

Diesen Faden gebe ich nicht mehr heraus!“




Vierzehn Tage später saßen Lisbeth und Rank beisammen am kleinen Zeichentisch im Giebelfenster. Sie hatten eines der nicht nachzuschreibenden Gespräche geführt, die von Tisch und Stühlen künftiger Hauseinrichtung auf alles Höchste und Tiefste überspringen und, gleich dem lieben Gott, sogar aus Nichts eine Welt erschaffen. Nun saßen sie schweigend und schauten einander an.

„Morgen, wenn Du fort bist, werde ich Mühe haben zu glauben, daß Alles wahr ist –“ sagte Lisbeth endlich wie aus dem Traume heraus; „kann man sich über Nacht an das Glück gewöhnen? So lange, lange dacht’ ich, Du hättest den Nymphenburger Tag völlig vergessen!“

Diesen Tag? O Kind, das Erinnern fing viel früher an! Dein rothes Fädchen hielt mich vom ersten Moment an festgebunden und flatterte hinter mir her, wo ich ging und stand. Weit entfernt davon, meine Augen zuzuhalten, wenn Reizendes mir begegnete, that ich sie im Gegentheil weit und fleißig auf; aber weil Du Dich zweifellos auf schwarze Kunst verstehst, hatte dies Gesicht hier wie ein Bild im Rahmen in meiner innersten Behausung seinen unverrückbaren Platz. Als Du mich nun gar aus dem Wasser anlachtest, war ich ein verlorener Mann, und wer weiß, was schon damals geschehen wäre ohne – – soll ich Dir beichten? Ja? – Du selbst hattest mich mit wirksamem Gegengift versehen, als Du mir sagtest, Du seiest Künstlerin. Allen Respekt vor Kolleginnen – aber zwei Bildner sind für eine Wirthschaft zu reichlich. Darum wagte ich mich damals nicht in Dein Haus, obgleich mir die Thür aufgethan war und wenig daran lag, an welchem Tage ich weiter reiste. Ich wollte nichts weiter von Dir hören und sehen, Deine goldbraunen Augen hatten mir schon genug zu Leide gethan. Wer konnte aber noch an Widerstand denken, als wir hier nochmals zusammengeweht wurden? Seinem Schicksal entgeht Keiner! Künstlerin oder nicht war Nebensache, ich begann Dich auf allen Gassen zu suchen – diesmal war es aber das Hexchen, das sich nicht finden ließ. Lisbeth ist ein holder Name, aber er steht in keinem Wohnungsanzeiger, und so hing unser Glück wirklich an einem Fädchen! Aber Du bist so stumm, geliebter Schatz? Hab’ ich Dir mit meiner Beichte etwas zu Leide gethan? Schau mich an! Wer weiß, was diese Händchen noch im Sinne haben!“

„Nichts – nichts, als Dich zu hegen, Liebster!“ sagte sie ganz leise und schloß beide Hände um seinen Hals in einander. „Es war nur ein tödliches Entbehren, hinzuleben ohne Kunst! Du schenkst sie mir aber tausendmal herrlicher, als diese schwachen Hände sie jemals fassen und halten könnten, und ich bin glücklich, glückselig!“



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Uhr Uhr